10. September 2024
Die internationale Presseschau

Heute mit Kommentaren zum Vorschlag von Ex-EZB-Chef Draghi, europäische Investitionen mit gemeinsamen Schulden zu finanzieren, und zu der abgestürzten russischen Drohne in Lettland.

Der frühere italienische Regierungschef und Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hält Akten unter dem rechten Arm. Links neben ihm steht ein Journalist, der ihn anspricht.
Der frühere italienische Regierungschef und Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi (IMAGO / Avalon.red / IMAGO / Nicola Marfisi / AGF / Avalon)
Zum ersten Thema. Angesichts der Konkurrenz aus den USA und China fordert der frühere EZB-Chef Draghi von der EU Milliarden-Investitionen in Wirtschaft und Klimaschutz. In einem Strategiebericht zur Wettbewerbsfähigkeit der Union empfahl er dafür die Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden. In der polnischen Zeitung RZECZPOSPOLITA heißt es dazu: "Der Bericht wird weder zur Rettung noch zum Zusammenbruch der EU führen: Draghi verfügt nicht mehr über eine solche Antriebskraft. Es fällt außerdem schwer, die Handschrift jenes brillanten Ökonomen zu erkennen, der einst mit einem Handgriff das Vertrauen der Finanzmärkte in die gemeinsame Währung wiederherstellen konnte. In dem vorgelegten Dokument prognostiziert der Italiener der Europäischen Union eine ‚langsame Agonie‘, wenn es ihr nicht gelingen sollte, jährlich etwa 800 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln für Investitionen in die Entwicklung der Wirtschaft zusammenzubringen. Sollte die EU das nicht schaffen, wird das geeinte Europa nach Meinung Draghis nicht nur dem Wettlauf mit den USA und China nicht standhalten können, sondern auch nicht in der Lage sein, den bestehenden Sozialstaat oder die heutigen Wirtschaftsstandards aufrechtzuerhalten. Die von Draghi vorgeschlagene Integration der europäischen Finanzmärkte kommt jedoch nicht in Frage. Die Wahlen in Frankreich und in Deutschland zeigen, dass es heute keinen Konsens für eine vertiefte Integration gibt. Vielmehr erwarten die Wähler, dass sich die EU-Länder gegenüber der Konkurrenz von außen abschotten. Der nationalistische Populismus ist auf dem Vormarsch. Es wäre schon ein Erfolg, wenn die Gemeinschaft zumindest in ihrer jetzigen Form erhalten bleibt", findet die RZECZPOSPOLITA aus Warschau.
"Der Bericht wird wahrscheinlich heftige Auseinandersetzungen auslösen", erwartet das WALL STREET JOURNAL aus den USA. "Denn einige Länder befürchten, dass Europa zu protektionistisch wird. Der Bericht kommt zu einem Zeitpunkt, an dem politische Krisen in Deutschland, Frankreich und anderen großen europäischen Volkswirtschaften eine Einigung über EU-weite Änderungen erschweren. Einige der Ideen, die Draghi vorschlägt, liegen schon seit Jahren auf dem Tisch. Die 27 nationalen Regierungen der EU haben es jedoch versäumt, sie voranzubringen." Das war das WALL STREET JOURNAL, das in New York erscheint.
"Der Bericht enthält eine Reihe sinnvoller, wenn auch nicht unbedingt neuer Empfehlungen", meint auch die FINANCIAL TIMES aus London. "Die eigentliche Herausforderung wird jedoch in der Umsetzung bestehen. Erstens haben es die beiden größten Volkswirtschaften des Blocks, Frankreich und Deutschland, mit instabilen Koalitionsregierungen zu tun, die jeden Fortschritt behindern könnten. Zweitens: Strategische Zusammenarbeit ist leichter gesagt als getan. Die sparsamen nordeuropäischen Länder sind immer noch zurückhaltend, wenn es darum geht, die Ausgaben zu erhöhen oder gemeinsame Schulden zu machen. Pläne für eine Kapitalmarktunion werden seit langem von innenpolitischen Interessen durchkreuzt", stellt die britische Zeitung FINANCIAL TIMES fest.
"Die von Draghi skizzierte Strategie macht wirtschaftlich Sinn", lautet der Kommentar in der Zeitung DE TIJD aus Brüssel. "Europa kann von einer besseren Zusammenarbeit profitieren. Aber diese Strategie kollidiert mit der politischen Realität. In vielen EU-Staaten nehmen nationalistische Reflexe zu. Mehrere Regierungschefs sind euroskeptisch. Sie machen sich antieuropäische Stimmungen unter Wählern zunutze, die sich über Einmischungen aus Brüssel ärgern, aber die Vorteile, die Europa ihnen bringt, als selbstverständlich ansehen. Wenn es Europa gelingen würde, seine wirtschaftliche Dynamik zurückzugewinnen, könnte es die positive Stimmung rund um das europäische Projekt wiederherstellen", prgnostiziert DE TIJD aus Belgien.
"Der Ökonom Draghi verlangt nicht gerade wenig", lautet die Feststellung in der Zeitung LIDOVE NOVINY aus Tschechien. "Sein Bericht ist ein ganzer Katalog von Reformen, welche Schlüsselbereiche wie die Rohstoffgewinnung, die Energiepolitik, die Digitalisierung, die Chipherstellung, die Pharmabranche und den Verkehr betreffen. Man darf darauf wetten, dass von Draghis Vorschlägen nur ein paar wenige umgesetzt werden, während der europäische Niedergang ungebremst weitergeht. Offenbar wird es erst eine weitere große Erschütterung brauchen, damit die Europäer einsehen, dass etwas geschehen muss."
Die spanische Zeitung LA VANGUARDIA analysiert: "Der ehrgeizige Fahrplan, den Draghi vorschlägt, ist weder einfach noch billig noch schnell. Draghis Plan zur Rettung des europäischen Projekts ist aber ausgezeichnet. Das Problem ist, dass er jetzt nicht mehr die finanzielle Macht und den Kassenschlüssel hat - wie zu der Zeit, als er als Präsident der EZB den Euro rettete. Die Umsetzung des Plans erfordert eine enorme politische Führungsstärke und einen starken Willen der Regierungen der 27 Mitgliedstaaten, mehr Europa zu schaffen. Denn das europäische Modell steht auf dem Spiel", lautet die Befürchtung in der Zeitung LA VANGUARDIA, die in Barcelona erscheint.
Im Schweizer TAGES-ANZEIGER lesen wir: "Die Dringlichkeit wächst, weil Europa nun gleichzeitig auch noch die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft, die Digitalisierung und die Sanierung der beschränkt einsatzfähigen Armeen finanzieren muss. 800 Milliarden Euro an zusätzlichen gemeinsamen Investitionen wären laut Draghi jährlich nötig, damit Europa nicht weiter hinter die USA und China zurückfällt. Die Bereitschaft für den Kraftakt ist nicht in Sicht", stellt der TAGES-ANZEIGER fest.
Und die dänische Zeitung POLITIKEN aus Kopenhagen urteilt: "Wenn die EU nicht mehr in der Lage ist, Wohlstand, Gleichheit, Freiheit, Friede und Demokratie zu liefern, hat sie ihre Existenzberechtigung verloren. Viele der Probleme sind längst bekannt, aber Europa hat die Krankheitssymptome lange ignoriert. Draghi hat nun den Anstoß gegeben, und das Schlachtfeld ist riesig. Und Ursula von der Leyen? Sie begnügte sich gestern damit, für den Bericht zu danken und darauf zu verweisen, dass die Länder selbst entscheiden müssten, wie weit sie gehen wollen."
Nun noch zu einem weiteren Thema. Eine am Samstag in Lettland abgestürzte russische Militärdrohne war mit Sprengstoff bestückt. Die lettische Zeitung DIENA kommentiert: "Der Vorfall sorgt für zahlreiche Fragen, leider sind das Verteidigungsministerium und die Streitkräfte gestern auf einer eigens angesetzten Pressekonferenz eine klare Antwort schuldig geblieben. Immerhin konnte ein gefährliches Objekt ziemlich weit in den lettischen Luftraum vordringen, und das löst in der Bevölkerung entsprechende Sorgen aus. Es ist verständlich, dass angesichts der aktuellen geopolitischen Lage Geheimhaltung nötig ist. Das betrifft zum Beispiel die Fragen, wie die Drohne entdeckt wurde, wie die zuständigen Behörden darauf reagierten und inwieweit Absprachen mit den NATO-Partnern erfolgten. Dennoch: Die Kommunikation mit der Bevölkerung war katastrophal und erfolgte viel zu spät", kritisiert DIENA aus Riga.
Und die Zeitung NEATKARĪGĀ RĪTA AVĪZE, ebenfalls ausLettland, erinnert an Folgendes: "Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine warnen Lettland und andere östliche NATO-Partner die Verbündeten in Westeuropa noch eindringlicher, dass dem russischen Präsidenten Putin nicht zu trauen ist. Uns wird zwar eine gewisse Klugheit und Weitsicht zugestanden, aber wirklich durchgetropft ist die Erkenntnis noch immer nicht. Rein zufällig dringen ganz bestimmt keine russischen Drohnen in den rumänischen, polnischen und nun auch in den lettischen Luftraum ein. Vermutlich will Russland testen, welche Reaktionen solche Provokationen seitens der NATO nach sich ziehen."