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"Die Kannibalen" am Berliner Ensemble
Am Abgrund des Tabus

George Taboris Texte und Aufführungen brachen immer mit Tabus, so auch sein Stück "Die Kannibalen". Mit ihm versuchte der Autor, den Holocaust ins Übergroteske zu treiben. Am Berliner Ensemble, wo Tabori in seinen letzten Lebensjahren hauptsächlich inszenierte, wurde das Menschenfresserstück jetzt wieder ins Programm genommen, inszeniert von Philipp Tiedemann.

Von Franziska Knupper | 29.03.2014
    Schreiendes Gesicht im Halbschatten, aufgerissenes Auge
    Ursula Höpfner-Tabori in "Die Kannibalen" am Berliner Ensemble (dpa/picture alliance/Stephanie Pilick)
    "Auf das Leben! Und jetzt wird das Essen aufgetragen: Hier, eine dampfende Terrine mit Händen und Füßen. Hier, eine Schüssel mit Hirn, im Teig, goldgelb gebraten. Hier, ein Teller mit Augen. (...) Und hier, auf einer großen silbernen Platte der Braten selbst, in Blutsoße schwimmend, mit einer eintätowierten Nummer auf dem Rücken. (Würgen)"
    Die Männer keuchen und würgen. Voller Ekel und halb wahnsinnig stieren sie auf den dampfenden Kessel, die Bühne in blutrotes Licht getränkt. Der fettleibige Puffi Pinkus ist nun gar.
    Vor über 40 Jahren wagte der Autor Georg Tabori Ungeheuerliches: Sein Stück "Die Kannibalen" beschreibt das Schicksal einer Gruppe Auschwitz-Häftlinge, die aus schierem Hunger einen ihrer Leidensgenossen verspeisen.
    "Vielleicht sind wir heute zufällig auf die eleganteste Lösung gestoßen. Die Friedhöfe sind voll von Leckerbissen. Die Öfen arbeiten, dass es nur so raucht! Und hübsche, fette Selbstmörderleichen schwimmen in jedem Bach. Und all dies brauchbare Material soll ungenutzt bleiben?"
    Zwiespalt zwischen Kopfschütteln und Kichern
    Zum 100. Geburtstag von Georg Tabori wird der Menscheneintopf nun auch am Berliner Ensemble angerichtet.
    Und wie erwartet, balanciert die Inszenierung von Philip Tiedemann unter Kau-, Schmatz-, und Schnalzgeräuschen am Abgrund des Tabus.
    Dies jedoch liegt in der Natur des Stückes - wenn die schwarz gekleideten Insassen genüsslich Fliegen verdauen und wenn Gott persönlich ihnen in quäkender Stimme befiehlt, doch endlich den fetten Puffi zu essen, ist ein Zwiespalt zwischen Kopfschütteln und Kichern unvermeidlich.
    "Sag mal, bist du taub und blöde, Bubele? Ich rede immer laut und deutlich mit dir und eines bestimmten Tages, es hat gerade geregnet, da sagte ich zu dir, du sollst keine ekligen Sachen essen. War ja wohl eindeutig. Was ist denn mit eklig gemeint? Ich gab dir 'ne Liste, wo ist die? Ok, habe ich jemals Herrn Puffi Pinkus erwähnt? Habe ich Euch den dicken Mann verboten?"
    Nur der Älteste der Häftlinge hadert noch und bringt mehr Ernst in die komödiantische Farce.
    Gekonnt spielt Martin Seifert den Gottesfürchtigen mit den weißen Handschuhen, der noch verzweifelt um Lebenssinn und Verstand ringt.
    "Man mag uns aneinanderpressen wie Liebende in engster Vereinigung aber im Augenblick unseres Sterbens sind wir allein! Einzeln verfaulen wie und fallen dann ab wie Blätter, die man zusammenharkt und verbrennt im September."
    "Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen"
    Bis zum letzten Ende bleibt er anständig und intakt und erduldet das Böse mit reiner Willenskraft.
    Mord soll sich nicht zu Mord gesellen, ruft er und bringt damit die Jüngeren gegen sich auf.
    "Als wir ins Lager Czepel verlegt wurden, da wollte ich, dass du aufstehst und diese Männer erschlägst. Aber du stehst nur rum wie ein Kellner!"
    Alte Anklagen, im alten Gewand. Philip Tiedemann bringt die großen Fragen um den Holocaust wieder auf die Bretter und spürt der Frage nach, wie weit Humor eigentlich gehen darf. Etwas sagenhaft Neues gibt es dabei nicht zu sehen.
    Doch so lange das Lachen einem im Halse stecken bleibt und der Stoff schwer verdaulich ist, dann hat das Stück seinen Zweck erfüllt. Oder, wie der Autor Tabori selbst sagte: "Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen."