Donnerstag, 16. Mai 2024

02. Januar 2024
Die internationale Presseschau

Heute mit Kommentaren zu den politischen Erwartungen im neuen Jahr. Doch zunächst nach Israel. Dort hat das Oberste Gericht ein Kernelement des von der Regierung geplanten Justizumbaus für rechtswidrig erklärt. Dazu schreibt die israelische Zeitung HAARETZ:

02.01.2024
Richter sitzen auf einer Empore in den Räumlichkeiten des Obersten Gerichts in Jerusalem.
Das Oberste Gericht in Jerusalem (Menahem Kahana / Pool AFP / AP / dpa / Menahem Kahana)
"Dies ist ein Urteil von historischer Tragweite. Eine klare Mehrheit der Richter entschied, dass sie befugt sind, grundlegende Gesetze einer juristischen Überprüfung zu unterziehen. Hätte das Gericht anders gehandelt, könnte das Parlament jedes beliebige Gesetz verabschieden, indem die Abgeordneten es einfach als 'Grundgesetz' bezeichnen. Eine gerichtliche Überprüfung wäre dann nicht mehr möglich. In Anbetracht der Tatsache, dass es in Israel nur wenige Kontrollmechanismen gibt, hätte jede Einschränkung der richterlichen Kontrolle der israelischen Demokratie schweren Schaden zugefügt. Die hasserfüllte Reaktion von Justizminister Yariv Levin, dem Likud und den anderen Koalitionsparteien muss jetzt aufhören. Die Regierung muss das Urteil respektieren", mahnt HAARETZ aus Tel-Aviv.
Die JERUSALEM POST warnt: "Wenn die Regierung nun die Absicht hat, ihre Pläne inmitten eines tobenden Krieges weiter voranzutreiben, weiß das Land möglicherweise nicht, wer das letzte Wort hat: die Regierung, die Knesset oder das Gericht. Das Klügste, was die Regierung jetzt tun kann, ist, die Angelegenheit einfach zu vergessen. Nach dem Krieg wird die Koalition, die diese Reform durchgesetzt hat, das Land wahrscheinlich nicht mehr lange regieren. Dann könnte eine neue Regierung - vielleicht als Ergebnis von Neuwahlen - das Angemessenheitsgesetz zurücknehmen und einen gemäßigteren Plan zur Reform des Justizsystems vorlegen, wodurch sich die ganze Angelegenheit erübrigen würde", hofft die JERUSALEM POST.
Die polnische RZECZPOSPOLITA ist skeptisch: "Der Streit um die Gesetzesreform ist nun in die israelische Politik zurückgekehrt. Es ist sogar von einer möglichen Verfassungskrise die Rede – mitten in einem Krieg, der über die zukünftige Sicherheit Israels entscheiden soll. Ein langer Krieg liegt sowohl im Interesse der Hamas als auch Netanjahus. Solange dieser Krieg weitergeht, wird der Premierminister nicht für die Fehler der ihm unterstellten Dienste zur Verantwortung gezogen, die die Vorbereitungen der Hamas für einen Großangriff übersehen oder ignoriert haben. Und Netanjahu wird nicht aus dem Amt scheiden, obwohl Teile der Opposition dies unabhängig vom Krieg schon seit Längerem fordern. Würden jetzt in Israel Parlamentswahlen stattfinden, würden Netanjahus Partei und seine Koalitionspartner laut Umfragen eine bittere Niederlage erleiden. Von Wahlen ist jedoch vorerst keine Rede – die letzten fanden im November 2022 statt“, erinnert die RZECZPOSPOLITA aus Warschau.
Die WASHINGTON POST blickt mit Sorge auf Russlands jüngste Luftangriffe auf ukrainische Städte und fordert Konsequenzen: "Die militärische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine ist zum Stillstand gekommen. In Brüssel ist die Blockade von Ungarns Moskau-freundlichem Ministerpräsidenten Orban das Problem. In Washington halten die Republikaner wegen des Streits über die US-Migrationspolitik weitere Gelder für die Ukraine zurück. Die beste Antwort des Kongresses und der US-Regierung auf Putins jüngste zerstörerische Salve wäre deshalb ein Kompromiss, der sowohl Hilfen für die Ukraine und Israel erlaubt als auch Gelder zur Sicherung der US-Grenze im Süden des Landes bereitstellt. Bleibt der Kongress untätig, wird der Druck auf die USA und Europa wachsen, die eingefrorenen 300 Milliarden Dollar russischer Vermögenswerte zu beschlagnahmen und der Ukraine zuzuleiten", erwartet die WASHINGTON POST.
Die spanische EL PAIS konstatiert: "Das Jahr endete schlecht für die ukrainische Kriegswirtschaft. Trotz vieler Solidaritätsbekundungen ist eine nachlassende Unterstützung der Verbündeten nicht zu leugnen. Jede Entscheidung über einen möglichen Waffenstillstand würde ausschließlich die rechtmäßige Regierung in Kiew treffen. Es wäre ratsam, realistisch zu bleiben und auch eine Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus einzukalkulieren. Die Europäische Union muss sich auf den Fall vorbereiten, den ein Austritt der USA aus dem Verteidigungsbündnis für den Zusammenhalt der NATO bedeuten würde. In solch einem Fall sollte die EU in der Lage sein, alle Forderungen der Solidarität mit der Ukraine erfüllen zu können", unterstreicht EL PAIS aus Madrid.
Auch die französische Zeitung LES ECHOS macht sich Gedanken über die US-Päsidentschaftswahl im November: "Wenn Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, wird das Schicksal der Ukraine, des Nahen Ostens und der globalen Sicherheit auf den Kopf gestellt. Russland wird dann alle Chancen haben, zu siegen, die Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten wird schwinden und das Fundament unserer Sicherheit muss neu gelegt werden - mit dem wahrscheinlichen Tod der NATO. Wir müssten dann unsere Verteidigungsausgaben buchstäblich verzehnfachen, mit zwei Zielen: die Ukraine zu unterstützen und unsere Rüstungsindustrie weiter zu entwickeln. Noch mehr als das müssten wir aber unsere strategische Haltung ändern. Wir würden dann die Verteidigung unserer wirtschaftlichen und industriellen Interessen selbst übernehmen", schlussfolgert LES ECHOS aus Paris.
Nun nach China. Die der kommunistischen Regierung nahestehende Zeitung HUANQIU SHIBAO führt aus: "Während in den Neujahrsansprachen der Staats- und Regierungschefs in der ganzen Welt viel von 'stürmischer See' die Rede war, gilt China nach wie vor als Fels in der Brandung. Faktoren der Unsicherheit wie die anhaltenden Konflikte zwischen Israel und Palästina sowie zwischen Russland und der Ukraine steht ein stabiles China gegenüber, bei dessen Politik die Themen Frieden und Entwicklung im Mittelpunkt stehen. Das größte Fragezeichen in diesem Jahr betrifft den Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA und die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Washington und Peking. Nur wenn diese beiden Länder gut miteinander auskommen, kann sich auch die Weltlage entspannen. Aber auch der globale Süden wird künftig ein immer gewichtigeres Wörtchen mitzureden haben", zeigt sich HUANQIU SHIBAO aus Peking überzeugt.
Die in Taiwan erscheinende Zeitung ZIYOU SHIBAO kommentiert: "Das Jahr 2024 wird nicht nur für Taiwan, sondern für die Demokratien in der ganzen Welt ein Schicksalsjahr sein. Aufgrund der Einmischung von Schurkenstaaten in den Wahlkampf und wegen steigender Lebenshaltungskosten sind extremistische Strömungen vielerorts im Aufwind. Nach den jüngsten Wahlergebnissen in den Niederlanden und Argentinien stellt sich die Frage, ob die Regierungsform der Demokratie überhaupt noch überlebensfähig ist. Sollten die Desinformationskampagnen von Diktatoren wie Xi und Putin bei den Wählern greifen, wird es nicht bloß einen Regierungswechsel geben, sondern kann dies das Ende von Wohlstand, Entscheidungsfreiheit und staatlicher Souveränität bedeuten", befürchtet ZIYOU SHIBAO aus Taipeh.
Zu den im Januar anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Taiwan schreibt der britische TELEGRAPH: "Experten warnen vor einer zunehmenden Einmischung Chinas in die Wahlen durch militärische Aggression, wirtschaftliche Nötigung und Desinformationskampagnen. Die scheidende Präsidentin Tsai Ing-Wen hat die Souveränität Taiwans standhaft verteidigt und wird deshalb von Peking vehement abgelehnt. Ihr Stellvertreter William Lai, der das Amt des Präsidenten übernehmen soll, wird von der Kommunistischen Partei Chinas als noch schlimmer angesehen, weil er die formale Unabhängigkeit Taiwans befürwortet. Sollte Herr Lai jedoch die Präsidentschaft gewinnen, wird Peking wahrscheinlich eine Antwort geben, die über bloße Rhetorik hinausgeht. Der Westen, dessen Augen jetzt auf die Ukraine und den Nahen Osten gerichtet sind, muss darauf vorbereitet sein, dass sich im Pazifik eine weitere internationale Krise entwickelt", betont THE TELEGRAPH aus London.