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Die Kinder der Kriegskinder

"Kriegsenkel" sind heute zwischen 35 und 55 Jahren alt. Mit Krieg haben sie deswegen eigentlich nichts zu tun. Doch Nationalsozialismus und Kriegserfahrungen haben viele ihrer Eltern traumatisiert. Dieses Erbe gaben sie an ihre Kinder, die Kriegsenkel, weiter.

Von Jakob Epler | 05.04.2012
    Kriegsenkel sind Menschen, deren Eltern im nationalsozialistischen Deutschland groß geworden sind. Die Eltern, die sogenannten Kriegskinder, gelten als überproportional häufig traumatisiert. Eine Studie des Projektes Kriegskindheit an der Universität München aus dem Jahr 2009 kommt zu dem Schluss, dass jeder zehnte schwere psychische Folgen davon trug. Ihre Traumata sollen die Kriegskinder an ihre Kinder, die Kriegsenkel, weiter gegeben haben. Wie brutal das ablaufen konnte, schildert der Bildhauer Gerhard Roese, wenn er aus seinem Manuskript "Dreißig Jahre Haft im falschen Film" liest.

    "Alle saßen schon auf ihren Plätzen. Mein jüngerer Bruder vielleicht sechs, sieben Jahre alt meinte: 'Da kommt ja unser Sechsenschreiber'. Ich setze mich, rechts neben unseren Herrn Vater, dem Kleinen gegenüber, und beschwere mich über dessen Frechheit. Ich bin sauer und beleidigt, da – wupp – die sogenannte väterliche Hand an meinem Hinterkopf und – platsch – mein Gesicht in der Suppe. Und die Mutter blinzelt stumm auf dem ganzen Tisch herum."

    Gerhard Roese sagt, dass er lange Zeit kein guter Schüler war. Sein Vater war im nationalsozialistischen Deutschland das Gegenteil gewesen. Als besonders begabt, wurde er auf die NAPOLA geschickt, die nationalsozialistische Erziehungsanstalt. Getreu Adolf Hitlers pädagogischem Ideal der Härte sollte er hier zur neuen Elite Deutschlands werden.

    "Die Umdressierung bestand darin, dass meinem Vater ein blinder Hass auf alles Schwächere eingeimpft wurde, ein pathologischer Hass auf alles Schwächere. Wobei er derjenige ist, der entscheidet, was schwach und was stark ist. Aber das war völlig willkürlich. Mein kleiner Bruder, der war kein bisschen anders. als ich und der galt als stark. Also, das war eine reine Projektion – hatte überhaupt nichts mit den Fakten zu tun."

    Als Kind konnte Gerhard Roese das allerdings noch nicht erkennen. Er fühlte sich nicht geliebt und ungerecht behandelt. Die Schuld dafür suchte er bei sich. Dass der Vater ihn so behandelte, hänge mit dem zusammen, was er selbst erlebt habe, erklärt der mönchengladbacher Psychologe und Psychoanalytiker Andreas Bachhofen:

    "Das ist jetzt nicht spezifisch die NS-Geschichte der Eltern, das ist halt immer die Geschichte der Eltern. Und es ist wichtig, diese zu kennen. Aber die NAPOLA-Kinder waren auch wieder traumatisiert. So eine NAPOLA-Erziehung, das ging sicherlich nicht spurlos an einem vorüber. Und es ist eine Form, mit Traumatisierung fertig zu werden, indem aus den Verfolgten die Verfolger werden. Also wo die Gewalterfahrung an die Kinder weiter geht."

    Die Gewalterfahrung der Eltern prägen damit auch deren Kinder. Das psychoanalytische Konzept dazu heißt "Transgenerationalen Weitergabe". Dahinter steht, dass Traumata, die nicht verarbeitet wurden, auch auf die Nachkommen wirken. In den 1960er-Jahren wurde das vor allem bei Kindern von Überlebenden des Holocaust fest gestellt. Der Kriegsenkel-Diskurs bezeichnet seit etwa zehn Jahren eine ähnliche Thematik. Allerdings werden hier die nationalsozialistischen Täter betrachtet.

    Nicht jeder, der im Nationalsozialismus groß wurde, ist zwingend traumatisiert worden. Nicht jeder war ein NAPOLA-Zögling oder verbrachte Nächte im Luftschutzbunker. Die Traumata unterscheiden sich also sehr. Weitergegeben werden sie aber über den gleichen Kanal: die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, sagt Bachhofen.

    "Das ist aber nicht so, dass man das weitergibt, wie einen Staffelstab oder sowas. Sondern das geht wirklich über die Beziehung. Weil die Kinder sind ja auf die Beziehung zu den Eltern angewiesen und das ist deren ganze Welt. Die dürfen bestimmte Sachen nicht ansprechen, müssen brav sein oder besonders abgehärtet sein, je nachdem. Und das ist so unerbittlich, weil es unbewusst passiert, dass da die Weitergabe erfolgt, ohne dass man das hinterfragen kann."

    Der Vater von Gerhard Roese ist bei Kriegsende ein Teenager gewesen. In der NAPOLA hatte er – wie Adolf Hitler es forderte – flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl werden sollen. Dieses nationalsozialistische Ideal hielt er vermutlich auch nach dem Krieg aufrecht. Die Psychoanalytikerin Angela Moré von der Leibniz Universität Hannover attestiert ihm eine stark deformierte Persönlichkeit. Diese habe er versucht, hinter der Maske von Wahrhaftigkeit und Kompetenz zu verbergen.

    "Gleichzeitig aber transportiert er in das Kind hinein etwas, das im Tiefsten seines Inneren in ihm selbst drin liegt. Das Gefühl, wie es sich anfühlt, klein wertlos, bedeutungslos, schwach, ohnmächtig, verlogen und so weiter zu fühlen. Und das Spannende bei der transgenerationalen Weitergabe ist: Das passiert nicht bewusst. Der Vater weiß nicht, warum er dieses Kind so hassen muss, warum er feindselig ist. Er deponiert es in diesem Kind und er bekämpft es dann in diesem Kind."

    Das wird von Psychoanalytikern Projektion genannt. Anteile der Persönlichkeit werden abgespalten und einem anderen zugeschrieben. So ist, wie Moré es ausdrückt, eine "Gefühlserbschaft" möglich. Die Kinder beginnen irgendwann, sich selbst negativ zu beurteilen. Sie glaube, dass das, was ihnen zugeschrieben wird, real ist. Was laut Moré zu massiven Störungen in der eigenen Entwicklung führt. Gerhard Roese war später Schüler der Heppenheimer Odenwaldschule. Hier wurde er von seinem Musiklehrer sexuell missbraucht. Das habe auch etwas damit zu, wie er erzogen wurde, sagt er.

    "Ich bin von zuhause aus darauf getrimmt worden, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt. Und ich wurde dazu erzogen, davon auszugehen, dass doch immer ich schuld bin und natürlich auch an allem, was mir passiert und das haben die Leute natürlich auch mir angemerkt. Also, das habe ich schon vor mir hergetragen. So eine gewisse Demutshaltung. Ich weiß nicht, das sind so Signale, Täter, die auf sowas abonniert sind, die riechen das."

    Gerhard Roeses Geschichte ist eine besondere Geschichte. Transgenerationale Weitergabe muss nicht zwingend bedeuten, dass Eltern ihre Kinder abwerten. Auch die Reaktion eines Vaters, der im Fernsehen eine Dokumentation über den Krieg schaut und bei der Aufnahme einer Luftschutzsirene nervös wird, könne bei seinen Kindern Ängsten auslösen, meint Angela Moré. Dennoch habe die Generation "Kriegsenkel" einen gemeinsamen Ausgangspunkt, meint die Psychoanalytikern.

    "Dass es ganz bestimmte für eine Altersschicht ähnliche Erfahrungen gibt, die sehr bestimmend waren, das macht eine Generation aus. Wie aber die Verarbeitungsweisen sind, die sind, zumindest gibt es da unterschiedliche Stränge. Also es sind die Grunderfahrungen, bestimmte Grundelemente der Erfahrung, die sind ähnlich, und die Verarbeitungsweisen sind differenziert – kein Einheitsbrei."

    Gerhard Roese sagt, er sei mittlerweile ausgestiegen aus dem falschen Film. Entscheidend war es für ihn, zu erkennen, dass der Vater ihm unrecht tat. Und warum er das tat. Die Teilnehmer der Tagung "Kinder der Kriegskinder" waren sich einig: Die Kategorie "Kriegsenkel" erleichtert es, einen Zugang zur Geschichte der Eltern zu bekommen. Andreas Bachhofen beschreibt, warum das wichtig ist:

    "Sonst wiederholt es sich, es geht dann weiter. Es heißt in der Bibel: 'Ich der Herr bin ein eifriger Gott und verfolge die Missetaten der Väter bis ins vierte und fünfte Glied'. Und das stimmt. Wenn man nicht dazwischen kommt."