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Die jüdische Kultusgemeinde in Wien steht vor der Pleite

"Sehr geehrter Herr Bundeskanzler" beginnt der Schriftsteller Michael Köhlmeier in aller Form seinen Brief an Österreichs Regierungschef, "Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, als ich vor kurzem den Aufruf von Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici , die Bundesregierung möge die jüdische Kultusgemeinde unterstützen, gelesen habe, da habe ich mir auf die Lippe gebissen. Ging es Ihnen ähnlich?" Natürlich weiß Köhlmeier, dass es Wolfgang Schüssel überhaupt nicht ähnlich ging, denn sonst hätte er ja mal von sich hören lassen. Aber Köhlmeiers Brief an den Kanzler, gerade in der österreichischen Wochenzeitung Profil erschienen, bleibt unbeirrt beim Stilmittel der Anbiederung: "Wenn man in Wien durch die Innere Stadt spaziert und einen Blick in die Synagoge wirft und dort Wachen stehen sieht – geht es Ihnen nicht auch so, Herr Bundeskanzler? - , da sind wir beide doch beschämt." Diese schwer erträgliche kitschig-devote Manier, die sonst nur im Stammtischorgan der österreichischen Seele, der Kronenzeitung, usus ist, hat Methode: Kapiert doch endlich, will Köhlmeier sagen, es ist eine Selbstverständlichkeit, dass der österreichische Staat die Israelitische Kultusgemeinde Wien vor dem Ruin bewahrt.

Von Beatrix Novy |
    Die Geschichte zieht sich schon länger hin: Die Wachen vor der Synagoge, an deren absurden Anblick man so beschämend gewöhnt ist, bezahlt die Israelitische Kultusgemeinde selbst und kann es nicht mehr. Ihre Aufgaben als Dachorganisation jüdischer Bürger, das Betreiben von Schulen, Museen, Synagogen, Altenheimen, versieht sie wie vor dem Krieg, als sie 200000 Mitglieder zählte – aber heute sind es weniger als zehntausend. Ihre Schuld ist das bekanntlich nicht. Na und, sagt trotzdem Volkes Stimme? Und wer hilft dem FC Tirol? Gestiegene Kosten + weniger Einkünfte = hohe Verschuldung, so ist das eben. Es wäre wirklich ein sehr einfaches Rechenexempel, gäbe es nicht diese unscharfe Größe namens "historische Verpflichtung".

    Der österreichische Staat ist der Überzeugung, genug zu leisten: Zahlt seinen Anteil an den sozialen Einrichtungen – wozu er, ob jüdisch oder katholisch, gesetzlich verpflichtet ist, zahlt fallweise Sicherheitsdienste, und hat ein Überbrückungsdarlehen angeboten, das die Kultusgemeinde dann mit Geldern aus dem spät, aber doch vereinbarten Entschädigungsfonds der Washingtoner Vereinbarung abgezahlen darf – wenn sie denn endlich fließen . Eine angemessene kollektive Entschädigung für das, was die Nazis einer damals mitgliederstarken und tätigen Gemeinde weggenommen haben, gab es seit dem Krieg nicht.

    Von Schnitzler bis Freud: Die Säulen der gepflegt konservierten fin de siècle-Aura, die heute für Wiens Attraktivität sorgt, waren jüdisch. "Wie niederträchtig, sich der toten und ermordeten Juden zu berühmen, aber den lebenden nicht beizustehen" schreiben Menasse, Schindel und Rabinovici in ihrem Aufruf, dem sich seit voriger Woche, damit dies keine jüdische Angelegenheit bleibe, immer mehr Künstler-Kollegen angeschlossen haben: Dabei der Sänger Michael Heltau, die Maler Brus und Attersee, die Architekten Hollein, Peichl, Domenig, die Autoren Christine Nöstlinger und Peter Handke; auf ihrer Fahne die historische Leistung der jüdischen Kultur und ihr Beitrag zur österreichischen.

    Aber: Waren nicht gerade Schnitzler und Freud, waren nicht gerade die Juden, die den berühmten Beitrag zur österreichischen Kultur leisteten, in ihrer Selbstwahrnehmung zunächst Österreicher? Und sie wären es auch gern geblieben, wenn man sie nur gelassen hätte, statt ihnen die Aufnahme in Salons, Clubs und Vereinen zu verwehren. Auf der anderen Seite lässt sich eine österreichische Kultur ohne Juden im Nachhinein nicht denken: Es gibt sie eben nicht. Der Historiker Klaus Hödl sieht deshalb im Begriff "jüdischer Beitrag" erst jene Ausgrenzung, die österreichische Antisemiten und dann die Nazis bis zur Vernichtung betrieben.

    Wenn Menasse und die anderen sagen "Österreich hat die Aufgabe, der Kultusgemeinde zu geben, was zur Aufrechterhaltung jüdischer Existenz und Kultur nötig ist", dann ist das richtig vor dem geschichtlichen Hintergrund 100000er arisierter Wohnungen und Betriebe in Wien, unzähliger reueloser Profiteure und zäh verweigerter Entschädigungen. Die fällige Unterstützung quasi als Belohnung für historische kulturelle Gastarbeiterverdienste einzufordern, käme einem gefährlichen Klischee zugute.

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