Sonntag, 05. Mai 2024

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Die Jungfrau von Orléans

Vor allem ist dies immer noch (und mit jedem Terror-Anschlag mehr) das Stück zur Stunde. Und nicht ohne Grund wäre ja vorgestern der 11. im September der Premierentag gewesen, drei Jahre danach – sicher auch, um Ulrich Khu-ons alte These zu belegen, dass es eben nicht der schnell gestrickten Reaktionen auf den Schrecken der Zeit bedarf, sondern viel zwingender jener Texte, die (aus welcher Zeit auch immer sie stammen) das Theater zum Ort der Analyse werden; und eben da das Publikum auf die Spur des fürchterlichen Wesens zu führen, das DER MENSCH ist. Und wenn sich irgendwo die zutiefst rätselhafte Triebstruktur jener wie aus der Zeit gefallenen Täter von heute findet, die alles, auch sich selber, ohne Ansicht aller Menschlichkeit zum Opfer bringen wollen für eine mehr oder minder abstrakte Idee, dann in diesem 200 und drei Jahre alten Stück Theater. In diesen Zeiten, wo doch nirgends wer an Wunder glaubt, scheucht es auf zu anderem Bewusstsein:

Von Michael Laages | 13.09.2004
    So trotzig hält das Mädchen Johanna, bis dahin Schäferin auf lothringischen Wiesen, dem Freund und Freier Raimond das entgegen, was gerade ihr Leben verändert – die Welt, der dieses Mädchen entflieht, hat Kriegenburg auf der Bühne von Johanna Pfau zuvor wie an Marionettenfäden aufgereiht gezeigt; und später, wenn alle Schlachten geschlagen sind und Johanna ihrerseits nicht in ihnen, sondern nur durch die jederzeit mögliche Liebe geschlagen sein wird, möbelt die Inszenierung die Welt des Alltags sogar noch übermäßig angestrengt zur Clownsnummer auf. Überhaupt beherrscht Kriegenburg hier wie schon sehr oft vor allem die Kunst des Tableaus – kaum je zeigt er Figuren in der Entwicklung, ja häufig nicht einmal in Bewegung; was sie sind und was sie bedeuten, ist mit manchmal beeindruckend großer (oder auch überraschend schlüssig verwirrender) Geste gesetzt und muss nicht mehr bewiesen werden. Den englischen Besatzern etwa, versammelt wie zum Tee bei Tische, legt Johanna Feuer in die eisern behandschuhten Hände; ein hinreißendes Bild. Und wenn im Stück "der schwarze Ritter" erscheint, der warnende Sendbote aus dem Jenseits, den selbst die göttlich berufene Johanna nie besiegen wird, schickt Kriegenburg eine schmucke Rotkreuzschwester ins Getümmel der Schlacht. Immer wieder setzt Kriegenburg auf solche nachgerade naiv überzeugenden Momente, ohne dass er Johanna nun gleich zur tschetschenisch "schwarzen Witwe" umdeuten müsste – das bleibt ohnedies immer und unüberspürbar klar.

    Doch im übrigen hat sich eben auch ein bisschen viel "große Oper" eingeschlichen in die Arbeit eines der eigensinnigsten Schauspielregisseure der jüngeren Zeit. Er verzettelt sich auch, gegen Ende vor allem, wo obendrein Johanna Pfaus Bühne ein wenig arg ambitiös mit immer neuen Bildern droht: Johannas Ankleidezimmer am königlichen Hof als Raum aus lauter Röhren-Gebilden, einem gebräuchlichen Bildschirmschoner am Computer nicht unähnlich; und schließlich bemüht sie gar ein aufwendiges Maschinenräderwerk, wie von Jean Tinguely selig in den Theaterraum gehängt – wohin das aber führen soll, auch mit mehrfach verdoppeltem und zugleich verdichtetem Personal, das wird immer weniger klar.

    Ähnlich absichtsvoll, aber immerhin ganz klar etabliert Kriegenburg dagegen die Distanz gegenüber allzu vereinnahmender Johanna-Interpretation – indem er parallel eine ganz andere (aber ganz ähnliche!) Geschichte erzählt: von einer jungen Frau, die sich im eigenen Leben gefangen fühlt wie in einer allseits weiß getünchten Gummizelle.

    Texte von Kriegenburg selber sind das, mäßig brillant; aber regelmäßig markieren sie zwischen Schillers Szenen den zunehmenden Verfall einer in der seelenloser Gegenwart Verlorenen. Die wird nun zwar nicht (wie ihr Gegenbild Johanna) zwingend von himmlischen Stimmen zu göttlich-tödlichem Auftrag berufen, sucht aber allemal ähnlich zwanghaft nach irgendetwas, das Halt bieten kann. Aber da ist nichts, und nichts wird von ihr bleiben – umso mehr wächst das Irrationale: als Traum vom anderen Zustand im Ich.

    All das ist sehr von hier und heute, ohne dass es dazu eingängiger Bilder voller offensiver Gegenwart zwischen New York, Madrid und Beslan bedürfte; und das Hamburger Ensemble bewährt sich einmal mehr in der künstlerischen Strenge formaler Behauptung. Laurent Simonettis Musik für Celli und Bass verstärkt dabei die Abstraktion wie die Dynamik dieser anstrengenden, aber niemals zermürbenden Interpretation, die Schiller bei aller Nach-Deutung doch sehr kenntlich bleiben lässt: als Zeugen der Zeit.