
Zum ersten Thema. Ein Sieg des Herausforderers von Präsident Erdogan, Kilicdaroglu, wäre gut für Europa, meint die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: "Kilicdaroglu will sein Land zurück zur Rechtsstaatlichkeit und zur Meinungsfreiheit führen. Sein Land soll wieder eine konstruktive Rolle innerhalb der NATO spielen und den schwedischen Beitritt nicht länger blockieren. Kilicdaroglu hat auch erklärt, die guten Beziehungen zu Russland beibehalten zu wollen. Er möchte sein Land aber wieder explizit mit dem Westen versöhnen – mit Europa. Die Europäer sollten eine solche Aussicht als Geschenk begreifen. Eine demokratische Türkei bedeutet mehr Berechenbarkeit, mehr Partnerschaft und mehr Sicherheit für Europa, und darauf lässt sich aufbauen", argumentiert die NZZ aus der Schweiz.
Die türkische Zeitung AKSAM aus Istanbul rügt: "Kilicdaroglu agiert genauso, wie der Westen es von ihm erwartet. Seine Beschuldigungen gegen Russland sind ein eindeutiger Beleg dafür. Die verbotene Gülen-Bewegung agiert im Hintergrund - Kilicdaroglu aber wirft Russland Einmischung vor. Das ist nicht nur absurd, sondern ein Beweis dafür, dass er ein Werkzeug des Westens ist. Er bietet sich ihnen als ein neuer Selenskyj an. Und die westliche Presse feiert ihn als Helden. Die Menschen in der Türkei aber haben ihn durchschaut. Am 14. Mai wird Erdogans Allianz das Vertrauen der Mehrheit der Wähler bekommen", ist sich die Zeitung AKSAM aus Istanbul sicher.
Ein Erfolg Kilicdaroglus wäre ein schwerer Schlag für Autokraten wie Erdogan, kommentiert die griechische Zeitung KATHIMERINI in ihrer E-Paper-Ausgabe: "Russland wäre das erste Land, das die Folgen eines solchen Wandels zu spüren bekäme. In diesen entscheidenden Stunden des russisch-ukrainischen Konflikts würde Putin seinen neben dem weißrussischen Machthaber Lukaschenko wichtigsten Verbündeten verlieren. Und es ist nicht nur Putin. Katar unterstützt türkische Banken, und saudische Gelder werden an Erdogan weitergeleitet, um einen vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruch der Türkei zu verhindern. Das globale Lager des Autoritarismus ist in höchster Alarmbereitschaft", analysiert KATHIMERINI aus Athen.
"Eine demokratische Türkei kann wieder mit der EU verhandeln", meint auch DE VOLKSKRANT aus den Niederlanden, schränkt aber ein: "Ein EU-Beitritt ist dennoch bei Weitem nicht in Sicht. Die Türkei liegt noch immer im Konflikt mit Zypern. Außerdem gibt es Spannungen mit Zypern und Griechenland über Gasbohrungen im Mittelmeer. Darüber hinaus sind viele EU-Mitgliedsländer wohl wenig erpicht darauf, ein relativ armes Land mit 85 Millionen Einwohnern in ihr Bündnis aufzunehmen - ein islamisches Land wohlgemerkt, auch, wenn das selten hörbar gesagt wird."
Es sei dringend Zeit für einen Machtwechsel, findet die zypriotische Zeitung CYPRUS MAIL aus Nikosia: "Politisch hat Erdogan ein autoritäres Regime errichtet, das alle Macht im Präsidentenamt konzentriert, die Justiz und die Medien kontrolliert, Kritiker mundtot macht, ins Gefängnis steckt, Nachrichtenmedien schließt und gleichzeitig für religiöse und konservative Werte eintritt."
Der Kommentator der Zeitung THE GLOBE AND MAIL aus Toronto erinnert sich an ein Treffen mit Kilicdaroglu vor 13 Jahren - an dessen erstem Tag als Anführer der Opposition gegen Präsident Erdogan. Die großen Linien seiner Politik hätten sich seitdem nicht geändert, schreibt der Journalist, und zitiert eine Aussage Kilicdaroglus von damals: "'Wir glauben und wissen, dass die Türkei in der internationalen Politik mit zweierlei Maß gemessen wird'. Konkret hat Kilicdaroglu in diesem Jahr zugesagt, mit Syriens massenmordendem Diktator Bashar al-Assad Frieden zu schließen und Hunderttausende syrische Flüchtlinge zwangsweise abzuschieben. Er würde weiterhin Russland und den Westen gegeneinander ausspielen. Und er scheint es nicht ernst zu meinen mit einer Lösung jahrzehntealter Konflikte um Zypern, Armenien oder die Mittelmeergrenzen", glaubt der Autor des Kommentars in der kanadischen Zeitung THE GLOBE AND MAIL.
Auch im Nachbarland Aserbaidschan wird die bevorstehende Abstimmung genau verfolgt, etwa von der Zeitung MÜSAVAT: "Viele Aserbaidschaner wollen für das Bruderland Türkei ein besseres Staatssystem, bessere Lebensbedingungen für die Menschen. Nach dem großen Erdbeben waren sie sofort zur Stelle - um den Menschen zu helfen, nicht, um Erdogan oder Kilicdaroglu einen Gefallen zu tun. Die Türkei ist uns so nah wie kein anderes Land, und das wird auch so bleiben, egal, wer gerade an der Macht ist. Wenn Erdogan nicht gewählt wird, wird die Welt nicht untergehen, wenn Kilicdaroglu die Wahl für sich entscheidet, wird die Türkei nicht auseinanderfallen", beteuert die Zeitung MÜSAVAT aus Baku.
Nicht nur in der Türkei, auch in Thailand wird morgen gewählt. Dazu schreibt die chinesische Zeitung HUANQIU SHIBAO: "Mindestens sechs Parteien mit bis zu acht Kandidaten für das Amt des Premierministers sind im Rennen - und auch einen Tag vor der Abstimmung ist kein deutlicher Trend zu erkennen. Den Wahlkampf hat vor allem das Thema Wirtschaft bestimmt. Die Bevölkerung sehnt sich nach einer starken Führung. Auch die eher wenig bekannten Parteien und Kandidaten dürften eine Chance haben. Denn vor allem die jüngeren Wähler wünschen sich frischen Wind", unterstreicht HUANQIU SHIBAO maus Peking.
Im Nahen Osten dauert die Gewalt weiter an. Die spanische Zeitung EL PAIS bewertet die Reaktion Israels auf wiederholte Raketenangriffe aus dem Gazastreifen: "Die Vorgänge haben gezeigt, wie sehr Premier Netanjahu von seinen ultrarechten Koalitionspartnern abhängt und wie sehr diese das Land auf einen gefährlichen Kurs bringen. Die Partei von Sicherheitsminister Ben Gvir verweigerte Netanjahu vorübergehend die dringend benötigte Unterstützung, und erst nach dem Tod der drei Dschihad-Anführer wollten die Abgeordneten wieder mit abstimmen. Der internationalen Gemeinschaft bietet sich ein bereits bekanntes Schauspiel. Im besten Fall kommt es zu einer Deeskalation, einem Waffenstillstand und einer Rückkehr zum Status quo", befürchtet EL PAIS aus Madrid.
Die israelische Regierung habe sehr spät reagiert, kritisiert die JERUSALEM POST: "Mehr als hundert Raketen werden auf israelische Städte abgefeuert, und das war keine ausreichende Rechtfertigung für eine Reaktion. Der einzige Grund, der zählt, ist für sie ein politischer. Das zeigt, wie sich der Diskurs in diesem Land in den letzten Jahren verändert hat, verursacht durch eine Mischung aus Misstrauen in die Regierung, Frustration über das Gefühl, dass das Land aufgrund des Streits um die Justizreform feststeckt, und die allgemeine Schlammschlacht, die nach fünf Wahlen in den letzten vier Jahren immer noch andauert", schreibt die JERUSALEM POST aus Israel.
Heute Abend findet der Eurovision Song Contest in Liverpool statt - ein Wettbewerb, der aus Sicht der Veranstalter keineswegs politisch sein sollte. Ganz vermeiden lässt sich das allerdings aus Sicht der norwegischen zeitung AFTENPOSTEN nicht: "Der ukrainische Präsident Selenskyj bekam eine Absage, als er darum bat, eine Grußbotschaft per Video zu senden. Die Entscheidung stammt von der Europäischen Rundfunkunion EBU, die im vergangenen Jahr Russland wegen des Ukraine-Kriegs ausschloss. Ein bisschen Politik ist also doch dabei. Und auch sonst ist der Verzicht auf Politik überaus theoretisch. Das zeigt etwa das Abstimmungsverhalten der einzelnen Länder. Beim deutlichen Sieg der Ukraine im vergangenen Jahr ging es weniger um Musik, sondern um Unterstützung für das Land. Dann hätte man diesmal allerdings auch Selenskyj sprechen lassen können", findet AFTENPOSTEN aus Oslo.