Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv


Die kleine Sekunde

Die kleine Sekunde aus dem Titel steht nicht für die Zeiteinheit, sondern für das musikalische Intervall: Vom Ton "b" zum Ton "h" ist es zum Beispiel ein solcher Halbtonschritt, also eine kleine Sekunde. Und genau so nah liegen auch die beiden Tonarten der Sonaten beieinander, die der Pianist Klaus Sticken eingespielt hat: Die b-Moll-Sonate von Julius Reubke und die h-Moll-Sonate von Franz Liszt.

Von Falk Häfner | 16.12.2007
    Spannung und Emphase, so wie sie die kleine Sekunde transportiert, findet sich in beiden Kompositionen.

  • h-Moll-Sonate (Liszt)

    So beginnt die berühmte h-Moll-Sonate von Franz Liszt, eines seiner bekanntesten Klavierwerke. Liszt versucht hier eine Synthese aus Fantasie und Sonatenhauptsatzform. Ein monumentales Werk, strotzend vor Dramatik, vor Kraft, aber gleichzeitig auch voll von melodisch-empfindsamen Momenten.

    Bis heute schlägt Liszts h-Moll-Sonate Pianisten in ihren Bann. Diese Faszination erlebte auch Julius Reubke. Er war ein Schüler von Franz Liszt und nur etwa drei Jahre nach der Uraufführung von dessen h-Moll-Sonate schrieb er, Reubke, 1856/57 selbst eine Klaviersonate, die nicht nur in ihrer halb rhapsodischen, halb dem Sonatenkodex verpflichteten Form, sondern auch in der Länge wie ein Schwesternwerk der Lisztschen Komposition wirkt. Und sie beginnt auch ganz ähnlich.

  • b-Moll-Sonate (Reubke)

    Julius Reubke - ein Epigone? Damit würde man dem Komponisten Unrecht tun. Natürlich orientiert er sich durchaus an seinem Lehrer Liszt und dessen Art zu komponieren. Und das ist auch kein Wunder. Denn wie Liszt in der h-Moll-Sonate aus einer einzigen Keimzelle das gesamte dramatische Geschehen entwickelt, wie er freie rhapsodische Elemente einbettet in den musikalischen Fortgang, das erscheint auch heute noch verwegen! So verwegen, dass es einen jungen Kompositionsstudenten wie Reubke einfach begeistern MUSSTE!

    Reubke galt als Lieblingsschüler von Franz Liszt im Kreise der Weimarer Studenten. Er war auf Empfehlung Hans von Bülows zu ihm gekommen; und die beiden Komponisten Liszt und Reubke verband - das ist aus den Werken Reubkes deutlich lesbar - ähnliches Denken und Fühlen. So sieht es auch Peter Cossé in seinem ausführlichen und hintergründigen Booklet-Text zu dieser neuen CD aus dem Hause Thorofo mit dem Pianisten Klaus Sticken. Er nennt Julius Reubke treffend "ein romantisches Schicksal". Denn Reubke wurde nur 24 Jahre alt. Vermutlich an Schwindsucht starb der hoffnungsvolle Komponist am 3. Juni 1858. Das belegt die Sterbeurkunde der kleinen Kirche "Maria am Wasser" in Pillnitz bei Dresden. "Lungenschlag" wird darin als Todesursache angegeben. Doch noch immer gibt es Spekulationen, ob es vielleicht doch ein Selbstmord gewesen sein könnte.

    Er, der aus der Orgelbauerfamilie Reubke aus dem Vorharz stammte, nahm zunächst Orgelunterricht bei Theodor Kullak in Berlin, bevor er zu Liszt nach Weimar wechselte. Geblieben sind neben seiner b-Moll-Sonate nur noch eine Orgelsonate und zwei Klavierstücke: Eine Mazurka und ein Scherzo; außerdem ein Trio für Orgel. Eine Ouvertüre, die im ersten Schülerkonzert des damals neugegründeten Berliner Konservatoriums aufgeführt wurde, ist nicht mehr erhalten.

    Vergleicht man nun die Sonaten von Liszt und Reubke, dann sind sie sich in ihrer Dramatik durchaus ebenbürtig. Im jeweils langsamen Mittelteil, da allerdings erscheint die Komposition von Reubke weniger pathetisch, dafür sanglicher und zurückgenommener, bevor sie sich wieder in gewaltige, vollgriffige Akkordfolgen aufschwingt. Reubke komponiert auffallend polyphon - anders als Liszt, der das dramatische Geschehen virtuos in den Vordergrund rückt. Dementsprechend wirkt Reubkes Sonate auch nicht als gewaltiger Weltenentwurf. Stellenweise hat sie sogar etwas Salonhaftes an sich. Und das lässt der Pianist Klaus Sticken elegant, aber nicht plakativ schillern:

  • "Andante sostenuto", aus: Sonate b-moll (Reubke)

    Der Pianist Klaus Sticken hat ein Faible für ausgefallenes Repertoire. Bei einem vorangegangenen CD-Projekt hat er sich den Werken von Arthur Honegger und Frank Martin gewidmet. Nun hat der 1966 Geborene mit der Kombination der h-Moll-Sonate von Liszt und der b-Moll-Sonate von Reubke erneut ein ungewöhnliches CD-Projekt vorgelegt; und er erweist sich auch hier als Künstler, der es mit den Gefahren dieser Kompositionen aufzunehmen weiß: Das Monumentale steigert er nicht bis ins Gigantische.

    Stattdessen begreift er die Partituren, wo angebracht, fast sachlich - etwa so, wie in der Fuge, die den dritten Teil der Liszt-Sonate einleitet. Klaus Sticken ist vorsichtig, was agogische Eingriffe angeht. Er verzichtet weitgehend auf wirkungssteigernde Verzögerungen oder Beschleunigungen. Stattdessen verlässt er sich auf die Kraft der Harmonik und die Steigerungen, die sich allein aus der Komposition heraus ergeben. Er nimmt der Liszt-Sonate das Schwülstige, Übertriebene, in dem er dem natürlichen Fluss der Musik vertraut. Wo angebracht, klingt sie vollmundig und kräftig unter Klaus Stickens Händen, jedoch nie hart oder brutal. Und die introvertieren Passagen nimmt Sticken mit einer erfreulichen Selbstverständlichkeit, ohne sie künstlich zu verzärteln.

  • Liszt-Sonate - Schluss

    Der Pianist Klaus Sticken mit der h-Moll-Sonate von Franz Liszt - diese Komposition hat Sticken auf seiner neuen, beim Label Thorophon erschienenen CD kombiniert mit der Klaviersonate von Julius Reubke, die in b-Moll steht. Nur eine kleine Sekunde trennt die beiden Werke, wenn man von den Tonarten 'h-Moll' und 'b -moll' ausgeht.

    Bleibt die Frage, warum Reubke als "Bruder im Geiste" nicht auch - wie Liszt - in h-Moll komponiert hat? Vielleicht steht dieser Halbtonschritt tiefer ja für das Bewusstsein Reubkes, tatsächlich eine Stufe unter Liszt zu stehen und ergeben zu ihm aufzublicken.

    Plattentitel: "Die Klaviersonaten”
    Komponisten: Franz Liszt / Julius Reubke
    Interpret: Klaus Sticken, Klavier
    (Thorofon CTH-24 89)