Freitag, 19. April 2024

29. März 2023
Die internationale Presseschau

Bestimmendes Thema ist der Streit in Israel über Änderungen im Justizsystem des Landes. Außerdem geht es um die IOC-Empfehlung zum Umgang mit russischen und belarussischen Sportlern.

29.03.2023
Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, spricht. Im Hintergrund ist die israelische Flagge zu sehen.
Israels Ministerpräsident Netanjahu (Abir Sultan/Pool EPA/AP/dpa)
Der Londoner GUARDIAN kommentiert die politische Krise in Israel: "Es gibt keinen Grund für Erleichterung. Der Angriff von Ministerpräsident Netanjahu auf die demokratischen Institutionen Israels ist nicht vorbei, sondern nur auf Eis gelegt. Nach fast drei Monaten politischer Krise, Empörung in der Bevölkerung und zunehmenden Protesten war der Premierminister gezwungen, seine Attacke auf die Justiz auszusetzen. Mit seinem Vorgehen gegen die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs, das von den meisten Israelis abgelehnt wurde, hat er der Wirtschaft und dem Staat bereits schweren Schaden zugefügt. Netanjahu sagt zwar, er wolle die Nation nicht in zwei Hälften reißen. In erster Linie geht es ihm aber nicht darum, das Land zu retten, sondern sich selbst", glaubt der britische GUARDIAN.
Ähnlicher Ansicht ist die Zeitung O GLOBO aus Rio de Janeiro: "Netanjahu verfolgt mit seinem Projekt nicht etwa das Ziel, institutionelle Probleme zu beseitigen. Sein Motiv ist viel weniger nobel, denn gegen ihn laufen Korruptionsverfahren, und deshalb wollte er den Obersten Gerichtshof ausschalten – ein Ziel, das auch seine ultrareligiösen und nationalistischen Koalitionspartner verfolgen. Am Ende war es ein massiver Streik, der Netanjahu zum Einlenken zwang. Kein Premier hat Israel länger regiert als er, und er hat sich immer als ausgleichendes Moment zwischen unterschiedlichen Interessen und Ideologien präsentiert. Aber seine dritte Amtszeit erkaufte er sich durch ein Bündnis mit radikalen Partnern. Für eine Rettung der israelischen Demokratie spricht er jetzt mit der Opposition. Die Alternative wäre eine Entwicklung wie in Ungarn, Polen oder Venezuela", befürchtet O GLOBO aus Brasilien.
In der Zeitung EL PAIS aus Madrid heißt es: "Man darf sich nichts vormachen. Der israelische Ministerpräsident hat keinen Rückzieher gemacht. Er hat lediglich bis Ende April Zeit gewonnen, um die Reihen seiner Koalitionsregierung neu zu formieren und zu versuchen, den Widerstand auf der Straße zu verringern. Die Lösung seiner persönlichen juristischen Probleme im Zusammenhang mit Korruption und Machtmissbrauch spielt in dem ganzen Plan eine nicht geringe Rolle. Es wäre naiv zu glauben, Netanjahu habe plötzlich begriffen, dass er auch für die andere Hälfte Israels regiert, die auf der Straße gezeigt hat, dass demokratische Grundsätze nicht verhandelbar sind. Sein Projekt ist heute die größte Gefahr für die Demokratie in Israel", hebt EL PAIS aus Spanien hervor.
AFTENPOSTEN aus Oslo sieht Israel im Chaos: "Der Hauptgrund ist Netanjahus Bündnis mit extremistischen Partnern, die ihn vor sich hertreiben. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit gegen die Justizreform ist, und auf den Straßen demonstriert eine bunte Regenbogenkoalition aus Start-up-Gründern, Homosexuellen, Reservisten und Gewerkschaften. Vor allem aber sind es Bürger, die Angst um die Demokratie und die Zukunft Israels haben. Inzwischen ist die Lage explosiv. Rechtsextremisten haben bereits zur Gewalt gegen Demonstranten aufgerufen, und Sicherheitsminister Ben-Gvir hat die Erlaubnis erhalten, seine eigene zivile Nationalgarde zu errichten. Noch fällt es schwer zu glauben, dass Israelis gegeneinander zu den Waffen greifen. Aber es ruht eine enorme Verantwortung auf Netanjahu, die Pause in dem Gesetzgebungsprozess für einen Ausweg aus der Krise zu nutzen", betont AFTENPOSTEN aus Norwegen.
Die Zeitung EL ESPECTADOR aus Bogotá spricht von einem gewagten politischem Kalkül Netanjahus, das schief gegangen sei: "Es ist bemerkenswert, dass ein so erfahrener Politiker wie Netanjahu keinen einfachen Ausweg aus dem Labyrinth findet, in das er sich selbst begeben hat. Zwar ruht das Verfahren nun über die Feiertage, doch dann soll das Thema wieder aufgegriffen werden. Zieht Netanjahu die Reform zurück, werden seine radikalen Partner die Koalition verlassen und Neuwahlen erzwingen. Hält er dagegen an dem Projekt fest, wird es erneute Proteste geben. Aber der große Verlierer wäre in beiden Fällen niemand anderes als Netanjahu", meint EL ESPECTADOR aus Kolumbien.
JYLLANDS-POSTEN aus Kopenhagen schreibt: "Es tobt ein gnadenloser Wertekampf zwischen zwei gleich großen Gruppen. Sie stehen sich erbittert gegenüber, sowohl aktuell bei der Justizreform als auch beim grundlegenden Blick auf Netanjahu. Israels harter Kampf mit sich selbst endet nicht mit dem Kampf um die Justizreform. Er hat gerade erst begonnen", glaubt JYLLANDS-POSTEN aus Dänemark.
Die WASHINGTON POST notiert: "Was das Vorhaben Netanjahus so brisant macht, ist, dass er die Macht eines Gerichts einschränken will, das viele der säkularen Juden und arabischen Bürger Israels als Bollwerk gegen die demografisch und politisch aufsteigenden ultrareligiösen und nationalistischen Gruppen ihrer Gesellschaft sehen. Angesichts der Überzeugung der religiösen Rechten, dass das von säkularen Juden dominierte Gericht aufgrund der eigenen politischen Präferenzen wiederholt gegen sie entschieden hat, ist nicht klar, wie ein Konsens gebildet werden kann – gerade wegen des Einflusses, den die religiöse Rechte in Netanjahus Koalition hat. Was Israel wirklich braucht, ist eine geschriebene Verfassung", ist die WASHINGTON POST aus den USA überzeugt.
Die Zeitung KARAR aus Istanbul richtet den Blick auf die palästinensische Bevölkerung: "Für manche Experten kann die Krise nur durch die Einbeziehung der knapp sieben Millionen in den von Israel kontrollierten Gebieten lebenden Palästinenser überwunden werden. Zwar spielten bei den Protesten die Rechte der Palästinenser keine Rolle. Doch das könnte sich ändern. Ein Bündnis mit den Arabern könnte die Rettung für das Land und die Demokratie sein. Doch die Hürden dafür sind sehr hoch. Die Israelis werden auf die Idee eines Judenstaates nicht verzichten. Und ob die Israelis einen Einheitsstaat akzeptieren werden, steht ebenfalls nicht fest. Auch eine Garantie, dass die Palästinenser nicht mehr diskriminiert werden, gibt es nicht", hält die türkische Zeitung KARAR fest.
Die Lage in Israel sei kompliziert, merkt PRAVO aus Prag an, weil - Zitat: "... Millionen Palästinenser de facto unter israelischer militärischer Kontrolle in einem rechtlosen Zustand leben. Das nährt selbstverständlich Zweifel am Niveau der israelischen Demokratie. Die jüngste Äußerung von Finanzminister Smotrich, dass es kein palästinensisches Volk gebe, goss da noch Öl ins Feuer. Alle Gegensätze und Kontroversen in der dortigen Gesellschaft kommen nun an die Oberfläche. Israel befindet sich möglicherweise an einem kritischen Punkt seiner Existenz. Als enger Verbündeter des Landes verfolgen wir mit Spannung, wie es mit der einzigen Demokratie in Nahost weiter geht. Ein eventueller Kollaps des Staates hätte weitreichende Folgen." Soweit die tschechische Zeitung PRAVO und so viel zu diesem Thema.
Der Schweizer TAGES-ANZEIGER kommentiert die Empfehlung des Internationalen Olympischen Komitees, Sportler aus Russland und Belarus wieder zu internationalen Wettbewerben zuzulassen: "Der Entscheid hat starke Signalwirkung. Wenn in anderen Sportarten Russinnen und Weißrussinnen wieder starten können, getraut sich der Leichtathletik-Weltverband dann weiterhin, am Ausschluss festzuhalten, wie er das bis zuletzt gesagt hatte? Hoffentlich tut er das. Es gibt keinen vernünftigen Grund, kriegstreibende Länder im internationalen Sport mitmachen zu lassen", erläutert der TAGES-ANZEIGER aus Zürich.
Die Zeitung RZECZPOSPOLITA aus Warschau fragt: "Was, wenn eine gedemütigte Ukraine die Olympischen Spiele nun boykottiert? Viel Zeit, das IOC zu beeinflussen, bleibt nicht, denn die Olympia-Qualifikation läuft. Spiele ohne Russland und Belarus – das wäre die einzige Lösung, die die Olympischen Spiele vor einem Ansehensverlust bewahren könnte." Das war ein Auszug aus der polnischen Zeitung RZECZPOSPOLITA zum Ende der internationalen Presseschau.