15. Dezember 2023
Die internationale Presseschau

Diesmal dreht sich alles indirekt um die Ukraine - von der Pressekonferenz des russischen Präsidenten zum Jahresabschluss bis hin zum laufenden EU-Gipfel in Brüssel. Dazu lesen wir in der russischen Zeitung KOMMERSANT:

Ungarns Premier Viktor Orban beim EU-Gipfel in Brüssel am 26. Oktober 2023
Ungarns Regierungschef Viktor Orban und seine Haltung zur Ukraine sind Thema beim EU-Gipfel in Brüssel und in den Kommentaren ausländischer Zeitungen. (picture alliance / NurPhoto / Nicolas Economou)
"Am ersten Tag des Gipfels haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder ohne Übertreibung eine Reihe historischer Entscheidungen getroffen: Georgien wurde der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Und Moldau und die Ukraine sind eine Stufe aufgestiegen - mit ihnen beginnen inhaltliche Verhandlungen über den Beitritt zur Union. Der ungarische Ministerpräsident Orban wehrte sich zwar bis zuletzt. Am Ende aber hatte die europäische Einheit Bestand", fasst KOMMERSANT aus Moskau zusammen.
Ein Gastkomentar in der NIHON KEIZAI SHIMBUN aus Tokio schreibt der Entscheidung eine hohe symbolische Bedeutung zu: "Die Europäische Union bekennt sich damit klar dazu, die Ukraine als Teil des Westens anzuerkennen. Das ist ein wichtiges Signal an die ukrainische Bevölkerung, dass Brüssel felsenfest an der Seite Kiews steht - und das in einer Zeit, in der sich der russische Invasionskrieg hinzieht. Gerade jetzt, wo die Hilfe der USA wegen der Blockade durch die Republikaner wackelt, ist es notwendig zu zeigen, dass Europa die Ukraine unterstützt", unterstreicht die japanische Zeitung NIHON KEIZAI SHIMBUN.
"Der Westen darf die Ukraine niemals aufgeben", betont THE GLOBE AND MAIL aus Kanada und begründet das so: "Ein Sieg Putins zu seinen Bedingungen wird dem russischen Dikator - und anderen wie ihm - als Beweis dienen, dass der Westen feige ist und nicht für seine Werte einsteht; zumindest nicht, sobald es langfristig zu kostspielig oder politisch zu schwierig wird. Dass die EU für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine gestimmt hat, ist deshalb begrüßenswert. Und Deutschland wiederholte seine Zusage, die Militärhilfe für die Ukraine im kommenden Jahr zu verdoppeln. Das ist die Art von Botschaft, die jedes westliche Land senden muss", fordert THE GLOBE AND MAIL aus Toronto.
Die spanische LA VANGUARDIA wertet den Beschluss als erste gute Nachricht für den ukrainischen Präsidenten Selenskyj seit Wochen. Das Blatt führt aber auch Bedenken an: "Ein EU-Beitritt der Ukraine wird Länder wie Polen, die derzeit europäische Gelder bekommen, über Nacht zu Nettozahlern machen. Sie müssen die schlechte Wirtschaftslage in der Ukraine kompensieren. Auch die Entscheidungsfindung wird mit 30 Mitgliedern noch komplizierter. Das künftige Europa wird wenig mit dem Europa gemein haben, das 1958 entstanden ist", ist LA VANGUARDIA aus Barcelona überzeugt.
LA STAMPA aus Rom geht näher auf die komplexen Verhandlungen ein, die zu dem Gipfel-Beschluss führten. Die Zeitung spricht von einem Schachzug, der in der Geschichte des Europäischen Rats wohl einmalig sei: "Das gilt insbesondere für die Ukraine, ein Land im Krieg. Hier trat der ungarische Ministerpräsident Orban einen Schritt zurück, ohne im eigenen Land vollständig das Gesicht zu verlieren. Zwar veröffentlichte er gleich ein Video in den sozialen Netzwerken, in dem er von einer 'völlig unsinnigen, irrationalen und falschen Entscheidung' sprach. De facto aber verzichtete er auf sein Vetorecht", analysiert die italienische LA STAMPA.
LE MONDE aus Paris fragt nach den Gründen, warum sich Orban auf die Seite des russischen Präsidenten Putin stellt: "Beide Männer kontrollieren die Medien und die Politik und fühlen sich in ihrer Haltung gegenüber dem Westen vereint. Hinzu kommt eine historische Dimension: Sowohl Putin als auch Orban stützen sich auf ein verletzes Nationalgefühl, sie fühlen sich von der Geschichte ungerecht behandelt. Sie klagen in ähnlicher Weise darüber, wie ungarische oder russische Minderheiten in anderen Staaten behandelt werden. Ungarn ist zwar nicht in den ukrainischen Landesteil Transkarpatien einmarschiert. Aber die Entschuldigungen, welche die ungarische Regierung für den russischen Angriff findet, haben einen neo-imperialen Touch, der beunruhigend ist", urteilt die französische Zeitung LE MONDE.
Ungarn blockiert derzeit die Auszahlung weiterer EU-Hilfen für die Ukraine. Darauf geht die polnische Zeitung RZECZPOSPOLITA näher ein: "Es geht um einen Betrag von 50 Milliarden Euro, verteilt auf vier Jahre, also etwa 25 Euro pro EU-Bürger und Jahr. Das ist wirklich wenig, wenn man die Konsequenzen eines möglichen Sieges Putins bedenkt. Doch die EU-Bürger haben offenbar den Eindruck, dass sie die Ukraine-Frage nicht direkt betrifft. Daher wird der Traum einer EU-Migliedschaft für die Ukrainer wahrscheinlich nie eintreten - selbst dann, wenn sie ernsthafte Verhandlungen zu diesem Thema aufnehmen. Die Türkei führt solche Gespräche seit zwei Jahrzehnten und ist weiter von einem Beitritt zur Gemeinschaft entfernt als zu Beginn der Verhandlungen", erinnert die Warschauer RZECZPOSPOLITA.
CUMHURIYET aus Istanbul zufolge sind die Beziehungen der EU zur Türkei frostig: "Im letzten Fortschrittsbericht der EU werden Rückschritte bei Menschenrechten, Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit bemängelt; die Übereinstimmungen in der Außenpolitik seien inzwischen nur noch minimal. Ankara steht vor allem wegen seiner Pro-Hamas-Haltung und der Zurückhaltung bei Sanktionen gegen Russland in der Kritik. Dass die Türkei-Frage beim jetzigen EU-Gipfel nicht auf der Tagesordnung steht, ist ein Zeichen dafür, dass das Thema für die EU-Staaten nicht wichtig ist", zeigt sich die türkische Zeitung CUMHURIYET enttäuscht.
DAGENS NYHETER aus Stockholm greift die Jahrespressekonferenz des russischen Präsidenten auf: "Gewissermaßen war das Spektakel der Auftakt zu einem Pseudo-Wahlkampf für die Pseudo-Wahl im nächsten Jahr, bei der Putin bis 2030 zum Präsidenten gewählt werden wird. Putin ergötzte sich regelrecht an den Anzeichen der jüngsten Zeit, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine abzuklingen scheint. Aber der Pessimismus darf nicht siegen!", mahnt die schwedische Zeitung DAGENS NYHETER.
Die dänische Zeitung POLITIKEN macht darauf aufmerksam, dass der Krieg in der Pressekonferenz nicht das einzige Thema war: "Wichtiger war es Putin zu betonen, dass die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit niedrig ist oder die Reallöhne gestiegen sind. Was er dagegen nicht sagte: Das Wachstum wird vor allem von den massiven staatlichen Ausgaben für die Rüstungsindustrie angetrieben, und die niedrige Arbeitslosigkeit rührt daher, dass hunderttausende junge Männer an der Front sind. Und wer im Zwei- oder Dreischichtbetrieb in der Rüstungsindustrie arbeitet, fehlt auf dem zivilen Arbeitsmarkt", erläutert POLITIKEN aus Kopenhagen.
DER STANDARD aus Wien nennt ein weiteres Problem für Putin: "Er glaubt, dass die Menschen in Russland ohne Vorbehalte hinter seiner Politik stehen. Einer Politik, die sich als siegreich erweisen wird, so Putins Kalkül – auch wenn der Krieg noch jahrelang dauert. Doch wie im Westen und in der Ukraine werden die Menschen auch in Russland zunehmend kriegsmüde. 21 Prozent der Menschen hätten ihrem Präsidenten gerne die Frage gestellt: Wann ist der Krieg zu Ende? Wirklich beantwortet hat Putin diese Frage nicht", hält der österreichische STANDARD fest.
Die norwegische Zeitung AFTENPOSTEN rechnet fest mit einem Sieg Putins, schließlich habe er - Zitat: "die wichtigsten Vorkehrungen für seine Wiederwahl schon getroffen. Dazu gehört auch, dass der Oppositionelle Alexej Nawalnyj aus dem Lager verschwunden ist, in dem er seine langjährige Haftstrafe verbüßt. Seit Tagen gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Auch für die Bevölkerung gelten andere Regeln als bei uns: Am besten hält man seinen Mund. Haben die Russen allmählich die Nase voll? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Die Strategie für die meisten scheint nach wie vor Gleichgültigkeit zu sein. Dabei hätte es der Krieg verdient, zum großen Wahlkampfthema zu werden. Oder die Familien der Soldaten. Oder Nawalnyj - falls er denn noch lebt", überlegt AFTENPOSTEN aus Oslo.