Archiv


Die Jahre mit Laura Diaz

"Ich bin in den USA aufgewachsen, weil mein Vater Diplomat in Washington war. Ich habe von Kindesbeinen einen Bezug zu den Amerikanern gehabt, bestimmte Vorstellungen von dem, was ich an ihnen bewunderte oder verabscheute; im Mittelpunkt von all dem war stets meine Identität als Mexikaner, auf die ich mich alsbald berief."

Margrit Klingler-Clavijo |
    So beschreibt sich der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes bei einem Gepräch in seiner Londoner Wohnung, kurz nach der Veröffentlichung seines Romans "Los años con Laura Diaz", einer voluminösen Familiensaga, die zugleich eine breitangelegte Reflektion über das 20. Jahrhundert sein will.

    " Ich hatte die Anekdoten über diese Familie, die aus Darmstadt kam, stets präsent, die Urgroßmutter, der die Finger abgehackt wurden in der Begegnung mit einem Straßenräuber auf dem Weg nach Veracruz, die frustrierten Tanten, etc. All diese Geschichten kannte ich ja zu Genüge, doch stets als Anekdote. Davon ausgehend, möchte ich nicht mehr und nicht weniger - verzeihen Sie mir die Anmaßung und die Ambition - die Geschichte eines Jahrhunderts, zumindest jedoch die Geschichte meines Jahrhunderts erzählen."

    Daß Fuentes aus der Sicht einer Frau, nämlich von Laura Diaz, Rückschau auf das Jahrhundert halten läßt, mag im Land der Machos verwundern. Der Autor:

    "Ich hatte doch schon Artemio Cruz; weil ich immerzu dachte, daß es eine Sache ist, die Geschichte des Landes von Artemio Cruz auf seinem Sterbebett erzählen zu lassen, und etwas völlig anderes, wenn eine Frau das Leben Mexikos erlebt und erzählt."

    Artemio Cruz, der übrigens in dem Roman eine kurze Begegnung mit Laura Diaz hat, ist der Protagonist des 1959 erschienenen Romans "Der Tod des Artemio Cruz". Erst auf seinem Sterbebett wird dem skrupellosen Machtmenschen bewußt, daß er die revolutionären Ideale verraten und wesentlich zur Institutionalisierung der revolutionären Einheitspartei PRI beigetragen hat. Fuentes zufolge hat die mexikanische Revolution keinen nennenswerten Beitrag zur Frauenemanzipation geleistet:

    "Zweifellos war das die schwierigste Revolution. Wenn Sie die großen Revolutionen der Vergangenheit anschauen wie die französische oder die der Vereinigten Staaten, fällt eine Gemeinsamkeit auf: Keine gewährt den Frauen das Wahlrecht oder das Recht auf Besitz. Wenn die beiden großen bürgerlichen Revolutionen, die liberal waren, unfähig sind, die Situation der Frau zu erkennen und den Frauen die Rechte zu gewähren, die sie den Männern zugestehen, werden sie auf die gleiche Stufe der Nicht-Emanzipation gestellt wie die Schwarzen oder die Wilden oder die Kinder."

    Laura Diaz ist keine Suffragette, vielmehr repräsentativ für das übliche Frauenschicksal in Mexiko: Behütete Kindheit und Jugend auf einer Kaffeeplantage im tropischen Catemaco, Ehe mit dem revolutionären Arbeiterführer Juan Francisco López Greene und Leben als Hausfrau und Mutter in Mexiko-Stadt. Haushaltshilfe des legendären Künstlerpaares Frieda Kahlo und Diego de Rivera in Detroit, mehrere Liebhaber wie den Exilspanier Jorge Mauta oder den nordamerikanischen Juden Henry Jaffe, der der Hexenjagd der McCarthy Ära nach Mexiko entkommen war. Relativ spät beruflicher Erfolg als Fotografin. Einer ihrer beiden Söhne wird 1968 bei den Studentenunruhen auf der Plaza de las tres Culturas in Tlatélolco ermordet. Soweit stichwortartig Lauras Biographie, die in ein komplexes, sich über mehrere Gotierationen erstreckendes Beziehungsgeflecht eingefunden ist, fast wie das weitverzweigte Geäst eines Lebensbaums. In Fuentes Familiensaga endet das Jahrhundert Anfang der 70er Jahre mit der Repression der Studentenunruhen und der Selbstbehauptung einer korrupten und konsumorientierten urbanen Machtclique. Fuentes verliert kein Wort über die erste postkommunistische Revolution des Subcommdante Maroos am 1. Januar 1994 in Chiapas. Lauras Enkel sind selbstbewußte Hispanics, die es nach Los Angeles und nicht in den lakandonischen RegenwaJd zieht. Dazu Fuentes:

    "Ich wollte von diesem familiären Hintergrund ausgehen, ihn als Fundament benutzen, um meine Vision des 20. Jahrhunderts vom Leben in Mexiko zu schildern, und - was mir sehr wichtig war - die Auswirkungen der Welt auf Mexiko und Mexikos auf die Welt. Der Spanische Bürgerkrieg, der II. Weltkrieg, der Holocaust, die Verfolgung während der McCarthy-Ära in den USA. Das alles hat sich auf Mexiko und mein Leben ausgewirkt. Manchmal gerät das in Vergessenheit, wenn man die Geschichte meines Landes im 20. Jahrhundert erzählt."

    Zur Veranschaulichung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Mexiko und den USA bedient sich Fuentes der monumentalen Wandmalereien von Diego de Rivera und Siqueiros, deren Entstehungsgeschichte ein Urenkel von Laura Diaz, seines Zeichens ebenfalls Fotograf, 1999 in der einstigen Automobilstadt Detroit sowie im Los Angeles des Jahr 2000 nachgeht. Seine Reportagen rahmen am Anfang und Ende des Romans die Famihengeschichte ein. Fuentes:

    "Für mich war es etwas ganz Ungewöhnliches, daß diese nordamerikanischen Finanzmagnaten, etwa die Fords oder die Rockefellers, bei mexikanischen Malern, die obendrein noch Kommunisten waren, Wandgemälde in Auftrag gaben und sich nicht vorzustellen vermochten, daß diese kommunistische Themen aufgreifen würden. Und wie sie dann endlich vor den Wandgemälden standen, waren sie fassungslos und ließen sie zerstören. Wie kann so etwas Dummes passieren? Die Verteidigung von Fortschritt und Revolution verband Henry Ford und Rockefeller miteinander. Sie glaubten an die Maschinen und an den industriellen Fortschritt- von ihnen sollte die Änderung kommen. Marx glaubte das auch. Marx glaubte, daß sich das Proletariat durch den industriellen Fortschritt seiner Unterdrückung bewusst würde und die Weltrevolution machen werde. Fakt ist, daß dieser Glaube an den Fortschritt und die industrielle Entwicklung in dem Moment, in dem ich Diego de Rivera und Henry Ford in Detroit beschreibe, den Glauben an den Kapitalismus und den Kommunismus miteinander verbanden. Wissen Sie, was Siqueiros in Los Angeles passiert ist? In der Calle Olvera, in einem Wohnviertel der Reichen, beauftragten sie Siqueiros - ein Stalinist, nicht bloß ein Kommunist - ein Wandgemalde über Lateinamerika zu malen. Und dann malte Siqueiros das gekreuzigte Lateinamerika. Ein Skandal. Und über fünfzig Jahre war das Wandgemälde verdeckt, bis schließlich eine neue Einstellung die Restaurierung des Wandgemaldes ermöglichte. Nur stellen Sie sich doch mal das unglaubliche Paradox dieser mexikanischen Muralisten vor: Sie waren links und arbeiteten für nordamerikanische Kapitalisten, weswegen sie in Mexiko bei den Kommunisten als Kapitalisten verschrieen waren und in den USA von den Kapitalisten als Kommunisten gebrandmarkt wurden."

    Steht das dekadente Detroit für das Scheitern von Fortschrittsglauben und Industrialisierung, wird Los Angeles zur Stadt, in der verschiedene Rassen und Kulturen mitteinander leben und Differenz als Bereicherung erfahren. Hier ist nichts mehr zu spüren von jener Bitterkeit, mit der Fuentes 1995 in dem Roman "Die gläserne Grenze" die Abschottung der USA gegenüber Mexiko beschrieb. Im Los Angeles des Jahr 2000 behaupten sich Chicanos und Hispanics selbstbewußt als Teil einer multikultureiten Gesellschaft. Dazu der Autor:

    "All dies diverzifiziert die USA, schafft eine nordamerikanische Multikultur, die nur zum Teil akzeptiert wird. Die Nordamerikaner halten sich lieber an die traditionelle Vorstellung eines weißen, protestantischen, angelsäxischen Landes. Das sind sie aber nicht. In den USA sind es vor allem die Schriftstellerinnen, die die Vorstellung eines multikulturellen Landes vermitteln. Die USA sind eine demokratische Bundesrepublik, deren Gesetzgebung Diskriminierung aufgrund der Sprache, der Geschlechts-, Rassen-oder Religionszugehörigkeit ächtet. Dafür muß man sich in den USA einsetzen und das muß man den Nordamerikanern auch klar machen, weil sie ihre eigenen Lügen glauben und in einem Höchstmaß an Bequemlichkeit ihr eigenes Vergessen leben."