22. Mai 2024
Die internationale Presseschau

Kommentiert wird unter anderem der "Reichsbürger-Prozess" in Frankfurt, außerdem geht es um politisch motivierte Straftaten in Deutschland. Im Zentrum steht aber die Anklage gegen israelische Spitzenpolitiker vor dem Internationalen Strafgerichtshof.

22.05.2024
Der britische Anwalt und Chefankläger am INternationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Karim Khan
Der britische Anwalt Karim Khan ist seit 2021 Chefankläger in Den Haag (picture alliance / dpa / Christophe Gateau)
Die JERUSALEM POST notiert: "Der Antrag auf Ausstellung eines Haftbefehls wird für die Befürworter und Gegner Israels keinen großen Unterschied machen - außer dass er die Menschen in ihren bereits bestehenden Meinungen bestärkt. Diejenigen, die überzeugt sind, dass Israel die schwerste Schändung menschlichen Lebens seit dem Zweiten Weltkrieg begeht, werden den Schritt als Beweis dafür sehen, dass das Vorgehen gegen die Palästinenser endlich Konsequenzen haben wird. Diejenigen, die jede Kritik an Netanjahu ablehnen, werden den Schritt als Fortsetzung einer politischen Hexenjagd sehen. In der Mitte befindet sich jedoch ein äußerst wackeliges Terrain, auf dem Israel mit großer Vorsicht vorgehen muss. Der Erlass von Haftbefehlen könnte Israel auf der Weltbühne weiter isolieren", warnt die JERUSALEM POST aus Israel.
In der Zeitung HAARETZ aus Tel Aviv ist zu lesen: "Die Tatsache, dass die Hamas schreckliche Verbrechen begangen hat, ist kein Freibrief für Israel, zu reagieren, wie es will. Vor allem muss wohl auch festgestellt werden, dass eine Politik des massenhaften Tötens und Aushungerns unschuldiger Bürger, darunter Tausende von Kindern, zumindest im Prinzip untersucht werden muss. Und wenn nicht in Israel, dann eben in Den Haag."
"Das Vorgehen des Internationalen Strafgerichtshofs ist für Israel in höchstem Maße riskant", glaubt die palästinensische Zeitung AL-AYYAM aus Ramallah. "Denn selbst wenn Israel seinen Krieg gegen den Gazastreifen fortsetzt, wird seine politische und moralische Situation nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. Israels Ruf hat in der internationalen öffentlichen Meinung enorm gelitten. Bislang setzte die politische Führung des Landes darauf, dieser Entwicklung durch eine organisierte Propagandakampagne entgegenzuarbeiten. Doch mit der Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs wird der Schaden für Israel irreparabel sein." Das war AL-AYYAM aus Ramallah.
"Netanjahu zur Verhaftung auszuschreiben wäre bizarr", bemerkt dagegen DIE PRESSE aus Wien. "Für ihre Kriegsführung steht Israels Armee seit Monaten zu Recht in der Kritik: Ihre Jagd auf die Hamas hat viel zu viele palästinensische Zivilisten das Leben gekostet. Auch wenn sich die Terroristen perfide hinter der Bevölkerung in Gaza verschanzen, kann Israel die Verantwortung nicht komplett abwälzen. Doch es ist unzulässig, einen demokratischen Rechtsstaat wie Israel moralisch auf eine Stufe mit der Hamas zu stellen. Diesen Eindruck jedoch hat Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, erweckt, indem er gleichzeitig Haftbefehle für drei Hamas-Anführer und für den Premier sowie den Verteidigungsminister Israels beantragt hat", meint DIE PRESSE aus Österreich.
Ähnlich sieht es auch DER STANDARD aus Wien: "Durch die Gleichzeitigkeit der Anträge entsteht der Eindruck, man würde beide Seiten gleichsetzen. Das ist die Botschaft, die aus Den Haag in die Welt gesandt wird und von der bei vielen nur ein Teil hängenbleiben wird: Israels Politiker sind Kriegsverbrecher und aus Haager Sicht des Völkermords schuldig. Khan hätte die beiden Anträge zeitlich trennen sollen, um nicht in diese moralische Falle zu tappen."
Die Zeitung THE GUARDIAN aus London widerspricht: "Chefankläger Karim Khan setzt weder die Akteure noch die gegen sie erhobenen Vorwürfe gleich. Aber: Alle Opfer werden gleichermaßen als würdig betrachtet, Gerechtigkeit zu erfahren. Die angemessene Reaktion Frankreichs, Australiens und anderer Länder besteht darin, die Unabhängigkeit und Bedeutung des Gerichtshofs zu unterstützen. Khan ist ein sehr erfahrener und angesehener Menschenrechtsanwalt, der mit der einstimmigen Unterstützung eines Expertengremiums handelt."
In der Zeitung DE VOLKSKRANT aus Amsterdam steht: "Wenn der Gerichtshof die internationale Rechtsordnung aufrechterhalten will, dann muss er Kriegsverbrechen verfolgen, unabhängig davon, wer sie begeht. Der Gerichtshof würde seine Legitimität in der Welt verlieren, wenn er nicht auch gegen Israel vorgehen würde. Das würde einen alten Vorwurf bekräftigen: Dass die sogenannte regelbasierte Ordnung, die der Westen angeblich verteidigt, nur für die Gegner des Westens gilt, nicht aber für den Westen und seine Verbündeten selbst."
Die Zeitung YENI ŞAFAK aus Istanbul schaut auf die Folgen für die USA: "Die Entscheidung des Chefanklägers stellt eine neue Bewährungsprobe für die westlichen Staaten und insbesondere für die USA dar. Diese laufen Gefahr, die Verteidigung des Völkerrechts und der internationalen Ordnung an andere Akteure zu verlieren. Washington scheint zu akzeptieren, dass der Angriff vom 7. Oktober Israel das Recht gibt, Kriegsverbrechen zu begehen."
Die chinesische Zeitung JIEFANG RIBAO stellt fest: "Es dürfte einige Monate dauern, bis eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Der Internationale Strafgerichtshof kann zudem selbst keine Haftbefehle vollstrecken, sondern überlässt dies seinen Vertragsstaaten. Daher dürfte sich dieser Schritt nicht allzu nachteilig auf Netanjahu auswirken. Lediglich seine Reisemöglichkeiten wären künftig eingeschränkt, und seine Position im eigenen Land würde geschwächt. Sollte das Dekret tatsächlich in Kraft treten, könnte Israel in der Folge jedoch weniger militärische Unterstützung von einigen seiner Verbündeten erhalten. Insbesondere Länder wie Deutschland, die das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet haben, dürften nun in eine diplomatische Zwickmühle geraten. Die Regierung in Berlin hatte den Haftbefehl gegen Russlands Präsident Putin befürwortet und muss nun aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, man messe mit zweierlei Maß." Das beobachtet JIEFANG RIBAO aus Schanghai.
Themenwechsel. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat die Statistik über politisch motivierte Straftaten in Deutschland vorgestellt. "Hauptsache gegen rechts" schreibt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG und wirft der Bundesinnenministerin vor, die Zahlen zu instrumentalisieren: "In fast allen Bereichen – Sachbeschädigung, Volksverhetzung, politisch motivierte Gewalt – haben religiös motivierte Straftaten massiv zugenommen, weitaus mehr als rechtsextremistische. Darunter fallen vor allem islamistische Straftaten. Und auch von links motivierte Straftaten haben deutlich zugenommen. Nancy Faesers starker Fokus auf den Rechtsextremismus wirkt vor diesem Hintergrund nicht wie eine nüchterne Zustandsbeschreibung, sondern wie eine parteipolitisch motivierte Meinungsäußerung in einem Jahr mit vielen Wahlen. Als SPD-Vertreterin darf sie so agieren. Aber als Innenministerin schadet sie ihrem Haus. Die Instrumentalisierung der Zahlen untergräbt deren Glaubwürdigkeit", bemängelt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG.
Zum Abschluss der Presseschau noch eine Stimme zum "Reichsbürger-Prozess" in Frankfurt. Die polnische RZECZPOSPOLITA aus Warschau merkt an: "Einen derart großen Prozess hat es in Deutschland seit den Nürnberger Prozessen der Siegermächte nicht mehr gegeben. Die Verfahren werden sich voraussichtlich über Jahre hinziehen, von möglichen Berufungsverfahren ganz zu schweigen. Die Kosten sind enorm. Das wirkt alles wie ein Schauspiel, wenn man bedenkt, dass in Deutschland niemand die geringste Chance für einen Putsch sieht – oder eine ernsthafte Bedrohung für die deutsche Demokratie. Die Beweggründe vieler Reichsbürger rechtfertigen sogar den Hinweis, dass sie sich lieber an einen Psychiater als an die Justiz wenden sollten. Andererseits sammelte die Gruppe mutmaßlicher Attentäter, die in Stuttgart vor Gericht standen, 380 Schusswaffen und 148.000 Stück Munition. Das allein ist ein ausreichender Grund, die Bedrohung ernst zu nehmen", mahnt RZECZPOSPOLITA aus Warschau zum Ende der Internationalen Presseschau.