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Die Kinderlein kommen wieder

Von einem vergreisenden, langsam aussterbenden Europa wurden viel berichtet - und davon, dass vor allem Akademikerinnen kaum mehr Kinder bekommen. Nun geben einige Demografen Entwarnung: In manchen Ländern lässt sich sogar ein Geburtenanstieg feststellen.

Von Inge Breuer |
    Ende 2009 hatte der Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, Joshua Goldstein mit anderen Wissenschaftlern einen Aufsatz über "das Ende des extremen Geburtenrückgangs" veröffentlicht. Daran anknüpfend mutmaßte der italienische Demografieprofessor Massimo Livi Bacci in seinem Abschlussvortrag auf der Rostocker Tagung optimistisch - möglicherweise könne man ja im Jahr 2020 sogar das "Ende des Geburtenrückgangs" überhaupt verkünden.

    Nanu, wundert sich da der Laie. Wurde nicht bislang von Demografen immer das Schreckensszenarium eines aussterbenden, vergreisenden Europas, eines schrumpfenden Deutschlands ausgemalt? Professor Michaela Kreyenfeld, Organisatorin der Rostocker Tagung:

    "Das ist auch ein bisschen eine neue Perspektive der Demografen. Mein früherer Chef, der hat auch noch ein Paper dazu geschrieben, also: Alle Länder sind auf dem Weg zur 'lowest low Fertility', zu sehr, sehr niedriger Fertilität und in keinem Land gibt es Anzeichen, dass es in eine andere Richtung geht. Und jetzt sehen wir plötzlich, es geht in den meisten Ländern doch wieder in eine andere Richtung. Ich habe gerade in einem Vortrag zu Frankreich gesehen, wie in Frankreich in den letzten Jahren die Fertilitätsziffern deutlich gestiegen sind."

    Die Zeiten "extrem niedriger Geburtenraten" von unter 1,3 Kindern pro Frau seien vorbei, so die Ergebnisse von Joshua Goldstein. Waren noch 2002 die Geburtenraten in vielen europäischen Ländern niedriger als 1,3, so unterschritt im Jahr 2008 nur noch Moldawien diese Marke. Besonders ausgeprägt war der Aufwärtstrend in Ostdeutschland zu bemerken: Stürzte die Geburtenrate dort im Jahr 1994, also kurz nach der Wende auf 0,77 Kinder pro Frau ab, so hat sich diese Zahl im Jahr 2008 auf 1,4 nahezu verdoppelt. In Westdeutschland allerdings stagniert die Geburtenrate nach wie vor. Hier liegt sie genau bei 1,38 Kindern pro Frau.

    "Und das ist die Frage, die wir uns stellen: Warum beobachten wir für viele Länder den Umschwung, aber für Deutschland nicht?"

    Möglicherweise spiegelt sich aber in den Zahlen der "extrem niedrigen Geburtenraten" ein sogenannter "Übergangseffekt": eine mathematische Verzerrung der Statistik, hervorgerufen dadurch, dass immer mehr Eltern ihre Kinder später bekommen.

    "Vielleicht fangen wir mit den 1,38 an, das ist ja die zusammengefasste Geburtenziffer, die wir für Deutschland haben. Und das ist eine jährliche Kennziffer, das ist nur ein Schätzwert, das ist keine tatsächliche Kinderzahl, weil Sie müssen eigentlich, um zu wissen, wie viele Kinder eine Frau bekommt, müssen Sie warten, bis eine Frau 45 oder sogar 50 ist. Und solange wollen wir nicht warten, sodass wir jedes Jahr Kennziffern berechnen, die das hochrechnen sollen, und diese Kennziffer liegt bei 1,4. Und diese Kennziffer ist aber gestört dadurch, wenn Frauen immer später das Kind bekommen. Und wir wissen, dass diese 1,4 Kinder in Deutschland zu niedrig sind, aufgrund dieser Verzerrung, die wir Tempoeffekte nennen."

    Der Tempoeffekt ergibt sich, wenn Frauen, wie in vielen Industrieländern seit den 70er-Jahren, Kinder später als vordem bekommen. Anschaulich gesprochen: Eine Gruppe von Frauen bekommt ihr erstes Kind mit 25 Jahren, die andere erst mit 35 Jahren. Dann ist für ein Jahrzehnt die durchschnittliche Bevölkerungszahl in der zweiten Gruppe geringer als in der ersten - obwohl die Frauen beider Gruppen gleichviele Kinder bekommen.

    "Es gibt keinen einzigen Frauenjahrgang in Deutschland, der 1,4 Kinder bekommen hat. Also, die Frauen, die heute 45 sind, die haben keine 1,4, die haben 1,5 oder 1,55 Kinder. Also es ist kein Jahrgang, der es bis jetzt nur auf 1,4 Kinder gebracht hat. Das heißt, wenn wir von 1,4 Kindern reden, dann ist die Frage, was ist mit den Jahrgängen, die noch nicht fertig sind, was erwarten wir von denen? Und da kann man noch was erwarten aufgrund der Tatsache, dass Frauen heute später ihr erstes und auch ihr zweites oder drittes Kind bekommen."

    Und so kommen die Rostocker Forscher zu einem erstaunlichen Fazit:

    "Da ist man sich einig, dass ein besserer Schätzwert für die Fertilität in Deutschland eigentlich 1,6 ist. Und dass sich langfristig die Fertilität in Deutschland eher wieder bei 1,6 [einpendelt], dass das wahrscheinlicher ist."

    Ebenso fraglich, so konnte man auf der Tagung erfahren, sind die Katastrophenmeldungen von annähernden 40 Prozent Akademikerinnen, die in Deutschland kinderlos bleiben. Katharina Maul, Soziologin an der Universität Bremen:

    "Bei den kinderlosen Akademikerinnen, da muss man bedenken, wann man die Grenze setzt. Wann guckt man, ist die Frau kinderlos geblieben oder nicht? Und man kann da verschiedene Grenzen setzen. Es war lange üblich, die Grenze bei 35 zu setzen. Da weiß man, das ist für Akademikerinnen viel zu früh. Dann hat man es auf 40 gesetzt, und auch da gibt es durchaus noch Akademikerinnen, die ihr erstes Kind nach 40 bekommen. Und jetzt ist es üblicherweise so, dass wir die Grenze bei 45 setzen. Das ist natürlich so, dass wir warten müssen, bis die Leute 45 geworden sind, bis wir wirklich wissen, ob sie kinderlos bleiben oder nicht."

    Erschwerend für die Schätzungen kinderlos bleibender Akademikerinnen ist auch noch das sogenannte Polarisierungsphänomen. Mandy Boehnke, Soziologin in Bremen:

    "Das trifft in erster Linie auf westdeutsche Akademikerinnen zu. Und die These ist hier, dass diese Frauen sich entweder entscheiden, keine Kinder zu bekommen, oder wenn sie sich für Kinder entscheiden, dann aber auch für zwei oder mehr. Also man findet gerade bei den Akademikerinnen, gerade wenn sie den Schritt gehen und sagen, ich möchte ein Kind, dass sie dann auch zwei oder mehr Kinder haben."

    Leichte Entwarnung also auch bei der Befürchtung, dass Akademikerinnen das Kinderkriegen demnächst den bildungsferneren Frauen überlassen?

    "Es gab lange Zeit mal die Zahl von 40 Prozent der arbeitslosen Akademikerinnen. Mittlerweile weiß man, das war überschätzt, das war geringer. Das liegt bei ungefähr 30 Prozent. Also sind es dann immer noch 70 Prozent, die dann aber eher zwei Kinder bekommen - oder mehr."

    Die Ergebnisse von Joshua Goldstein weisen aber auch darauf hin, dass es weniger familienpolitische Maßnahmen, sondern vor allem wirtschaftliche Faktoren sind, die die Geburtenraten steigen oder sinken lassen. In einigen Ländern wie in Spanien oder Polen wurden genau zu dem Zeitpunkt wieder mehr Babys geboren, als die Arbeitslosenzahlen zurückgingen. Und schlechte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt bewirkten das Gegenteil.

    Welche Auswirkungen die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise haben wird, lässt sich allerdings noch nicht prognostizieren, da die Daten der Rostocker Studie nur bis zum Jahr 2008 reichen. Fazit aber bisher:

    "Es ist einfach nicht ganz so dramatisch, wie das manchmal klang."

    Hoffentlich! Vielleicht ist es aber auch einfach so, wie Mark Twain schon vor über 100 Jahren erkannte: dass nämlich Prognosen schwierig sind, vor allem wenn sie sich in die Zukunft richten.