PHILIP ROTH: "Amerikanisches Idyll" ist ein Buch, über das ich lange nachgedacht habe und das mir viel Kopfzerbrechen bereitet hat. 1972 hatte ich etwa 70 Seiten eines Romans geschrieben. Damals kam ich nicht weiter mit dem Buch, weil ich einfach keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. So etwas passiert schon mal. Teilweise erkläre ich es mir heute damit, daß damals der Vietnamkrieg noch im vollem Gang war. Mich wühlte das emotional so stark auf, daß ich kein klares Bild der Zusammenhänge mehr hatte - mir fehlte einfach die Distanz, um das Buch weiterschreiben zu können. Wir waren damals also in Vietnam - und das schon seit zehn Jahren. 1964 waren sich einige von uns dessen bereits bewußt, zwischen 1965 und 1969 aber verdrängte Vietnam so gut wie alles andere in unserem Denken. Nicht weil die Presse, das Fernsehen oder die Politik einen darauf aufmerksam machte, das war gar nicht nötig - der Krieg war überall. Nachdem ich aber diese ersten 70 Seiten geschrieben hatte, wandte ich mich etwas anderem zu. Wann immer ich aber ein Buch abgeschlossen hatte, zog ich dieses Manuskript aus der Schublade und sah es mir wieder an. Mir war klar, daß ich da einen Punkt getroffen hatte, aber ich bekam einfach keine klare Vorstellung davon. Also wandte ich mich jedesmal wieder einem anderen Projekt zu. 1994 hatte ich dann meinen Roman "Sabbaths Theater" veröffentlicht. Ich hatte mich damals ganz in Mickey Sabbath eingefühlt, die Hauptfigur des Romans. Und dieser Mickey Sabbath ist das genaue Gegenteil von Suede Levov, der Hauptfigur von "Amerikanisches Idyll". Diese beiden Männer könnten sich nicht im gleichen Raum aufhalten, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Und als ich also die ersten Seiten von "Amerikanisches Idyll" wieder durchlas, was inzwischen für mich zu einem festen Ritual nach Abschluß eines Romans geworden war, da überlegte ich mir: Aber klar, der Schlüssel ist die Figur, mit diesem Suede Levov kann ich eine 180-Grad-Wendung machen und aus einer Lebenserfahrung schreiben, die nichts mit der Erfahrung zu tun hat, aus der ich "Sabbaths Theater" geschrieben hatte. Ich begann also mit der Figur, Suede Levov. Und damit war die Aufgabe klar umrissen: ich wollte diesen Menschen darstellen, seine Welt, seine Hoffnungen, seine Art zu leben und schließlich seine Katastrophe. Und diese Katastrophe rührt nicht von einem Übermaß an Liebe, sondern weil er eine Tochter hat, die 1968 erwachsen wird. Ich wollte, daß diese Katastrophe, diese Tragödie, nicht eine Familie trifft, die sich bei der Erziehung ihres Kind wie Idioten angestellt hat, sondern eine Familie, die ihr Kind intelligent und liebevoll erzogen hat.
SCHECK: Die Idee einer Pastorale impliziert, ein Leben außerhalb der Geschichte zu führen. Das ist ja Suede Levovs Lebensplan - sich so gut es geht gegen all jene Mächte des Chaos abzuschirmen und zu schützen, die letztlich Geschichte ausmachen. Ist dies die tiefere Ursache der Katastrophe - ein Leben außerhalb der Geschichte zu führen, was unmöglich ist?
ROTH: Möglich ist das schon, viele Menschen versuchen es ja. Und es glückt ihnen auch. Der Wunsch, ein friedliches, geordnetes und gewaltloses Milieu zu schaffen, in dem man Kinder großziehen kann, ist nicht nur den Levovs eigen. Es ist ein durchaus ehrenwertes und bewundernswürdiges Ziel des Mittelstands. Ich mache mich nicht über dieses Ziel lustig und glaube auch nicht, daß es unmöglich ist, es zu erreichen - allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Wer versucht heute schon nicht, seine eigene kleine Pastorale zu schaffen? Dieser Wunsch ist universell und keineswegs nur typisch für den Mittelstand - dort allerdings wird dieser Wunsch zum Dreh- und Angelpunkt der Weltanschauung.
SCHECK: In Ihrem nächsten Roman "I Married a Communist", der noch nicht auf deutsch erschienen ist, schreiben Sie über eine Figur, die wiederum das genaue Gegenteil von Suede Levov ist: eine Figur, die nicht an die Werte des Mittelstands glaubt, die kein Idyll, keine Insel außerhalb der Zeit und außerhalb der chaotischen Geschichte schaffen möchte, sondern ihr Leben statt dessen in den Dienst einer Ideologie stellt. Auch das führt in die Katastrophe. Es hat also den Anschein, daß diese beiden Bücher eng verbunden sind.
ROTH: In meinen Augen bilden Sie ein Paar. Wenn ich "Amerikanisches Idyll" nicht geschrieben hätte, wäre auch nicht "I Married a Communist" entstanden. Es hat mir Spaß gemacht, "Amerikanisches Idyll" zu schreiben, ich hatte das Gefühl, hier etwas für mich ganz Neues getan zu haben, denn noch nie zuvor hatte ich mich so sehr für Geschichte geöffnet und ihr gestattet, in mein Buch einzudringen. Und da dachte ich mir: Kennst du noch eine andere historische Zäsur, die du selbst erlebt hast? Ich meine das nicht im Sinne persönlicher Betroffenheit, es geht mir nur um Zeitgenossenschenschaft. Jedenfalls fiel mir in diesem Zusammenhang sofort die Zeit Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre ein, die McCarthy-Ära. Für mich war das wiederum eine Zeit, in der ich sehr damit beschäftigt war, über Vorgänge in der großen weiten Welt nachzudenken - auch wenn ich 1948 gerade mal 15 war. Ich war ein ziemlich aufgeweckter Junge und interessierte mich sehr für Politik. McCarthy tauchte 1950 auf, damals war ich 17 und ging schon aufs College. Mir ist diese Zeit sehr lebhaft in Erinnerung, auch deshalb, weil meine Familie darin bis zu einem gewissen Grad verwickelt war. Alle Erwachsenen in meiner Familie standen links von der Mitte. Ich kannte also die ganze Skala der Politk auf der Linken, insofern sie sich im persönlichen Umgang innerhalb einer Familie niederschlug, aus eigener Erfahrung. Also dachte ich, aha, das ist die Zeit, über die ich schreiben möchte.
SCHECK: Nun haben wir über die Verbindungen zwischen "Sabbaths Theater" und "Amerikanisches Idyll" und über die Verbindungen zwischen "Amerikanisches Idyll" und "I Married a Communist" gesprochen. Versuchen Sie einen geschlossenenen literarischen Kosmos zu errichten wie Balzac mit seiner Comédie humaine?
ROTH: Ich weiß nicht, ob mein Ehrgeiz so groß ist wie der von Balzac - in dieser Phase des Spiels ist es dafür ein bißchen spät. Aber ich würde gern ein drittes Buch schreiben, so daß eine Trilogie entstünde. Thema wären die Wechselwirkungen zwischen den großen historischen Ereignissen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts und dem Leben ganz gewöhnlicher Menschen, wie ich sie kannte. Ich habe auch schon einen Titel für diese Trilogie, der stammt aber nicht von Balzac, sondern von den Trolllope, der einen seiner Romane einmal "The Way we Live Now", "Wie wir jetzt leben" nannte.
SCHECK: Dieser Ehrgeiz, Bilanz zu ziehen - hat das etwas mit dem Ende dieses Jahrhunderts zu tun? Auch Ihre Kollegen Don DeLillo in seinem Roman "Unterwelt" oder John Updike mit "Gott und die Wilmots" versuchen ja, eine Art Bilanz zumindest einiger Aspekte dieses "amerikanischen Jahrhunderts" zu ziehen.
ROTH: Offen gestanden weiß ich nicht, welcher Antrieb dahinter steckt. Gemeinsam haben Don DeLillo, John Updike und ich, daß wir alle über 60 sind. Don ist 62, John ist 66 und ich bin 65. Wenn wir in unseren Romanen die historische Perspektive einnehmen, dann vielleicht weniger, weil sich nun das Jahrhundert seinem Ende zuneigt, als vielmehr, weil wir schon so lange gelebt haben. Als 30- oder 40jähriger hat man diese Perspektive noch nicht. Ich weiß nicht, wie stark man von der Jahreszahl beeinflußt wird, die man auf seine Schecks schreibt. Vielleicht übt sie ja tatsächlich einen gewissen Einfluß aus, aber mir gefällt der Gedanke besser, daß es nicht so ist - es ist schließlich nur eine Zahl. Ich bewundere diese beiden Autoren wirklich sehr, Don DeLillo hat sich in seinem neuen Buch ganz sicher an einer großen Vision von Amerika versucht. John Updike hat dies bereits in der Vergangenheit getan - ich will da gar nicht von seinem jüngsten Buch reden, ich denke vielmehr an seine Hasenherz-Romane. Darin hat er ein herrliches Bild des Lebens gezeichnet aus Sicht von Harry Angstrom, einem Autohändler im Osten Pennsylvanias. Updike hat seine Rabbit-Romane irgendwann in den 60er Jahren zu schreiben begonnen. Es hat also wohl weniger mit dem Ende des Jahrhunderts zu tun als mit unserem Alter.
SCHECK: Updike nannte seinen Helden Harry Angstrom einmal sein "Ticket nach Amerika", womit er sagen wollte, daß Rabbit ihm bestimmte Felder der Erfahrung für sein Schreiben erschloß. Spielt Ihr literarisches Alter ego Nathan Zuckerman eine ähnliche Rolle für Philip Roth?
ROTH: Das ist hübsch formuliert. Sagen wir so: Ich hätte nie geglaubt, daß ich ein Ticket brauche. John braucht sicher auch keines. Ich weiß schon, was er damit meint: die Figur verschaffte ihm Zugang zu Dingen, die er kannte.
SCHECK: Sie war ein Modus der Wahrnehmung.
ROTH: Das stimmt. Ich weiß nicht, ob Zuckerman die Figur ist, die mir Zugang zu Amerika verschafft hat. Sicher auch deshalb, weil ich eigentlich immer Zugang zu Amerika hatte. Allerdings lebte ich etwa 15 Jahre lang, von 1975 bis 1990, die Hälfte jedes Jahres in London und unternahm von England aus Reisen nach Europa und nach Israel. Und dadurch verlagerte sich auch das Thema oder der Gegenstand meiner Arbeit ein wenig: ich begann mich für das Leben in London, in Jerusalem und auch in Prag zu interessieren. Ich schrieb über Amerikaner in diesen Städten, auch über Israelis in Jerusalem und Engländer in London. 1990 kehrte ich dann zurück nach Amerika, um wieder ganz hier zu leben. Und diese Veränderung hat mindestens so sehr wie alles andere meinen Fokus wieder auf Amerika gerichtet.
SCHECK: Ihr Kollege Saul Bellow sieht die amerikanischen Juden in Gefahr - in Gefahr, durch allmähliche Assimilierung in der allgemeinen amerikanischen Kultur aufzugehen und letztlich in ihr zu verschwinden. Teilen Sie diese Sorge?
ROTH: Nein, überhaupt nicht. Amerika ist das Beste, was den Juden je passiert ist. Und die Juden sind das Beste, was Amerika je passiert ist. Es ist eine im Himmel gestiftete Verbindung. Juden verschwinden, Phönizier verschwinden, Gallier verschwinden - alles verschwindet, und statt dessen erscheint etwas Neues. Ich mache mir um das Verschwinden der Juden genauso wenig Sorgen wie über das Verschwinden der WASPS - der weißen angelsächsischen Protestanten. In 40 Jahren wird dieses Land im wesentlichen in der Hand von Hispano-Amerikanern sein. Und sollte Leben in anderen Galaxien existieren, wird es dort überhaupt keine Juden geben, deshalb lasse ich mir auch keine grauen Haare wachsen. Fest steht aber, daß die Juden in Amerika bemerkenswerte, beglückende Erfahrungen gemacht haben: ich glaube nicht, daß irgendeine andere Einwandergruppe sich Amerika so rückhaltlos und leidenschaftlich geöffnet hat wie die Immigranten, die zwischen 1880 und 1900 hierher kamen. Denken Sie nur an die amerikanische Musik. Es gab eine ganze Generation von Einwandererkindern, die um 1920 erwachsen wurden. Irving Berlin etwa, der den amerikanischen Popsong schuf - in Berlins Elternhaus wurde nicht mal Englisch gesprochen, und er schrieb Songs wie God Bless America oder Land That I Love. Dabei war er gerade mal vor einer halben Stunde hier in Amerika angekommen. "White Christmas" hat er auch geschrieben, das berühmteste Weihnachtslied in Amerika, oder "Easter Parade". Irving Berlin, der Sohn jüdischer Emigranten, hat die beiden berühmtesten Songs über die höchsten christlichen Feiertage geschrieben, kaum daß er vom Schiff runter war. Oder denken wir an George Gershwin. Was macht der? Er schreibt den ersten populären Mythos über Schwarze: "Porgy and Bess". Er vermittelt den Weißen ein Bild vom Schwarzen. Wie kommt er dazu, seine Eltern sprachen nicht mal Englisch. Sein Bruder Ira Gershwin war ein Genie des amerikanischen Popsongs. Der hat nicht über Juden geschrieben, sondern über Amerika. Aron Copeland oder Leonard Bernstein. Die haben doch nicht die jüdische Mythologie verewigt, daran hatten die gar kein Interesse. Sie interessierten sich dafür, wer sonst noch in diesem Land ist. James Joyce: "Here comes Everybody", hier kommt jedermann. Das ist Amerika: Here comes Everybody.
Link: Kritik zu "Amerikanisches Idyll"
SCHECK: Die Idee einer Pastorale impliziert, ein Leben außerhalb der Geschichte zu führen. Das ist ja Suede Levovs Lebensplan - sich so gut es geht gegen all jene Mächte des Chaos abzuschirmen und zu schützen, die letztlich Geschichte ausmachen. Ist dies die tiefere Ursache der Katastrophe - ein Leben außerhalb der Geschichte zu führen, was unmöglich ist?
ROTH: Möglich ist das schon, viele Menschen versuchen es ja. Und es glückt ihnen auch. Der Wunsch, ein friedliches, geordnetes und gewaltloses Milieu zu schaffen, in dem man Kinder großziehen kann, ist nicht nur den Levovs eigen. Es ist ein durchaus ehrenwertes und bewundernswürdiges Ziel des Mittelstands. Ich mache mich nicht über dieses Ziel lustig und glaube auch nicht, daß es unmöglich ist, es zu erreichen - allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Wer versucht heute schon nicht, seine eigene kleine Pastorale zu schaffen? Dieser Wunsch ist universell und keineswegs nur typisch für den Mittelstand - dort allerdings wird dieser Wunsch zum Dreh- und Angelpunkt der Weltanschauung.
SCHECK: In Ihrem nächsten Roman "I Married a Communist", der noch nicht auf deutsch erschienen ist, schreiben Sie über eine Figur, die wiederum das genaue Gegenteil von Suede Levov ist: eine Figur, die nicht an die Werte des Mittelstands glaubt, die kein Idyll, keine Insel außerhalb der Zeit und außerhalb der chaotischen Geschichte schaffen möchte, sondern ihr Leben statt dessen in den Dienst einer Ideologie stellt. Auch das führt in die Katastrophe. Es hat also den Anschein, daß diese beiden Bücher eng verbunden sind.
ROTH: In meinen Augen bilden Sie ein Paar. Wenn ich "Amerikanisches Idyll" nicht geschrieben hätte, wäre auch nicht "I Married a Communist" entstanden. Es hat mir Spaß gemacht, "Amerikanisches Idyll" zu schreiben, ich hatte das Gefühl, hier etwas für mich ganz Neues getan zu haben, denn noch nie zuvor hatte ich mich so sehr für Geschichte geöffnet und ihr gestattet, in mein Buch einzudringen. Und da dachte ich mir: Kennst du noch eine andere historische Zäsur, die du selbst erlebt hast? Ich meine das nicht im Sinne persönlicher Betroffenheit, es geht mir nur um Zeitgenossenschenschaft. Jedenfalls fiel mir in diesem Zusammenhang sofort die Zeit Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre ein, die McCarthy-Ära. Für mich war das wiederum eine Zeit, in der ich sehr damit beschäftigt war, über Vorgänge in der großen weiten Welt nachzudenken - auch wenn ich 1948 gerade mal 15 war. Ich war ein ziemlich aufgeweckter Junge und interessierte mich sehr für Politik. McCarthy tauchte 1950 auf, damals war ich 17 und ging schon aufs College. Mir ist diese Zeit sehr lebhaft in Erinnerung, auch deshalb, weil meine Familie darin bis zu einem gewissen Grad verwickelt war. Alle Erwachsenen in meiner Familie standen links von der Mitte. Ich kannte also die ganze Skala der Politk auf der Linken, insofern sie sich im persönlichen Umgang innerhalb einer Familie niederschlug, aus eigener Erfahrung. Also dachte ich, aha, das ist die Zeit, über die ich schreiben möchte.
SCHECK: Nun haben wir über die Verbindungen zwischen "Sabbaths Theater" und "Amerikanisches Idyll" und über die Verbindungen zwischen "Amerikanisches Idyll" und "I Married a Communist" gesprochen. Versuchen Sie einen geschlossenenen literarischen Kosmos zu errichten wie Balzac mit seiner Comédie humaine?
ROTH: Ich weiß nicht, ob mein Ehrgeiz so groß ist wie der von Balzac - in dieser Phase des Spiels ist es dafür ein bißchen spät. Aber ich würde gern ein drittes Buch schreiben, so daß eine Trilogie entstünde. Thema wären die Wechselwirkungen zwischen den großen historischen Ereignissen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts und dem Leben ganz gewöhnlicher Menschen, wie ich sie kannte. Ich habe auch schon einen Titel für diese Trilogie, der stammt aber nicht von Balzac, sondern von den Trolllope, der einen seiner Romane einmal "The Way we Live Now", "Wie wir jetzt leben" nannte.
SCHECK: Dieser Ehrgeiz, Bilanz zu ziehen - hat das etwas mit dem Ende dieses Jahrhunderts zu tun? Auch Ihre Kollegen Don DeLillo in seinem Roman "Unterwelt" oder John Updike mit "Gott und die Wilmots" versuchen ja, eine Art Bilanz zumindest einiger Aspekte dieses "amerikanischen Jahrhunderts" zu ziehen.
ROTH: Offen gestanden weiß ich nicht, welcher Antrieb dahinter steckt. Gemeinsam haben Don DeLillo, John Updike und ich, daß wir alle über 60 sind. Don ist 62, John ist 66 und ich bin 65. Wenn wir in unseren Romanen die historische Perspektive einnehmen, dann vielleicht weniger, weil sich nun das Jahrhundert seinem Ende zuneigt, als vielmehr, weil wir schon so lange gelebt haben. Als 30- oder 40jähriger hat man diese Perspektive noch nicht. Ich weiß nicht, wie stark man von der Jahreszahl beeinflußt wird, die man auf seine Schecks schreibt. Vielleicht übt sie ja tatsächlich einen gewissen Einfluß aus, aber mir gefällt der Gedanke besser, daß es nicht so ist - es ist schließlich nur eine Zahl. Ich bewundere diese beiden Autoren wirklich sehr, Don DeLillo hat sich in seinem neuen Buch ganz sicher an einer großen Vision von Amerika versucht. John Updike hat dies bereits in der Vergangenheit getan - ich will da gar nicht von seinem jüngsten Buch reden, ich denke vielmehr an seine Hasenherz-Romane. Darin hat er ein herrliches Bild des Lebens gezeichnet aus Sicht von Harry Angstrom, einem Autohändler im Osten Pennsylvanias. Updike hat seine Rabbit-Romane irgendwann in den 60er Jahren zu schreiben begonnen. Es hat also wohl weniger mit dem Ende des Jahrhunderts zu tun als mit unserem Alter.
SCHECK: Updike nannte seinen Helden Harry Angstrom einmal sein "Ticket nach Amerika", womit er sagen wollte, daß Rabbit ihm bestimmte Felder der Erfahrung für sein Schreiben erschloß. Spielt Ihr literarisches Alter ego Nathan Zuckerman eine ähnliche Rolle für Philip Roth?
ROTH: Das ist hübsch formuliert. Sagen wir so: Ich hätte nie geglaubt, daß ich ein Ticket brauche. John braucht sicher auch keines. Ich weiß schon, was er damit meint: die Figur verschaffte ihm Zugang zu Dingen, die er kannte.
SCHECK: Sie war ein Modus der Wahrnehmung.
ROTH: Das stimmt. Ich weiß nicht, ob Zuckerman die Figur ist, die mir Zugang zu Amerika verschafft hat. Sicher auch deshalb, weil ich eigentlich immer Zugang zu Amerika hatte. Allerdings lebte ich etwa 15 Jahre lang, von 1975 bis 1990, die Hälfte jedes Jahres in London und unternahm von England aus Reisen nach Europa und nach Israel. Und dadurch verlagerte sich auch das Thema oder der Gegenstand meiner Arbeit ein wenig: ich begann mich für das Leben in London, in Jerusalem und auch in Prag zu interessieren. Ich schrieb über Amerikaner in diesen Städten, auch über Israelis in Jerusalem und Engländer in London. 1990 kehrte ich dann zurück nach Amerika, um wieder ganz hier zu leben. Und diese Veränderung hat mindestens so sehr wie alles andere meinen Fokus wieder auf Amerika gerichtet.
SCHECK: Ihr Kollege Saul Bellow sieht die amerikanischen Juden in Gefahr - in Gefahr, durch allmähliche Assimilierung in der allgemeinen amerikanischen Kultur aufzugehen und letztlich in ihr zu verschwinden. Teilen Sie diese Sorge?
ROTH: Nein, überhaupt nicht. Amerika ist das Beste, was den Juden je passiert ist. Und die Juden sind das Beste, was Amerika je passiert ist. Es ist eine im Himmel gestiftete Verbindung. Juden verschwinden, Phönizier verschwinden, Gallier verschwinden - alles verschwindet, und statt dessen erscheint etwas Neues. Ich mache mir um das Verschwinden der Juden genauso wenig Sorgen wie über das Verschwinden der WASPS - der weißen angelsächsischen Protestanten. In 40 Jahren wird dieses Land im wesentlichen in der Hand von Hispano-Amerikanern sein. Und sollte Leben in anderen Galaxien existieren, wird es dort überhaupt keine Juden geben, deshalb lasse ich mir auch keine grauen Haare wachsen. Fest steht aber, daß die Juden in Amerika bemerkenswerte, beglückende Erfahrungen gemacht haben: ich glaube nicht, daß irgendeine andere Einwandergruppe sich Amerika so rückhaltlos und leidenschaftlich geöffnet hat wie die Immigranten, die zwischen 1880 und 1900 hierher kamen. Denken Sie nur an die amerikanische Musik. Es gab eine ganze Generation von Einwandererkindern, die um 1920 erwachsen wurden. Irving Berlin etwa, der den amerikanischen Popsong schuf - in Berlins Elternhaus wurde nicht mal Englisch gesprochen, und er schrieb Songs wie God Bless America oder Land That I Love. Dabei war er gerade mal vor einer halben Stunde hier in Amerika angekommen. "White Christmas" hat er auch geschrieben, das berühmteste Weihnachtslied in Amerika, oder "Easter Parade". Irving Berlin, der Sohn jüdischer Emigranten, hat die beiden berühmtesten Songs über die höchsten christlichen Feiertage geschrieben, kaum daß er vom Schiff runter war. Oder denken wir an George Gershwin. Was macht der? Er schreibt den ersten populären Mythos über Schwarze: "Porgy and Bess". Er vermittelt den Weißen ein Bild vom Schwarzen. Wie kommt er dazu, seine Eltern sprachen nicht mal Englisch. Sein Bruder Ira Gershwin war ein Genie des amerikanischen Popsongs. Der hat nicht über Juden geschrieben, sondern über Amerika. Aron Copeland oder Leonard Bernstein. Die haben doch nicht die jüdische Mythologie verewigt, daran hatten die gar kein Interesse. Sie interessierten sich dafür, wer sonst noch in diesem Land ist. James Joyce: "Here comes Everybody", hier kommt jedermann. Das ist Amerika: Here comes Everybody.
Link: Kritik zu "Amerikanisches Idyll"