Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Die jüdischen Opfer des deutschen Linksterrorismus

Juden zählten zu den ersten Todesopfern linker Terrorgruppen in Deutschland: Am Abend des 13. Februar 1970 starben bei einem Feuer der Israelitischen Kultusgemeinde München sieben Menschen. Wolfgang Kraushaar macht sich in seinem Buch auf Spurensuche.

Von Otto Langels | 29.04.2013
    "Die Piloten befanden sich noch im Terminalraum, während die Passagiere bereits im Bus waren. Dort standen ihnen plötzlich drei bis vier Männer gegenüber. Es ergab sich ein Handgemenge, daraufhin Schusswechsel, daraufhin ein Sprengkörper in dem Bus. Wir haben bisher einen Toten und elf Verletzte."

    Berichtete der Münchener Polizeipräsident Manfred Schreiber einem Rundfunkreporter, nachdem palästinensische Terroristen am 10. Februar 1970 versucht hatten, auf dem Flughafen München-Riem eine israelische El-Al-Maschine zu entführen. Damit begann eine blutige Anschlagserie, bei der innerhalb von elf Tagen 55 Menschen getötet wurden. Am 13. Februar stand das Haus der Israelitischen Kultusgemeinde in München in Flammen. Unbekannte hatten im Treppenhaus Benzin ausgeschüttet und angezündet. Sieben ältere, in dem Gebäude wohnende Juden erstickten oder verbrannten, darunter Holocaust-Überlebende. Einer der Eingeschlossenen rief in Todesangst aus dem Fenster: "Wir werden vergast, wir werden verbrannt!" Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung:

    "Es war die erste Terroraktion in der Bundesrepublik, die Todesopfer forderte. Es war der folgenreichste Angriff auf in Deutschland lebende Juden nach 1945."

    Erstaunlicherweise ist dieser verheerende Brandanschlag aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verschwunden, Und es ist das Verdienst des Autors, ihn wieder in Erinnerung zu rufen. Die Leerstelle in der historischen Erinnerung kann aber auch er nicht erklären. Womöglich überlagerte das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft zwei Jahre später den Anschlag auf das Gemeindehaus. Wolfgang Kraushaar verzichtet auf tiefschürfende Analysen. Er rekapituliert stattdessen ausführlich die Spurensuche nach dem Brandanschlag und zitiert akribisch aus Polizeiakten, Vernehmungsprotokollen und Zeitungsartikeln. So kommen über 800 Seiten zustande, eine locker geschriebene Reportage über den Februar 1970 in München. Die Ermittlungen führten damals in linksradikale Kreise, zu palästinensischen Gruppen und ins rechtsextreme Milieu, blieben jedoch ohne konkretes Ergebnis. Linke Extremisten erschienen verdächtig, weil sie Israel als Aggressor und Unterdrücker der Palästinenser verbal angriffen, in Flugblättern antisemitische Töne anschlugen und bereits zuvor in West-Berlin jüdische Einrichtungen ins Visier genommen hatten.

    "Hier gab es eine Reihe von antijüdischen Anschlägen im Frühjahr und Sommer 1969 auf jüdische Besitzer von Lokalen, von Bars und Restaurants. Und die damaligen Ermittler sind davon ausgegangen, dass diese Anschläge aus dem linken Milieu verübt worden seien. Ich glaube, dass die entscheidende Zäsur der Sechstagekrieg gewesen ist, weil damit zum ersten Mal aus der Perspektive der damaligen radikalen Linken Israel nicht mehr in der Rolle des Opfers gesehen worden ist, sondern in der des Täters und des Siegers."

    Der Ex-Kommunarde Dieter Kunzelmann sprach zum Beispiel von einem "Judenknax" und forderte dazu auf, endlich - Zitat - "den Kampf gegen die heilige Kuh Israel" zu beginnen. Eine kleine West-Berliner Splittergruppe um Kunzelmann fuhr im Spätsommer 1969 nach Jordanien, um dort in einem Übungslager bei palästinensischen Terroristen den Umgang mit Waffen und Sprengstoff zu lernen.

    "Das Erste, was nach der Rückkehr aus Jordanien gemacht wurde, ist dieser versuchte Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindehaus während einer Gedenkfeier für die Opfer des nationalsozialistischen Pogroms vom 9. November 1938."

    Jahrzehnte später bekannte sich ein ehemaliges Mitglied der Tupamaros West-Berlin - eine linksradikale Gruppe um Kunzelmann - zu dem versuchten Anschlag in der Berliner Fasanenstraße. Ein Eingeständnis aufgrund bohrender Nachforschungen Wolfgang Kraushaars. Von Berlin führte – so der Autor – eine direkte Verbindung zur Schwesterorganisation, den Tupamaros München, um den Spaßguerillero Fritz Teufel. In diesem Umfeld vermutet Kraushaar die Urheber des Anschlags auf das Münchener Gemeindezentrum. Wie bereits in früheren Werken versteht sich der Autor auch in seinem neuesten Buch als sorgfältiger Chronist der Protestbewegung der 1960er-Jahre und des linken Terrorismus. Aber stichhaltige Beweise für eine Täterschaft der Tupamaros München kann er trotz eingehender Recherchen nicht liefern. So bleiben seine Schlussfolgerungen letztlich vage und enden mit Mutmaßungen wie "höchstwahrscheinlich", "nicht auszuschließen", "durchaus plausibel", "es spricht einiges dafür".


    "Das alles bleibt weiterhin eine Hypothese. Die von uns zusammengetragenen Indizien sind nicht mit Beweisen zu verwechseln. Ich bin kein Staatsanwalt, sondern ich bin ein Politikwissenschaftler und Autor eines Sachbuches."

    Nach dem Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum ging die Terrorwelle weiter. Am 17. Februar versuchte ein palästinensisches Kommando erneut, auf dem Flughafen München-Riem eine El-Al-Maschine zu entführen. Vier Tage später explodierten Paketbomben an Bord zweier Flugzeuge auf dem Weg von Deutschland beziehungsweise der Schweiz nach Tel Aviv. Eine Maschine konnte notlanden, die zweite stürzte ab, 47 Menschen starben. Mehrere mutmaßliche palästinensische Täter wurden in Deutschland festgenommen, aber nie vor Gericht gestellt, sondern schnell abgeschoben. Die deutschen Sicherheitsbehörden zogen kaum Konsequenzen aus der blutigen Anschlagserie des Februar 1970. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich zweieinhalb Jahre später zeigen sollte: Die Olympischen Spiele von München sollten ein heiteres Sportfest werden mit einem weltoffenen, friedlichen Deutschland als Gegenentwurf zu den Spielen 1936 unter dem Nazi-Regime. Stattdessen mussten elf israelische Sportler sterben. Wolfgang Kraushaar klärt die Taten von 1970, insbesondere den Brandanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum, nicht auf, aber er gibt wichtige Anstöße, sich mit den antisemitischen Tendenzen des deutschen Terrorismus intensiver auseinanderzusetzen.

    "Der gemeinsame Nenner des im Februar 1970 praktizierten Terrors war ein Gemisch aus Anti-Israelismus, Antizionismus und Antisemitismus."

    Auf beklemmende Weise wird in diesem Buch deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen Kritik an der Regierungspolitik Israels und Antisemitismus sind, heute wie damals.

    Buchinfos:
    Wolfgang Kraushaar: "Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel? München 1970: Über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus", Rowohlt, ISBN: 978-3-498-03411-5, 880 Seiten, Preis: 34,95 Euro