16. Juni 2023
Die internationale Presseschau

Kommentiert werden der EU-Asylkompromiss und das Bootsunglück vor der griechischen Küste, die Anhebung der Leitzinsen im Euro-Raum und die per Videobotschaft übermittelte Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Schweizer Parlament.

Griechenland, Kalamata: Rettungskräfte tragen Leichen von einem Schiff der Küstenwache in einen Kühlwagen im Hafen von Kalamata, etwa 240 Kilometer südwestlich von Athen.
Bei einem schweren Bootsunglück südwestlich von Griechenland könnten hunderte Flüchtlinge ums Leben gekommen sein. (Thanassis Stavrakis / AP / Thanassis Stavrakis)
Zunächst zum Unglück vor der griechischen Küste, wo vermutlich mehrere hundert Flüchtlinge ertrunken sind. Die österreichische Zeitung DER STANDARD fragt sich: "Mit welchen Maßnahmen, die von den rechtspopulistischen Parteien in Europa zur Bewältigung der 'Asylkrise' propagiert werden, hätte man das Unglück vor der griechischen Küste abwenden können? Mit gar keiner. All das Gerede von 'harten Maßnahmen' und 'Schleppern das Handwerk legen' ist sinnlos. Das ist die Realität. Irgendwelche Asylzentren an den EU-Außengrenzen im Mittelmeer sind angesichts dieser Verhältnisse sinnlos. Das Einzige, was bisher halbwegs funktioniert hat, war der Deal Merkel – Erdogan, wonach die EU der Türkei viel bezahlt, damit sie die Boote nicht von den Küsten lässt. Etwas Ähnliches versucht die EU jetzt mit dem tunesischen Autokraten. Mit einem Warlord-Staat wie Libyen ist so etwas überhaupt nicht zu machen. Man verschone uns daher mit populistischer Rhetorik", unterstreicht der Wiener STANDARD.
Die griechische Zeitung KATHIMERINI formuliert einen Appell für mehr Menschlichkeit im Umgang mit den Flüchtlingen: "Seit Jahren versucht die Europäische Union, den Zustrom von Migranten zu bremsen, indem sie Programme in den Herkunftsländern und in den Durchgangsstaaten wie etwa Libyen, auflegt. Aber allein in Nordafrika und im Nahen Osten starben im vergangenen Jahr rund 3.800 Menschen auf dem Land- und Seeweg. Das Problem betrifft Griechenland unmittelbar. Aber nicht nur Griechenland. Und es ist kompliziert. Wir brauchen eine nationale Strategie und die Zusammenarbeit mit Partnern und anderen Ländern. Wir müssen effektiv und menschlich sein", ist in KATHIMERINI zu lesen, die in Athen herausgegeben wird.
Die französische Zeitung LES DERNIERES NOUVELLES D'ALSACE geht hart mit der EU ins Gericht und wirft ihr kriminelle Untätigkeit vor: "Als vor zehn Jahren vor Lampedusa 366 Menschen starben, startete die Europäische Union die Rettungsaktion 'Mare Nostrum', die in weniger als einem Jahr mehr als 150.000 Menschen rettete. Das war, bevor sie aufgab und ihre Menschlichkeit und Würde verleugnete. In defensiver Haltung kriminalisiert die EU NGOs und die Seenotrettung, die doch in allen grundlegenden Texten verankert ist, und finanziert stattdessen libysche Milizen, die mit Schleppern handeln. Seit 2015 ist das Mittelmeer zum Grab von Zehntausenden geworden, denen wir jegliche Menschlichkeit absprechen, die weder einen Namen noch ein Gesicht haben", beklagen die DERNIERES NOUVELLES D'ALSACE aus Straßburg.
Die spanische Zeitung EL PAIS aus Madrid mahnt ein entschlossenes Handeln der europäischen Behörden an: "Sie müssen so schnell wie möglich eine Grundlage für migrationspolitische Vereinbarungen finden, damit Maßnahmen ergriffen und das Risiko einer Wiederholung derart inakzeptabler Vorfälle minimiert werden. Europa darf nicht weiter so tun, als ob der Verlust Hunderter Menschenleben unvermeidlich wäre."
Die dänische Zeitung POLITIKEN aus Kopenhagen erläutert: "Vor weniger als einer Woche haben sich die EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Polen und Ungarn auf ein umfassendes Migrationsabkommen geeinigt. Wenn es tatsächlich eingeführt wird, bedeutet das eine massive Veränderung für das Asylverfahren in der Union. Die Einigung erfolgte in einer Zeit mit steigenden Migrantenzahlen, und vor allem die Mittelmeerländer stehen deshalb unter Druck. Aber auch in Österreich oder in den Niederlanden ist die Zahl der Asylbewerber im letzten Jahr deutlich gestiegen."
"Schaffen wir einen neuen Eisernen Vorhang", titelt die polnische RZECZPOSPOLITA und schreibt zum Asylkompromiss der EU: "Im Namen des polnischen Volkes forderte der PiS-Vorsitzende Kaczynski nun ein Referendum über den europäischen Migrationspakt. Ein hervorragendes Wahlkampfthema. Es stellt sich heraus, dass Kaczynski ein guter Buchhalter ist: Er begründet Polens Widerstand gegen den Migrationsmechanismus damit, dass Polen anderthalb Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen habe. Jetzt muss er nur noch vorrechnen, wie viel der polnische Steuerzahler für die ukrainischen Flüchtlinge aufbringt, und kann damit die Fremdenfeindlichkeit gegenüber dem Rest der Migranten schüren", notiert die Warschauer RZECZPOSPOLITA.
Die Europäische Zentralbank hat den Leitzins um weitere 25 Basispunkte auf vier Prozent angehoben. So hoch sei der Leitzins seit 2008 nicht mehr gewesen, konstatiert die spanische Zeitung EL MUNDO: "Der neue Zinsschritt bedeutet schwierige Zeiten für die Bürger, aber EZB-Chefin Lagarde erklärte, Europa habe sein Inflationsziel von zwei Prozent noch nicht erreicht. Vielmehr liegt der Durchschnitt in der Eurozone derzeit bei 6,1 Prozent. Lagarde ließ außerdem durchblicken, dass im Juli eine weitere Anhebung kommen könnte. Die Leitzinserhöhung kommt zu einem heiklen Zeitpunkt, denn Deutschland als Europas wichtigste Volkswirtschaft befindet sich in einer technischen Rezession", erklärt EL MUNDO aus Madrid.
Die japanische Zeitung NIHON KEIZAI SHIMBUN ist besorgt: "Die Euro-Zone befindet sich in einer technischen Rezession. Für die Wirtschaft bedeutet diese Zinserhöhung eine enorme Belastung. In Deutschland ist das Geschäft mit Immobiliendarlehen längst eingebrochen: Anfang Juni wurde im Vergleich zum Vorjahr ein Minus von 41,9 Prozent gemessen, eine Katastrophe für die Immobilienmärkte. Trotz allem kann die EZB die Zinspolitik nicht lockern, denn der Druck durch die Inflation ist immer noch hoch. Das Problem ist, dass diese Anhebung der Leitzinsen nicht die Stärke sondern die Schwäche Europas widerspiegelt", heißt es in der Tokioter Zeitung NIHON KEIZAI SHIMBUN.
In den USA hingegen bleiben die Leitzinsen vorerst unverändert. Die in Taiwan erscheinende Zeitung JINGJI RIBAO bezeichnet die Entscheidung der US-Notenbank als falsch: "Nach zehn Anhebungen des Leitzinses in Folge verschafft sich die Fed eine Verschnaufpause und belässt die Zinsspanne zwischen fünf und 5,25 Prozent. Auch wenn die Entscheidung von den meisten Analysten begrüßt wurde, ist sie nicht nachhaltig. Augenscheinlich sank die Inflationsrate im Mai auf vier Prozent und damit den niedrigsten Wert seit mehr als zwei Jahren. Angesichts der geopolitischen Lage, der knapper werdenden Arbeitskräfte und der hohen Energiekosten ist eine Pause im Kampf gegen die hohe Inflationsrate nicht erlaubt. Es wäre fatal, wenn die Fed das selbst gefasste Ziel, die Inflationsrate auf zwei Prozent zu senken, aus den Augen verlieren würde", mahnt JINGJI RIBAO aus Taipeh.
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG kommentiert die Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Selenskyj für das Schweizer Parlament: "Dass Selenskyj jede Möglichkeit nutzt, um für Unterstützung im ukrainischen Widerstandskampf zu werben, ist absolut verständlich und in keiner Weise zu kritisieren. Seine gestrige Rede war denn auch eindringlich. Eine andere Frage ist, ob es aus Sicht der Schweiz klug war, ihn im Parlament sprechen zu lassen. Irgendwann wird der unselige Krieg zu Ende sein, und es wäre zu wünschen, dass die Politiker die Neutralität, die in der Schweizer Bevölkerung tief verankert ist, dann nicht vollends verspielt haben werden", meint die Schweizer NZZ.
Der ebenfalls in Zürich erscheinende TAGES-ANZEIGER beklagt die Heuchelei der Schweizer Ukraine-Politik: "In einem Großteil des Parlaments gibt es keine Zweifel, wer von den beiden Kriegsparteien das Völkerrecht bricht. Martin Candinas - der Präsident des Nationalrats, der großen Kammer des Parlaments - sprach davon, 'Aggressor und Opfer klar zu benennen'. Ebenso, wessen Weltanschauung man teilt. Aber für diese Werte die 'Neutralität' zeitgemäß interpretieren, die Spielräume ausloten? Dafür fehlt der Mut", kritisiert der Schweizer TAGES-ANZEIGER.