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Die jungen Nachwuchsdichter

Der Open-Mike bewege sich zwischen Bundesjugendwettspielen und Oscarverleihung, hieß es irgendwo ziemlich passend. Wer hier einen der Preise holt, kommt aus dem verlegerischen Nichts und gilt als nächster potenzieller Star der jungen deutschsprachigen Literaturszene.

Von Cornelius Wüllenkemper | 15.11.2010
    Nach 18 Jahren hat sich der Wettbewerb in Berlin zum wichtigsten Nachwuchspool entwickelt, Autoren wie Karen Duve oder Judith Zander haben ihren Aufstieg hier begonnen. Mit angeschlossen sind derweil Schreibwerkstätten und Autorenreisen. Etwa 700 Lyrik- und Prosa-Manuskripte erhalten die Lektoren der Literaturwerkstatt Berlin jährlich, 20 Autoren werden schließlich zum Wettbewerb eingeladen. Das Auswahlverfahren ist einzigartig, meint der Lektor eines großen deutschen Literaturverlages:

    "Was den Open-Mike tatsächlich auszeichnet ist, dass die Texte anonymisiert eingereicht werden, hier geht es um Texte, die wirklich nur aufgrund des Textes – und nur des Textes – eingeladen wurden. Und, was ich sehr angenehm und schön finde, auch für die Autoren, dass die Jury eine Autorenjury ist und keine Kritikerjury oder Lektorenjury. Und dadurch, dass die Kritik nicht live passiert, junge Autoren, nicht öffentlich vor der ganzen literarischen Welt kritisiert und verrissen werden. Das ist einfach sehr sympathisch."

    Vier Autoren und nur eine Autorin präsentierten auf dem Open-Mike lyrische Werke, die wenngleich sie gängige Gattungsgrenzen auflösten, weniger experimentell daherkam als man das bei moderner Lyrik hätte erwarten können. Der 1980 geborene Levin Westermann überzeugte die Jury mit seinem Vortrag von kurzen Gedichten, die sich um Leere, Auflösung und Kälte drehen.

    "Durch eine Riss in deiner Haut ist Ferne in dich eingetreten. Du öffnest deine Augen und du stehst allein, abseits der Dinge, die in ihrer Summe eine Welt ergeben. Du stehst getrennt von Gedanken und Geräuschen und was dich trennt, bist du."

    Auch in den Prosa-Beiträgen ging es beim Open Mike vor allem um Leerräume, um Einsamkeit von Menschen in der Großstadt, um Verstörung und das labile Ich, das im schlimmsten Falle in einer unerfüllten Beziehung feststeckt. Der Erzähler von Sebastian Pohlmann, der den Publikumspreis erhielt, fühlt sich wie "der letzte Mensch auf der Welt", und lässt sich von einer Nonne, die mit Handy, Sonnenbrille und Jesuskreuz ausgestattet an der Haltestelle wartet, aus dem Konzept bringen.

    Frauke Pahlke las eine Geschichte, in der sich die Erzählerin in der Badwanne über ihre eigene Beziehung befragt und dabei sogar den Namen ihres Partners vergisst. Entfremdung stand auch beim 30-jährigen Jan Snela, einem der beiden Prosa-Preisträger, im Vordergrund. Sein Erzähler erlebt als Einhorn maskiert einen traumwandlerischen nächtlichen Einkauf in einer Tankstelle. Der jüngste Autor des Wettbewerbes, der 22-jährige Janko Marklein überzeugte die Jury dagegen mit einer äußerst realistisch geschriebenen, ziemlich kruden Geschichte von den sadistischen Gemeinheiten einer Jungsclique in einem norddeutschen Kaff.

    Die Entscheidungen der Open Mike - Jury , die in diesem Jahr aus den Autoren Hanns-Josef Ortheil, Ilja Trojanow und Anja Utler bestand, belegen: die klassische Geschichte hat Hochkonjunktur in der zeitgenössische Literatur, die subjektive und Ich-bezogene Erzählung eines Stücks Welt. Politische oder offen gesellschaftskritische Stücke suchte man vergebens. Für Narration braucht es Konflikte, und die finden die Nachwuchsautoren vor allem zwischen sich und der aus den Fugen geratenen Außenwelt.
    Publikum bei einer Veranstaltung im Rahmen des 18. open mike
    Publikum bei einer Veranstaltung im Rahmen des 18. open mike (Deutschlandradio - Janine Wergin)