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Die Kinder der Aufständischen

Jenseits der großen Politik hat sich das Autorinnen-Paar Zsuszanna Körösi und Adrienne Molnár interessiert: "Mit einem Geheimnis leben", haben sie ihr Buch genannt. Dabeo geht es um "Die Schicksale der Kinder der Verurteilten von 1956". Welche Nachwehen hatte der niedergeschlagene Aufstand? Wie wurden die Familien, die Kinder der Revolutionäre mit der Verlierer-Rolle fertig? Oft auch mit Hinrichtung und Haft der geliebten Menschen? Stephan Ozsváth, unseren Rezensenten, hat gerade dieses Buch besonders angesprochen.

    "1956" - mit diesem Datum verbinde ich Persönliches: Ungarische Revolution. Demonstrationen vor dem Haus des Ungarischen Rundfunks. Die Erzählungen meines Vaters: Geheimdienstleute schießen in die Menge. Sein Freund stirbt vor dem Radio-Gebäude. Er erzählt von den Verwundeten, die er als angehender Arzt in der Klinik behandelt hat. Den russischen Panzern auf der Üllöi Straße - der großen Ausfall-Straße in Budapest, die zum Flughafen Ferihegy führt. Er berichtet von seiner Todesangst. Und von seiner Flucht nach Österreich, dann weiter ins Rheinland. Ich bin erst später geboren - und das in Deutschland. Mein Vater - außer Gefahr. Mein Wissen darüber: Secondhand. Doch wie erging es denen, die in Ungarn blieben - den Kindern der Aufständischen? Den kleinen Zeitzeugen?

    Das wollte auch die Soziologin Zsuzsunna Körösi vom 1956er-Institut in Budapest wissen. Und so hat sie Ende der 90er Jahre gut 50 Interviews mit den Nachkommen geführt. Sie sind im Oral History Archiv der Forschungseinrichtung aufbewahrt .- liegen nun als Buch vor. Die Herbst-Tage von 1956 - betrachtet durch die Brille von Kindern - woran erinnern sie sich?

    "Sie haben Panzer gesehen, sie erinnern sich daran, dass sie am 23. Oktober vor dem Parlament waren. Oder einfach nur daran, dass sich das Klima verändert hat. Dass der Vater weniger zu Hause war, dass mehr Leute zu Besuch kamen, dass sie besorgt waren. Manche haben auch Waffen gesehen. Bei den Erinnerungen spielt aber auch eine Rolle, wie sehr zu Hause das Andenken an den Vater oder die Revolution gepflegt wurde."

    Die Erinnerungen - sind kondensiert - in schriftliche Form gebracht. Eingebettet in Hintergrundinformationen, die das Erlebte einordnen. Die Erzählungen selbst erschüttern. Es sind Erzählungen vom Abschied. Vom Hoffen auf den Vater. Vom täglichen Überlebenskampf - und dem Rachefeldzug des Kádár-Regimes. Angehörige der Hingerichteten bekamen weder Witwen- noch Waisenrente. Verbaute Zukunftschancen zeugen davon, wie nachtragend die Sowjets und ihre ungarischen Statthalter waren. Zsuzsanna Körösi:

    "Wer 1957/58 weiterstudieren wollte, den ließen sie nicht. Sie mussten als Tagelöhner arbeiten. Auch am Arbeitsplatz gab es Schikanen. Jemand ging in die Fabrik, wurde eingestellt und am Nachmittag ließ der Parteisekretär mitteilen: Geht nicht! So jemand konnte besser arbeiten als ein anderer, vergeblich. Er bekam nicht den gleichen Lohn, kam nicht weiter."

    Hinzu kam: Das offizielle Umdeuten des Erlebten. Das Verfälschen der Geschichte, das Diffamieren der Familienoberhäupter. Das Ausgrenzen. Das Impfen der Kinder mit Schuldgefühlen. Das Aufhetzen der Umgebung durch gehässige Propaganda. Die Behördenschikanen. Der soziale Abstieg. Überforderte Mütter und Väter. Schnelles Erwachsenwerden. Wie haben das die Kinder verkraftet? Zsuzsanna Körösi:

    "Wenn die Mütter sensibel und kommunikativ genug waren, konnten sie den Verlust aufarbeiten. Damit konnten sie den Verlust zurechtrücken. Sie klagten ihre Männer nicht an. So konnten auch die Kinder das Trauma besser verarbeiten. Sie konnten sagen: Mein Vater ist ein Held! Es stimmt nicht, was die Umwelt sagt, dass er ein Verbrecher ist. Es war für sie auch einfacher, wenn die Mütter sie zu Besuchen mit ins Gefängnis nahmen. Ein Interviewpartner sagte uns: Ich teile ein in Gut und Böse. Die guten Menschen sitzen im Gefängnis, die schlechten sind draußen. Die aber, die glaubten, was die Umwelt behauptete, dass 1956 eine Konterrevolution war, dass ihre Väter Verbrecher und Verräter waren, die haben es bis heute schwer. Denn jeder möchte ja zu seinem Vater aufschauen können."

    Der Aufstand von 1956 - ein Trauma - davon erzählt das Buch. Besonders erschütternd - neben den Erzählungen - Faksimiles von Kinderbriefen - auf den in Kinderschrift verfassten Mitteilungen - die Fortschritte in der Schule, kleine Gedichte, Zeichnungen - darauf geknallt der brutale Behördenstempel: "Zensiert!" Trauma. Trauma-Bewältigung. Heilung. Auch davon erzählt dieses Buch. Genauso wie von später Genugtuung - wenn die Kinder endlich ein Grab fanden, wo sie um ihre Väter trauern konnten. Denn der lange Kádár-Arm hatte jede Gelegenheit zum Gedenken tilgen wollen. Das wirkt bis heute nach, deshalb sagt Zsuzsanna Körösi:

    "Bei der Aufarbeitung der Ereignisse hilft nur, sich zu erinnern, und darüber zu sprechen."

    Und genau dabei leistet dieses Buch einen hervorragenden Beitrag. Es ist dicht. Es ist intensiv. Und es weckt Mitgefühl. Wenn man von kleinen Schwächen des Lektorats absieht, von einer mitunter sperrig zu lesenden Übersetzung: dann bleibt ein sehr bewegendes Buch übrig, das Zeugnis darüber anlegt, was große Weltgeschichte im kleinen anrichtet - bei den Verlierern, die in ihr Räderwerk geraten.

    Stephan Ozsvath war das - über: Zsuzsanna Körösi / Adrienne Molnár: "Mit einem Geheimnis leben. Die Schicksale der Kinder der Verurteilten von 1956", Gabriele Schäfer Verlag, Herne. - 240 Seiten zum Preis von genau 25 Euro. - Und auch zu diesem Aspekt noch zwei weitere Hinweise: Zunächst auf das Buch von Marta S. Halpert: "Gefangen und Geblieben. Ungarn 1956", das in neun Kapiteln fesselnd die Schicksale von Ungarn nacherzählt, die nach 1956 im Land bleiben mussten - aber auch Flüchtlingsschicksale aufgreift. Wer die Atmosphäre der damaligen Jahre noch einmal nachempfinden möchte, die Beweise tätiger Solidarität mit den plötzlich aus ihrem Alltag herausgerissenen Menschen, ist mit dieser Sammlung von exemplarischen Biographien sehr gut bedient. Das Buch ist erschienen im Molden Verlag, Wien, hat 116 Seiten und kostet 19 Euro 90. - Und: Auch dieser jetzt im Ullstein Verlag Berlin zum Preis von 18 Euro erschienene Titel ist sehr zu empfehlen "Das schweigende Klassenzimmer. Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg". Vor allem deshalb, weil der Autor Dietrich Garstka spannend nacherzählt, wie die ungarischen Ereignisse in die damalige DDR-Provinz hineingestrahlt haben und Abiturienten in einer kleinen Stadt zu spontaner Solidarität mit den kämpfenden Ungarn bewegten. Voraussehbare Folge: Die Staatssicherheit schlug sofort zurück. Ungarn 1956 - und die DDR zu dieser Zeit: ein spannendes Kapitel, über das sonst nicht allzu viel bekannt ist.