Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


"Die Jungfrau von Orléans" am Schauspielhaus Stuttgart

Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, ist in Frankreich eine Galionsfigur der nationalen Rechten. Sie symbolisiert die Treue zum Volk im Angesicht fremdländischer Bedrückung. Den Deutschen ist sie - dank ihrem Nationaldichter Friedrich Schiller und seiner "romantischen Tragödie" - etwas ganz anderes: In der rührenden Geschichte vom Hirtenmädchen, das sich berufen fühlt, das Schwert zu führen, steht sie für die tödliche Kollision zwischen göttlichem Auftrag und schnöder Politik. So haben es uns die Deutschlehrer beigebracht. Und zu fragen ist, ob diese "Jungfrau von Orléans" im Schillerjahr 2005 anders auf die Bühne zu bringen ist als mit der berüchtigten Folgenlosigkeit eines Klassikers. Die Probe aufs Exempel hat das Stuttgarter Schauspiel gemacht.

Von Cornelie Ueding | 20.03.2005
    Ein karges, lichtloses, metallisch kühles Geviert. Auf diesem abgeschlossenen Spielfeld, in einer Art düsterem Experimentierraum wird in Stuttgart der Fall der Jungfrau von Orléans, dieser Gotteskriegerin im Feudalstaat, analytisch und zugleich leidenschaftlich durchgespielt. Alles Ausstattungsartige ist von der Szene verbannt in Tanja Laniks Inszenierung. Sie setzt ganz auf Schillers Sprache, deren Pathos sie im Sprechvollzug seziert, und auf die Körpersprache der verschraubten, verdrehten, verbogenen oder erstarrten Figuren, auf eine Ästhetik der Gewalt, die sich jeden realistischen Touch verbietet.

    Keine Kulissen, dunkle Hose, Pulli, T-Shirt statt Kostüme, keine Requisiten außer Johannas Schwert, das zugleich Objekt ihrer Begierde und Taktstock ihres verrückten Heldenlebens ist, und ihrer bühnengroßen weißen Heilsfahne, in die sie schließlich wie in eine Zwangsjacke gewickelt wird. In Schieflage, den Bühnenboden mit dem aufgemalten Schlachtplan zur Rampe abgesenkt oder angehoben, findet das außergewöhnliche Experiment statt, in dem es um die Frage geht, wie ein rationales Machtsystem mit diesem Fremdkörper umgeht, dieser wie ein Alien aus dem Nichts aufgetauchten Jungfrau, die nach eigenen Gesetzen funktioniert.

    Tanja Lanik hat das Stück aus der geballten Schul- und Deutschunterrichtsverflachung erlöst, ausgenüchtert und unprätentiös verdichtet, auf grelle Effekte verzichtet und das leidgeprüfte Gesinnungsstück neu und dennoch ohne modische Mätzchen belebt. Keines der üblichen Klischees, dies macht die eindringliche Inszenierung deutlich, trifft auf die Ausnahmeerscheinung Johanna von Orléans zu: Sie ist rabiate Fanatikerin und Unschuld vom Lande, demütig bis zur Selbstpreisgabe und maßlos fordernd, eiskalt und unberührbar und passioniert und mit allen Sinnen involviert. Entsprechend oszillieren die Strategien der Gesellschaft zwischen Verklärung, Benutzung, Ablehnung und Verstoßung der unheimlichen Jungfrau. Sie löst Irritation, Staunen, Misstrauen, grenzenlose Bewunderung bei Freund und Feind aus - und geradezu serienweise Liebesreflexe.

    Nicht trotz, sondern wegen ihrer androgynen Unerreichbarkeit. Obwohl - oder weil sie gnadenlos zuschlägt und -sticht, durchdrungen vom Glauben, daß ihr Schwert der Zeigefinger Gottes ist. Nicht sie handelt. Es handelt aus ihr. Ein Extremzustand jenseits menschlicher Normalvorstellungen. Und auch diese arbeitet die Stuttgarter Aufführung heraus: die Dialektik der Normalität, die Banalität der Mächtigen. König, Maitresse, Bischof, Bastard und der Graf von Burgund, unangenehme Opportunisten und "normal" empfindende Menschen, stehen gleichermaßen ratlos vor dieser Kampfmaschine Gottes, die nichts für sich anstrebt, weder Volksheldin noch Idol der Massen sein möchte, sondern für einen Gottesstaat streitet, während die Machthabenden nur gut leben wollen. Hanna Scheibe ist eine fast autistisch gegen andere wie gegen sich wütende und dennoch fragile junge Frau, die nichts von sich weiß und - nur - mit dieser Blindheit siegt. Und an dem Sieg nicht teilhat.

    Ein mit allen Mitteln des Theaters inszenierter Wendepunkt bringt Heillosigkeit und Unheilbarkeit dieser Geschichte zum Ausdruck: aus uneingestehbarer Liebe verschont die Jungfrau den jungen Lionel. Und daran zerbricht - auf dem Gipfel ihrer charismatischen, religiösen, politischen Karriere - ihre Identität. Weil sie den in Stuttgart geradezu körperlich qualvollen Zwiespalt zwischen ihrem Auftrag und ihrem persönlichen Empfinden nicht lösen kann. Sie als einzige hat nicht teil an der realitätstüchtigen Gesinnungsakrobatik der Gesellschaftsmenschen. Sich verfluchend, isoliert und trostlos rückt Johanna der Gruppe fern, deren Durchbruch sie erkämpfte. Differenz und Distanz könnten größer nicht sein.

    Aus der Leitfigur wird die Angeklagte, Ausgestoßene. Doch der tiefe Sturz wird weder zur Erleuchtung noch zur Einsicht führen. Das ganz kurze, bestürzend ambivalente Schlußbild zeigt ihre seherische Entrückung als eine einzige mit lauter Fragezeichen versehene - Beschwörung.