Die Schüler der Viktoriagrundschule in Essen Katernberg wissen es: In Katernberg wird schon lange nicht mehr allein Deutsch gesprochen.
Einwanderer aus anderen Ländern sind in Katernberg nichts neues. Als 1842 unweit des Dorfes der erste Schacht der Zeche Zollverein abgetäuft wurde, begann der erste große Zustrom an Arbeitsmigranten. Mit dem Ausbau des Bergbaus wuchs das 500 Seelen-Dorf rasch an. 1910 zählte der Essener Stadtteil Katernberg bereits 20.000 Einwohner. Das gesamte Ruhrgebiet verzehnfachte in dieser Zeit seine Einwohnerzahl. Karl-Heinz Rabas, ein ehemaliger Bergmann auf Zollverein, kennt sich aus in der Geschichte.
Und dann sind natürlich hier Einwohner in diese Gegend geströmt, teilweise waren das einige Tausend Einwohner pro Jahr. Das hat erhebliche soziale Probleme mitgebracht. Zunächst kamen die Leute aus dem Umfeld und dann hat man Werber losgeschickt, Leute anzuwerben in die östlichen Bereiche vor allen Dingen. Wir haben dann Masuren hier gehabt, Polen hier gehabt - und die sind zum großen Teil dann auch hier integriert worden. Ich weiß hier zum Beispiel aus den Kirchen, dass der evangelische Pfarrer seine Predigt auf Masurisch hielt.
In der zweiten und dritten Generation assimilierten sich die Polen und Masuren sprachlich und kulturell. Heute erinnern nur noch die Namen der Katlewskis, Schimanskis und Rutbarskis daran, dass ihre Vorfahren Migranten waren.
Die zweite Welle der Zuwanderer kam in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet. Mit dem Anwerben von Arbeitern aus Südeuropa und aus der Türkei wuchs die Bevölkerung des Ruhrgebietes noch einmal um etwa eine Million.
Die Zeche Zollverein hatte in den 60er Jahren annähernd 6.000 Beschäftigte. Auch für die neuen Arbeitsmigranten schien sicher, was für die alteingesessenen Katernberger wie Karl-Heinz Rabas ohnehin klar war:
Wir sind im hautnahen Kontakt mit der Zeche groß geworden und es war ne Selbstverständlichkeit, dass ich, wenn ich mit der Schule fertig bin, in den Bergbau gehe.
Das Zechensterben im Ruhrgebiet begann in den 60er Jahren. Die Zeche Zollverein in Katernberg mußte 1986 ihren Betrieb endgültig einstellen. Zwar ist die Zeche heute Weltkulturerbe und dient Tausenden Besuchern als Ausflugsziel im postindustriellen Ruhrgebiet. Doch von dem Wegfall von annähernd 6.000 Arbeitsplätzen auf Zollverein hat sich Katernberg bis heute nicht erholt. 10 Prozent der Bevölkerung sind offiziell arbeitslos, jeder sechste Katernberger ist von Sozialhilfe abhängig. Für Bessersituierte kommt Katernberg als Wohnort heute nicht in Frage. Helga Brüx arbeitet als Klassenlehrerin an der Viktoriagrundschule. Wohnen möchte sie jedoch nicht im Stadtteil.
Es wäre weniger der Ausländeranteil, der mich stören würde, sondern eher die krassen sozialen Probleme, die es vor allem in deutschen Familien auch gibt. Und das ist auch ein gewisses Bild, was man hier hat, auch oft Betrunkene, die da sitzen. Man weiß einfach, es ist abends hier nicht so sicher auf der Straße und das wäre nicht unbedingt ein Stadtteil, den ich mir aussuchen würde. Auch so an Angeboten hier, wenn ich mir überlege, wo könnte ich mal hier in die Kneipe gehen abends, um einfach mal einen Wein zu trinken. Das wär schon schwierig.
Viele, die eine Perspektive suchten, sind weggezogen. In den 90er Jahren verlor Katernberg fast 1.000 seiner 24.000 Einwohner. Geblieben sind in erster Linie die Migranten. Wenn heute noch jemand zuzieht in den Stadtteil, dann sind das Familien oder Alleinerziehende mit niedrigen Einkommen. Denn wohnen kann man günstig in Katernberg. Ein Großteil der Wohnungen war bisher in den Händen von öffentlichen Wohnungsbaugenossenschaften. Doch das änderte sich in den letzten Jahren. Die Veba verkaufte allein 800 ihrer Wohnungen in Katernberg. Damit verschärfte sich die soziale Unsicherheit im Stadtteil.
Das ist etwas, was ein absolutes Novum ist für das Ruhrgebiet. Das Ruhrgebiet hat Wohnung als Ware nicht gekannt. Es geht darum, dass Migranten und traditionelle Deutsche gemeinsam das Problem haben, dass ihr Haus verkauft worden ist. Das ist ein erhebliches Maß an Unsicherheit. Jede gesteigerte persönliche, biografische Unsicherheit fördert nicht die Bereitschaft und die Fähigkeit, geduldig, gelassen und tolerant mit anderen Gruppen im Stadtteil umzugehen. Also, sie heizt das Klima eher an.
Michael Preiss ist Mitarbeiter des Instituts für Stadtteil-bezogene Soziale Arbeit. Das Institut betreibt zwei Stadtteilläden in Katernberg und veranstaltet Bewohnerversammlungen. Auf diesen Versammlungen bekommt Michael Preiss mit, wo es im Stadtteil brennt. Oft sind es kleine Streitereien.
Die Hauptkonfliktpunkte sind vielfach Krach, die Kinder sind frech, die Kinder sind abends länger auf und sind nicht schon um 7 Uhr im Bett.
Die Konflikte entstehen in Katernberg nicht zwangsläufig zwischen den Gruppen, die am Küchentisch jeweils andere Sprachen sprechen, zwischen den so genannten Deutschen und den so genannten Türken. Streit gibt es genauso zwischen den jungen Türken und den alten Deutschen oder zwischen den jungen Türken und den alten Türken. Und viele resultieren aus der sozialen Situation in Katernberg.
Die türkischen Jugendlichen, die in der Zechensiedlung an der Straßenecke stehen, wenn die 1964 mit 17 Jahren auf die Zeche gekommen wären, dann gäbe es diese Probleme nicht. Das ist in manchen Migrantenfamilien ein ganz rabiater Konflikt, wo dann die ältere Generation zum Teil eben noch auf der Zeche arbeitet, und die Jugendlichen nicht morgens um 5 Uhr aufstehen, sondern vielleicht mal so um 14 Uhr.
Die Kinder der Menschen, die in den 60er Jahren als Arbeitskräfte gerufen wurden, gehen heute in Katernberg auf die Schule. Vor zwanzig Jahren hatte man die Kinder der Einwanderer in separaten Klassen unterrichtet. Erst später wurden die Klassen der deutschsprachigen und der fremdsprachigen Kinder wieder gemischt. Integration sieht in der städtischen Viktoriagrundschule heute anders aus. Eine Lehrerin der Schule:
Jetzt kann man fast schon sagen, die Deutschen werden in eine türkische Klasse integriert, weil 70 Prozent Türken sind und 30 Prozent dann nur noch Deutsche.
Andere Schulen im Stadtteil begrenzen den Anteil der Kinder der Migranten auf ein Viertel. Das hat zur Folge, dass überproportional viele dieser Kinder auf die städtische Viktoriaschule gehen, die eine solche Begrenzung nicht kennt. Doch nicht nur der Anteil von Migranten ist hoch. Herbert Garisch, der Schulleiter:
Also mit den türkischen Kindern in unserer Schule, bzw. mit deren Eltern sind die Probleme relativ gering. Probleme haben wir mit unseren wenigen deutschen Kindern, die eben aus sehr problematischen Familien kommen. Mir fällt nur auf, was unsere Schule betrifft, dass die Anzahl der Kinder aus sogenannten kaputten Familien, der nimmt ständig zu. Ein Drittel unserer Kinder sind Sozialhilfeempfänger - kann man etwa sagen. Also die Klientel ist recht schwierig.
Eine Konzentration von sozial schwachen Einwohnern und von Migranten, wie im heutigen Katernberg, ist kein Einzelfall im Ruhrgebiet. Paul Klemmer vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsforschungsinstitut hat vielmehr festgestellt, dass es bald viele Katernbergs im Ruhrgebiet geben wird.
Dann haben Sie eine Segregationstendenz, bei der die Wohlhabenden einen Stadtteil verlassen und plötzlich Leerstände, und dann verbleiben die Problemgruppen. Und dann haben Sie eine Entwicklung, wo die Ausländer zunehmen, die Deutschen abnehmen, und wir heute im Ruhrgebiet etwa 15 bis 18 Stadtbezirke haben, wo in 10 Jahren die Zahl der Ausländer größer sein wird als die Zahl der Deutschen und die Deutschen zur Minderheitengruppe werden.
Außerdem wird das Ruhrgebiet nach den Prognosen von Paul Klemmer in den kommenden 15 Jahren 400.000 Einwohner verlieren. Das ist die Bevölkerung der Stadt Duisburg und immerhin ein Sechstel der aktuellen Ruhrgebietsbevölkerung von etwa 5,5 Millionen. Die Folgen dieses Bevölkerungsrückgangs werden sein: Kaufkraftverluste in Millionenhöhe und Einnahmeverluste für die Kommunen.
Der Anteil der älteren Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung des Reviers wird im Jahr 2015 erheblich höher sein. Mit dieser Entwicklung ist das Ruhrgebiet anderen Ballungsräumen in Deutschland um 20 Jahre voraus. Im Revier spitzen sich früher als anderswo zwei Entwicklungen zu: die Abwanderung junger Menschen wegen des Mangels an Arbeitsplätzen. Und ein deutschlandweites Phänomen, denn ...
... die Neigung der Frauen, Kinder in die Welt zu setzen, ist gesunken von 2,1 auf 1,4. Bei 2,1 bleibt die Bevölkerung erhalten. Das heißt, wir bleiben unter dem Soll.
Viel ändern lässt sich an den beiden Faktoren für den Bevölkerungsrückgang im Ruhrgebiet aber auf die Schnelle ohnehin nicht. Die Geburtenraten werden auch mit einer neuen Familienpolitik nicht plötzlich erheblich ansteigen und die Bevölkerung verjüngen. Mit dem Altern der Gesellschaft befindet sich das Ruhrgebiet allerdings in bester Gesellschaft mit namhafteren Metropolen der Welt. Paul Rommelsbacher, Soziologe an der Universität Duisburg:
Es gibt eine ganz enge Korrelation zwischen der Entwicklung des Bruttosozialproduktes auf der einen Seite und Familiengröße auf der anderen Seite. Sie können in Malaysia, Sie können in Singapur, Sie können auf Taiwan und in Südkorea feststellen, dass in dem Maße, in dem die Gesellschaften reicher werden, auch reicher an Jobs, in denen die Frauen in die Arbeit eintreten, dass dann die Familien schrumpfen - auch bei denen, die nach Deutschland migriert sind. Die türkische Familie der dritten Generation hat maximal 2 Kinder.
Auch die Arbeitsmarktsituation im Revier wird sich nicht schlagartig verbessern lassen. Zwar entstehen neue Arbeitsplätze zum Beispiel im neuen Ruhrgebietstourismus. Aber es werden auf absehbare Zeit im Ruhrgebiet nie wieder so viele Menschen in Lohn und Brot stehen können wie 1965 in der Schwerindustrie.
Das Ruhrgebiet also auf verlorenem Posten? Stadtteile wie Katernberg in der Sackgasse? Das ist Ansichtssache. Paul Klemmers Empfehlung für Stadtteile wie Katernberg:
An vielen Stellen müssen Sie abreißen. Also Sie müssen verhindern, dass es zu der sozialen Segregation kommt.
Thomas Rommelsbacher sieht dagegen gar nicht so schwarz für den einstigen Bergmannsstadtteil.
Stadtteile mit hohem Migrantenanteil sind aus meiner Sicht die ökonomisch und sozial dynamischsten Stadtteile. Ich hab’ eher düstere und ängstliche Prognosen, wenn ich so an einige in Anführungszeichen rein deutschen Stadtteile denke. Wenn ich nach Duisburg-Marxloh gehe, wenn ich nach Essen- Katernberg gehe, und in viele andere Ecken des Ruhrgebietes, dann erlebe ich eine Bevölkerung, gerade eine Migrantenbevölkerung, die sehr aktiv ist, die Arbeitsplätze schafft, die Häuser kauft, die ihre eigene Kultur entfaltet und zwar durchaus auf eine für uns Deutsche interessante Art und Weise. Also, wer das als Problem ansieht, der ist wirklich falsch gebettet aus meiner Sicht.
Migration prägte die Vergangenheit des Ruhrgebietes, - und auch Professor Klemmer vom RWI kam zu dem Schluss, dass Migration möglicherweise auch die Zukunft des Ruhrgebiets sein wird – um die Alterung des einstigen Industriereviers zu mildern:
Wenn Sie es einmal durchrechnen, wie viele Menschen Sie brauchen, um die Altersstruktur zu erhalten oder auch signifikant die Bevölkerungsschrumpfung zu stoppen, kommen Sie für diesen Raum zu jährlichen Zuwanderungen, die per Saldo über 200 bis 300.000 Einwohnern liegen.
Um die Alterung des Ruhrgebiet zu mildern, gibt es – da sind sich alle Experten einig - nur eine Möglichkeit: erneut müssten Menschen einwandern. Paul Klemmer vom RWI schlägt vor, in den kommenden Jahren bis zu 200.000 Menschen ins Revier zu holen –Natürlich sollen es junge und gut ausgebildete Migranten sein, wie sie auch die Wirtschaft fordert. Wie auch immer die tatsächlichen Einwanderer von Morgen aussehen werden, - die Frage ihrer politischen Mitsprache in den Städten stellt sich bereits heute. Peter Rommelsbacher glaubt sogar, dass ....
... viele Stadtteile, gerade im nördlichen Ruhrgebiet, drohen demokratiefreie Zonen zu werden, weil 30, 40 manchmal 50 Prozent der aktiven Bevölkerung gar nicht wählen dürfen zum Beispiel. Ich war jetzt vor 2 Jahren mal in London. Da sind manche Stadtteile fest in Pakistanischer Hand, bis hin zu den Räten. Da kommt man in die Räte, und da hocken überwiegend Leute mit Kalabia und Turban und gestalten ihre Stadtteile nach ihren Bedürfnissen um. Und das finde ich eine wesentlich bessere Situation als bei uns, wo Bezirksvertretungen, die also von verbitterten älteren Deutschen geprägt werden, also im Grunde versuchen, Bauverbote gegen Moscheen zu erlassen und so lokale kulturelle Kleinkriege vom Zaun brechen.
Stadtteile wie Katernberg zeigen deutlich: die Migranten aus der Türkei und ihre Kinder werden sich nicht derart assimilieren, wie es die Polen und Masuren im vergangenen Jahrhundert getan haben. Vielmehr stellt ihr besonderer kultureller und sprachlicher Hintergrund ganz neue Anforderungen an die Institutionen im Ruhrgebiet. Denn den sprachlichen, kommunikativen Fähigkeiten kommen in einem vielsprachigen Stadtteil besondere Bedeutung zu.
Früher war das halt so, wenn in der Zechesiedlung der Sohn des einen Mieters dem anderen die Birnen geklaut hat, dann sagte dem mal eben der Vater Bescheid und dann war Ruhe. Diese Kommunikationsdichte zwischen Migrantenfamilien und deutschen Mietern ist in vielen Fällen nicht so. Also es ist oft so, dass man sich da nicht traut dahin zu gehen.
Bei vielen Kindern mehrsprachiger Familien zeigen sich heute Sprachschwächen. Denn wer als Kind seine Muttersprache nicht richtig gelernt hat, kommt auch mit der Zweitsprache schwer zurecht. Cemil Ylmaz, ein türkischer Lehrer an der Viktoriaschule, beobachtet im Sprechalltag seiner Schüler einen ganz besonderen Slang.
Bei den türkischen Kindern stellen wir jedes Jahr auch mehr fest, dass die Sprachkenntnisse auch im türkischen Bereich, im Muttersprachenbereich immer geringer werden. Die Kinder wissen eben nicht genau, in welcher Sprache sie sich besser ausdrücken können. Manchmal greifen sie mitten im Satz, wenn sie einen Satz türkisch angefangen haben, einen deutschen Begriff hinein, weil sie den Begriff in der türkischen Sprache von den Eltern nicht gehört haben. Und diese Sprachlosigkeit in beiden Sprachen – aber mehr in Deutsch - nimmt zu.
An der Viktoriaschule werden die sprachschwachen Schüler daher seit drei Jahren gezielt unterstützt. Schubile - Schule Bilinguales Lernen - nennt sich das Projekt, mit dem die Lehrer das Problem der Sprachlosigkeit in zwei Sprachen angehen. Jeder ersten Klasse steht neben dem deutschen Klassenlehrer ein türkischer Kollege zur Seite, der bei Verständnisproblemen der Schüler einspringt. Damit wird nicht einfach nur die deutsche Sprache der Kinder gefördert, sondern es wird gezielt ihre Zweisprachigkeit unterstützt. Rektor Garisch zeigt sich zufrieden mit dem Verlauf des Projektes:
Ob sich die verbesserten Deutschkenntnisse am Ende der vierten Klasse zeigen werden, - es ist zu vermuten, denn die Erfahrungen, die wir bisher in den drei Jahren gemacht haben, sind mehr als positiv.
Schubile verbesserte aber nicht nur die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen. Das Projekt führte auch zu Lernerfolgen, die sich nicht unbedingt in den Zeugnissen niederschlagen. Klassenlehrer Klaus Bertram stellt überraschende Veränderungen fest bei seinen Schülern, - insbesondere aber bei seinen Schülerinnen.
Was mir sehr stark aufgefallen ist, sehr stark auch so im Bereich der Persönlichkeitsfindung, dass ich also doch Kinder in der Klasse habe, gerade auch so z.B. türkische Mädchen, die sehr selbstbewusst sind. Und ich glaube, dass hat damit auch zu tun, dass die von Anfang an auch in ihrer Sprache auch so ernst genommen werden. Weil sonst kenne ich es zumindest aus vielen anderen Klassen, dass aber häufig dann gerade türkische Mädchen häufig sehr zurückgezogen sind, sehr still.
Zwischenfunken bei der Emanzipation der Mädchen können allenfalls die Eltern der Kinder. Manche türkischen Väter zum Beispiel würden ihren Töchtern lieber verbieten, am schulischen Schwimmunterricht teilzunehmen. Doch auch derartige Auseinandersetzungen nehmen die Lehrer und Lehrerinnen der Viktoriaschule als Herausforderung. Auch bei den Eltern lassen sich pädagogische Erfolge erringen, wie Klassenlehrerin Helga Brüx weiß:
Es gab z.B. den Wunsch eines Vaters, dass seine Tochter nur mit türkischen Mädchen auf ein Zimmer sollte. Das habe ich dann aber mit ihm besprochen und er hat dann das auch zurückgenommen.
Lernen müssen in Stadtteilen wie Katernberg aber mitnichten nur die Zugewanderten. Dies zeigte sich, als vor 5 Jahren die Pläne zum Neubau einer Moschee öffentlich wurden. Die Moschee steht inzwischen am Ortseingang von Katernberg und dient nicht nur als Gebetsraum, sondern auch als soziokulturelles Zentrum. Für einige Katernberger war das nicht einfach zu akzeptieren.
Die Heftigkeit bei einigen Menschen, das zu akzeptieren, dass eine Moschee da gebaut wurde, die hatte was damit zu tun, dass es sicher eine Reihe von Leuten gibt, die mit der Vorstellung oder mit der Hoffnung im Hinterkopf durch den Stadtteil laufen, eines Morgens mache ich die Augen auf und die Türken sind weg. Und wenn da son Minarett steht und so ne Kuppel steht, werde ich jedesmal daran erinnert, die gehen nicht weg, sondern die bleiben dauerhaft hier.
Sollte sich das Ruhrgebiet trauen, erneut Zuwanderer aufzunehmen, dann wird es neben der Kirche im Dorf wohl bald noch andere kulturelle Angebote geben - in Katernberg und anderswo. Denn die 200.000 Zuwanderer, die das alte Ruhrgebiet verjüngen könnten, werden wohl kaum aus dem Sauerland kommen, sondern eher aus Rumänien oder - wie schon vor 150 Jahren - aus Polen.
Einstweilen stellt man sich im Ruhrgebiet aber weniger auf Zuwanderer als auf Wanderer, auf Touristen sein. Der Ruhrgebietstourismus wird auch in Katernberg als Symbol des Strukturwandels hervorgehoben. Die Zeche Zollverein mit ihrer bemerkenswerten Architektur der 30er Jahre dient nicht mehr als Arbeitgeberin für Bergleute, sondern als Attraktion für Besucher aus aller Welt. Auch das bringt bemerkenswerte Neuerungen in den Stadtteil.
Es gibt inzwischen zwei Dutzend Anbieter, die Bed & Breakfast anbieten, also Übernachtungsmöglichkeiten. Wenn das vor 15 Jahren oder vor zehn Jahren jemand gemacht hätte, den hätten sie in die Klapse gebracht. Das ist heute völlig normal.
Eine halbe Millionen Besucher sollen es im vergangenen Jahr gewesen sein, die die Ausstellungsräume der Zeche besuchten, die 150 Jahre lang den Stadtteil prägten. Dass jemand auf den Gedanken kam, sich in Katernberg niederzulassen, ist bisher nicht bekannt geworden.
Einwanderer aus anderen Ländern sind in Katernberg nichts neues. Als 1842 unweit des Dorfes der erste Schacht der Zeche Zollverein abgetäuft wurde, begann der erste große Zustrom an Arbeitsmigranten. Mit dem Ausbau des Bergbaus wuchs das 500 Seelen-Dorf rasch an. 1910 zählte der Essener Stadtteil Katernberg bereits 20.000 Einwohner. Das gesamte Ruhrgebiet verzehnfachte in dieser Zeit seine Einwohnerzahl. Karl-Heinz Rabas, ein ehemaliger Bergmann auf Zollverein, kennt sich aus in der Geschichte.
Und dann sind natürlich hier Einwohner in diese Gegend geströmt, teilweise waren das einige Tausend Einwohner pro Jahr. Das hat erhebliche soziale Probleme mitgebracht. Zunächst kamen die Leute aus dem Umfeld und dann hat man Werber losgeschickt, Leute anzuwerben in die östlichen Bereiche vor allen Dingen. Wir haben dann Masuren hier gehabt, Polen hier gehabt - und die sind zum großen Teil dann auch hier integriert worden. Ich weiß hier zum Beispiel aus den Kirchen, dass der evangelische Pfarrer seine Predigt auf Masurisch hielt.
In der zweiten und dritten Generation assimilierten sich die Polen und Masuren sprachlich und kulturell. Heute erinnern nur noch die Namen der Katlewskis, Schimanskis und Rutbarskis daran, dass ihre Vorfahren Migranten waren.
Die zweite Welle der Zuwanderer kam in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet. Mit dem Anwerben von Arbeitern aus Südeuropa und aus der Türkei wuchs die Bevölkerung des Ruhrgebietes noch einmal um etwa eine Million.
Die Zeche Zollverein hatte in den 60er Jahren annähernd 6.000 Beschäftigte. Auch für die neuen Arbeitsmigranten schien sicher, was für die alteingesessenen Katernberger wie Karl-Heinz Rabas ohnehin klar war:
Wir sind im hautnahen Kontakt mit der Zeche groß geworden und es war ne Selbstverständlichkeit, dass ich, wenn ich mit der Schule fertig bin, in den Bergbau gehe.
Das Zechensterben im Ruhrgebiet begann in den 60er Jahren. Die Zeche Zollverein in Katernberg mußte 1986 ihren Betrieb endgültig einstellen. Zwar ist die Zeche heute Weltkulturerbe und dient Tausenden Besuchern als Ausflugsziel im postindustriellen Ruhrgebiet. Doch von dem Wegfall von annähernd 6.000 Arbeitsplätzen auf Zollverein hat sich Katernberg bis heute nicht erholt. 10 Prozent der Bevölkerung sind offiziell arbeitslos, jeder sechste Katernberger ist von Sozialhilfe abhängig. Für Bessersituierte kommt Katernberg als Wohnort heute nicht in Frage. Helga Brüx arbeitet als Klassenlehrerin an der Viktoriagrundschule. Wohnen möchte sie jedoch nicht im Stadtteil.
Es wäre weniger der Ausländeranteil, der mich stören würde, sondern eher die krassen sozialen Probleme, die es vor allem in deutschen Familien auch gibt. Und das ist auch ein gewisses Bild, was man hier hat, auch oft Betrunkene, die da sitzen. Man weiß einfach, es ist abends hier nicht so sicher auf der Straße und das wäre nicht unbedingt ein Stadtteil, den ich mir aussuchen würde. Auch so an Angeboten hier, wenn ich mir überlege, wo könnte ich mal hier in die Kneipe gehen abends, um einfach mal einen Wein zu trinken. Das wär schon schwierig.
Viele, die eine Perspektive suchten, sind weggezogen. In den 90er Jahren verlor Katernberg fast 1.000 seiner 24.000 Einwohner. Geblieben sind in erster Linie die Migranten. Wenn heute noch jemand zuzieht in den Stadtteil, dann sind das Familien oder Alleinerziehende mit niedrigen Einkommen. Denn wohnen kann man günstig in Katernberg. Ein Großteil der Wohnungen war bisher in den Händen von öffentlichen Wohnungsbaugenossenschaften. Doch das änderte sich in den letzten Jahren. Die Veba verkaufte allein 800 ihrer Wohnungen in Katernberg. Damit verschärfte sich die soziale Unsicherheit im Stadtteil.
Das ist etwas, was ein absolutes Novum ist für das Ruhrgebiet. Das Ruhrgebiet hat Wohnung als Ware nicht gekannt. Es geht darum, dass Migranten und traditionelle Deutsche gemeinsam das Problem haben, dass ihr Haus verkauft worden ist. Das ist ein erhebliches Maß an Unsicherheit. Jede gesteigerte persönliche, biografische Unsicherheit fördert nicht die Bereitschaft und die Fähigkeit, geduldig, gelassen und tolerant mit anderen Gruppen im Stadtteil umzugehen. Also, sie heizt das Klima eher an.
Michael Preiss ist Mitarbeiter des Instituts für Stadtteil-bezogene Soziale Arbeit. Das Institut betreibt zwei Stadtteilläden in Katernberg und veranstaltet Bewohnerversammlungen. Auf diesen Versammlungen bekommt Michael Preiss mit, wo es im Stadtteil brennt. Oft sind es kleine Streitereien.
Die Hauptkonfliktpunkte sind vielfach Krach, die Kinder sind frech, die Kinder sind abends länger auf und sind nicht schon um 7 Uhr im Bett.
Die Konflikte entstehen in Katernberg nicht zwangsläufig zwischen den Gruppen, die am Küchentisch jeweils andere Sprachen sprechen, zwischen den so genannten Deutschen und den so genannten Türken. Streit gibt es genauso zwischen den jungen Türken und den alten Deutschen oder zwischen den jungen Türken und den alten Türken. Und viele resultieren aus der sozialen Situation in Katernberg.
Die türkischen Jugendlichen, die in der Zechensiedlung an der Straßenecke stehen, wenn die 1964 mit 17 Jahren auf die Zeche gekommen wären, dann gäbe es diese Probleme nicht. Das ist in manchen Migrantenfamilien ein ganz rabiater Konflikt, wo dann die ältere Generation zum Teil eben noch auf der Zeche arbeitet, und die Jugendlichen nicht morgens um 5 Uhr aufstehen, sondern vielleicht mal so um 14 Uhr.
Die Kinder der Menschen, die in den 60er Jahren als Arbeitskräfte gerufen wurden, gehen heute in Katernberg auf die Schule. Vor zwanzig Jahren hatte man die Kinder der Einwanderer in separaten Klassen unterrichtet. Erst später wurden die Klassen der deutschsprachigen und der fremdsprachigen Kinder wieder gemischt. Integration sieht in der städtischen Viktoriagrundschule heute anders aus. Eine Lehrerin der Schule:
Jetzt kann man fast schon sagen, die Deutschen werden in eine türkische Klasse integriert, weil 70 Prozent Türken sind und 30 Prozent dann nur noch Deutsche.
Andere Schulen im Stadtteil begrenzen den Anteil der Kinder der Migranten auf ein Viertel. Das hat zur Folge, dass überproportional viele dieser Kinder auf die städtische Viktoriaschule gehen, die eine solche Begrenzung nicht kennt. Doch nicht nur der Anteil von Migranten ist hoch. Herbert Garisch, der Schulleiter:
Also mit den türkischen Kindern in unserer Schule, bzw. mit deren Eltern sind die Probleme relativ gering. Probleme haben wir mit unseren wenigen deutschen Kindern, die eben aus sehr problematischen Familien kommen. Mir fällt nur auf, was unsere Schule betrifft, dass die Anzahl der Kinder aus sogenannten kaputten Familien, der nimmt ständig zu. Ein Drittel unserer Kinder sind Sozialhilfeempfänger - kann man etwa sagen. Also die Klientel ist recht schwierig.
Eine Konzentration von sozial schwachen Einwohnern und von Migranten, wie im heutigen Katernberg, ist kein Einzelfall im Ruhrgebiet. Paul Klemmer vom Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsforschungsinstitut hat vielmehr festgestellt, dass es bald viele Katernbergs im Ruhrgebiet geben wird.
Dann haben Sie eine Segregationstendenz, bei der die Wohlhabenden einen Stadtteil verlassen und plötzlich Leerstände, und dann verbleiben die Problemgruppen. Und dann haben Sie eine Entwicklung, wo die Ausländer zunehmen, die Deutschen abnehmen, und wir heute im Ruhrgebiet etwa 15 bis 18 Stadtbezirke haben, wo in 10 Jahren die Zahl der Ausländer größer sein wird als die Zahl der Deutschen und die Deutschen zur Minderheitengruppe werden.
Außerdem wird das Ruhrgebiet nach den Prognosen von Paul Klemmer in den kommenden 15 Jahren 400.000 Einwohner verlieren. Das ist die Bevölkerung der Stadt Duisburg und immerhin ein Sechstel der aktuellen Ruhrgebietsbevölkerung von etwa 5,5 Millionen. Die Folgen dieses Bevölkerungsrückgangs werden sein: Kaufkraftverluste in Millionenhöhe und Einnahmeverluste für die Kommunen.
Der Anteil der älteren Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung des Reviers wird im Jahr 2015 erheblich höher sein. Mit dieser Entwicklung ist das Ruhrgebiet anderen Ballungsräumen in Deutschland um 20 Jahre voraus. Im Revier spitzen sich früher als anderswo zwei Entwicklungen zu: die Abwanderung junger Menschen wegen des Mangels an Arbeitsplätzen. Und ein deutschlandweites Phänomen, denn ...
... die Neigung der Frauen, Kinder in die Welt zu setzen, ist gesunken von 2,1 auf 1,4. Bei 2,1 bleibt die Bevölkerung erhalten. Das heißt, wir bleiben unter dem Soll.
Viel ändern lässt sich an den beiden Faktoren für den Bevölkerungsrückgang im Ruhrgebiet aber auf die Schnelle ohnehin nicht. Die Geburtenraten werden auch mit einer neuen Familienpolitik nicht plötzlich erheblich ansteigen und die Bevölkerung verjüngen. Mit dem Altern der Gesellschaft befindet sich das Ruhrgebiet allerdings in bester Gesellschaft mit namhafteren Metropolen der Welt. Paul Rommelsbacher, Soziologe an der Universität Duisburg:
Es gibt eine ganz enge Korrelation zwischen der Entwicklung des Bruttosozialproduktes auf der einen Seite und Familiengröße auf der anderen Seite. Sie können in Malaysia, Sie können in Singapur, Sie können auf Taiwan und in Südkorea feststellen, dass in dem Maße, in dem die Gesellschaften reicher werden, auch reicher an Jobs, in denen die Frauen in die Arbeit eintreten, dass dann die Familien schrumpfen - auch bei denen, die nach Deutschland migriert sind. Die türkische Familie der dritten Generation hat maximal 2 Kinder.
Auch die Arbeitsmarktsituation im Revier wird sich nicht schlagartig verbessern lassen. Zwar entstehen neue Arbeitsplätze zum Beispiel im neuen Ruhrgebietstourismus. Aber es werden auf absehbare Zeit im Ruhrgebiet nie wieder so viele Menschen in Lohn und Brot stehen können wie 1965 in der Schwerindustrie.
Das Ruhrgebiet also auf verlorenem Posten? Stadtteile wie Katernberg in der Sackgasse? Das ist Ansichtssache. Paul Klemmers Empfehlung für Stadtteile wie Katernberg:
An vielen Stellen müssen Sie abreißen. Also Sie müssen verhindern, dass es zu der sozialen Segregation kommt.
Thomas Rommelsbacher sieht dagegen gar nicht so schwarz für den einstigen Bergmannsstadtteil.
Stadtteile mit hohem Migrantenanteil sind aus meiner Sicht die ökonomisch und sozial dynamischsten Stadtteile. Ich hab’ eher düstere und ängstliche Prognosen, wenn ich so an einige in Anführungszeichen rein deutschen Stadtteile denke. Wenn ich nach Duisburg-Marxloh gehe, wenn ich nach Essen- Katernberg gehe, und in viele andere Ecken des Ruhrgebietes, dann erlebe ich eine Bevölkerung, gerade eine Migrantenbevölkerung, die sehr aktiv ist, die Arbeitsplätze schafft, die Häuser kauft, die ihre eigene Kultur entfaltet und zwar durchaus auf eine für uns Deutsche interessante Art und Weise. Also, wer das als Problem ansieht, der ist wirklich falsch gebettet aus meiner Sicht.
Migration prägte die Vergangenheit des Ruhrgebietes, - und auch Professor Klemmer vom RWI kam zu dem Schluss, dass Migration möglicherweise auch die Zukunft des Ruhrgebiets sein wird – um die Alterung des einstigen Industriereviers zu mildern:
Wenn Sie es einmal durchrechnen, wie viele Menschen Sie brauchen, um die Altersstruktur zu erhalten oder auch signifikant die Bevölkerungsschrumpfung zu stoppen, kommen Sie für diesen Raum zu jährlichen Zuwanderungen, die per Saldo über 200 bis 300.000 Einwohnern liegen.
Um die Alterung des Ruhrgebiet zu mildern, gibt es – da sind sich alle Experten einig - nur eine Möglichkeit: erneut müssten Menschen einwandern. Paul Klemmer vom RWI schlägt vor, in den kommenden Jahren bis zu 200.000 Menschen ins Revier zu holen –Natürlich sollen es junge und gut ausgebildete Migranten sein, wie sie auch die Wirtschaft fordert. Wie auch immer die tatsächlichen Einwanderer von Morgen aussehen werden, - die Frage ihrer politischen Mitsprache in den Städten stellt sich bereits heute. Peter Rommelsbacher glaubt sogar, dass ....
... viele Stadtteile, gerade im nördlichen Ruhrgebiet, drohen demokratiefreie Zonen zu werden, weil 30, 40 manchmal 50 Prozent der aktiven Bevölkerung gar nicht wählen dürfen zum Beispiel. Ich war jetzt vor 2 Jahren mal in London. Da sind manche Stadtteile fest in Pakistanischer Hand, bis hin zu den Räten. Da kommt man in die Räte, und da hocken überwiegend Leute mit Kalabia und Turban und gestalten ihre Stadtteile nach ihren Bedürfnissen um. Und das finde ich eine wesentlich bessere Situation als bei uns, wo Bezirksvertretungen, die also von verbitterten älteren Deutschen geprägt werden, also im Grunde versuchen, Bauverbote gegen Moscheen zu erlassen und so lokale kulturelle Kleinkriege vom Zaun brechen.
Stadtteile wie Katernberg zeigen deutlich: die Migranten aus der Türkei und ihre Kinder werden sich nicht derart assimilieren, wie es die Polen und Masuren im vergangenen Jahrhundert getan haben. Vielmehr stellt ihr besonderer kultureller und sprachlicher Hintergrund ganz neue Anforderungen an die Institutionen im Ruhrgebiet. Denn den sprachlichen, kommunikativen Fähigkeiten kommen in einem vielsprachigen Stadtteil besondere Bedeutung zu.
Früher war das halt so, wenn in der Zechesiedlung der Sohn des einen Mieters dem anderen die Birnen geklaut hat, dann sagte dem mal eben der Vater Bescheid und dann war Ruhe. Diese Kommunikationsdichte zwischen Migrantenfamilien und deutschen Mietern ist in vielen Fällen nicht so. Also es ist oft so, dass man sich da nicht traut dahin zu gehen.
Bei vielen Kindern mehrsprachiger Familien zeigen sich heute Sprachschwächen. Denn wer als Kind seine Muttersprache nicht richtig gelernt hat, kommt auch mit der Zweitsprache schwer zurecht. Cemil Ylmaz, ein türkischer Lehrer an der Viktoriaschule, beobachtet im Sprechalltag seiner Schüler einen ganz besonderen Slang.
Bei den türkischen Kindern stellen wir jedes Jahr auch mehr fest, dass die Sprachkenntnisse auch im türkischen Bereich, im Muttersprachenbereich immer geringer werden. Die Kinder wissen eben nicht genau, in welcher Sprache sie sich besser ausdrücken können. Manchmal greifen sie mitten im Satz, wenn sie einen Satz türkisch angefangen haben, einen deutschen Begriff hinein, weil sie den Begriff in der türkischen Sprache von den Eltern nicht gehört haben. Und diese Sprachlosigkeit in beiden Sprachen – aber mehr in Deutsch - nimmt zu.
An der Viktoriaschule werden die sprachschwachen Schüler daher seit drei Jahren gezielt unterstützt. Schubile - Schule Bilinguales Lernen - nennt sich das Projekt, mit dem die Lehrer das Problem der Sprachlosigkeit in zwei Sprachen angehen. Jeder ersten Klasse steht neben dem deutschen Klassenlehrer ein türkischer Kollege zur Seite, der bei Verständnisproblemen der Schüler einspringt. Damit wird nicht einfach nur die deutsche Sprache der Kinder gefördert, sondern es wird gezielt ihre Zweisprachigkeit unterstützt. Rektor Garisch zeigt sich zufrieden mit dem Verlauf des Projektes:
Ob sich die verbesserten Deutschkenntnisse am Ende der vierten Klasse zeigen werden, - es ist zu vermuten, denn die Erfahrungen, die wir bisher in den drei Jahren gemacht haben, sind mehr als positiv.
Schubile verbesserte aber nicht nur die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen. Das Projekt führte auch zu Lernerfolgen, die sich nicht unbedingt in den Zeugnissen niederschlagen. Klassenlehrer Klaus Bertram stellt überraschende Veränderungen fest bei seinen Schülern, - insbesondere aber bei seinen Schülerinnen.
Was mir sehr stark aufgefallen ist, sehr stark auch so im Bereich der Persönlichkeitsfindung, dass ich also doch Kinder in der Klasse habe, gerade auch so z.B. türkische Mädchen, die sehr selbstbewusst sind. Und ich glaube, dass hat damit auch zu tun, dass die von Anfang an auch in ihrer Sprache auch so ernst genommen werden. Weil sonst kenne ich es zumindest aus vielen anderen Klassen, dass aber häufig dann gerade türkische Mädchen häufig sehr zurückgezogen sind, sehr still.
Zwischenfunken bei der Emanzipation der Mädchen können allenfalls die Eltern der Kinder. Manche türkischen Väter zum Beispiel würden ihren Töchtern lieber verbieten, am schulischen Schwimmunterricht teilzunehmen. Doch auch derartige Auseinandersetzungen nehmen die Lehrer und Lehrerinnen der Viktoriaschule als Herausforderung. Auch bei den Eltern lassen sich pädagogische Erfolge erringen, wie Klassenlehrerin Helga Brüx weiß:
Es gab z.B. den Wunsch eines Vaters, dass seine Tochter nur mit türkischen Mädchen auf ein Zimmer sollte. Das habe ich dann aber mit ihm besprochen und er hat dann das auch zurückgenommen.
Lernen müssen in Stadtteilen wie Katernberg aber mitnichten nur die Zugewanderten. Dies zeigte sich, als vor 5 Jahren die Pläne zum Neubau einer Moschee öffentlich wurden. Die Moschee steht inzwischen am Ortseingang von Katernberg und dient nicht nur als Gebetsraum, sondern auch als soziokulturelles Zentrum. Für einige Katernberger war das nicht einfach zu akzeptieren.
Die Heftigkeit bei einigen Menschen, das zu akzeptieren, dass eine Moschee da gebaut wurde, die hatte was damit zu tun, dass es sicher eine Reihe von Leuten gibt, die mit der Vorstellung oder mit der Hoffnung im Hinterkopf durch den Stadtteil laufen, eines Morgens mache ich die Augen auf und die Türken sind weg. Und wenn da son Minarett steht und so ne Kuppel steht, werde ich jedesmal daran erinnert, die gehen nicht weg, sondern die bleiben dauerhaft hier.
Sollte sich das Ruhrgebiet trauen, erneut Zuwanderer aufzunehmen, dann wird es neben der Kirche im Dorf wohl bald noch andere kulturelle Angebote geben - in Katernberg und anderswo. Denn die 200.000 Zuwanderer, die das alte Ruhrgebiet verjüngen könnten, werden wohl kaum aus dem Sauerland kommen, sondern eher aus Rumänien oder - wie schon vor 150 Jahren - aus Polen.
Einstweilen stellt man sich im Ruhrgebiet aber weniger auf Zuwanderer als auf Wanderer, auf Touristen sein. Der Ruhrgebietstourismus wird auch in Katernberg als Symbol des Strukturwandels hervorgehoben. Die Zeche Zollverein mit ihrer bemerkenswerten Architektur der 30er Jahre dient nicht mehr als Arbeitgeberin für Bergleute, sondern als Attraktion für Besucher aus aller Welt. Auch das bringt bemerkenswerte Neuerungen in den Stadtteil.
Es gibt inzwischen zwei Dutzend Anbieter, die Bed & Breakfast anbieten, also Übernachtungsmöglichkeiten. Wenn das vor 15 Jahren oder vor zehn Jahren jemand gemacht hätte, den hätten sie in die Klapse gebracht. Das ist heute völlig normal.
Eine halbe Millionen Besucher sollen es im vergangenen Jahr gewesen sein, die die Ausstellungsräume der Zeche besuchten, die 150 Jahre lang den Stadtteil prägten. Dass jemand auf den Gedanken kam, sich in Katernberg niederzulassen, ist bisher nicht bekannt geworden.