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Die Königin der Kristalle

An einem einzigen Molekül 35 Jahre lang zu forschen, ist selbst in der Welt der Wissenschaft rekordverdächtig. Die britische Chemikerin Dorothy Crowfoot Hodgkin gab nicht auf, bevor sie 1969 endlich heraus hatte, wie das Insulin aufgebaut war. Da hatte sie bereits einen Nobelpreis für die Strukturaufklärung von Vitamin B12 in der Tasche, was nur sieben Jahren gedauert hatte.

Von Martin Winkelheide | 12.05.2010
    Dass sie eine der wenigen Frauen in der Männerdomäne Chemie war, hat Dorothy Crowfoot Hodgkin nie gestört. Sie war eine begeisterte Chemikerin, und sie wusste zu begeistern. Ihre berühmteste Schülerin allerdings zog es dann doch vor, in die Politik zu gehen: Margaret Thatcher, die spätere britische Premierministerin und "Eiserne Lady". Heute vor 100 Jahren wurde die britische Chemikerin und Nobelpreisträgerin Dorothy Crowfoot Hodgkin geboren.

    Es war eine Chemielehrerin, die Dorothy Crowfoot Hodgkin beibrachte, Kristalle zu züchten. Die Elfjährige war augenblicklich gefangen von der Schönheit und Eleganz der Gebilde.

    "Solche Kristalle entstehen, wenn man Kupfersulfat und Alaun zusammen gibt. Wohl alle Schulkinder kennen dieses Experiment. Mich aber hat es gepackt, und ich richtete zu Hause ein Labor ein, um Kristalle zu züchten."

    Ihr gesamtes Forscherleben lang hat Dorothy Crowfoot Hodgkin Kristalle gezüchtet und analysiert. Es gelang ihr, komplizierte Eiweiße wie das Vitamin B12 in eine kristalline Form zu bringen und ihren Aufbau mit Hilfe von Röntgenstrahlen zu entschlüsseln. Dafür erhielt sie 1964 den Nobelpreis für Chemie - als dritte Frau nach Marie Curie und Irène Joliot-Curie.

    Am 12. Mai 1910 wurde Dorothy Crowfoot Hodgkin in Kairo geboren. Ihr Vater, John Winter Crowfoot, war für das ägyptische und später auch für das sudanesische Erziehungsministerium tätig.
    "Er war vor allem dort, weil er passionierter Archäologe war. Ihn interessierte die byzantinische Zeit. Als junger Mann hat er viel fotografiert. In einer seiner Kisten fand ich jede Menge Fotografien von byzantinischen Säulenkapitellen in ägyptischen Kirchen."

    Aufgewachsen ist Dorothy Hodgkin mit ihren beiden Schwestern ab 1914 in England. Unterrichtet wurde sie zunächst von ihrer Mutter Grace Mary, einer Expertin für altertümliche Webtechniken.

    "Sie brachte uns die Dinge bei, die sie selbst am besten kannte: Geschichte und Naturkunde: Blumen, Vögel. Wir schrieben unser eigenes Geschichtsbuch: über die Könige von England, die Kleidung, die man zu der Zeit trug, und mit den Gedichten der jeweiligen Epoche."

    Nach dem Abitur bereiste sie den Sudan, studierte Chemie in Oxford und ging dann nach Cambridge zu dem Kristallografen John Desmond Bernal. Mit ihm zusammen machte sie in den frühen 30er-Jahren die überraschende Entdeckung, dass sich die Strukturanalyse mit Hilfe von Röntgenstrahlen nicht nur für anorganische Substanzen eignet. Auch der Aufbau von organischen Molekülen, von Eiweißkristallen, ließ sich so ermitteln.

    1937 heiratete sie den Politologen Thomas Lionel Hodgkin. Kurz nach der Geburt des ersten von drei Kindern erkrankte sie schwer an Gelenkrheumatismus. Ihre Forschungen betrieb sie dennoch weiter. Sie verfeinerte das Verfahren der Röntgenkristallografie und wandte es auf komplizierte Naturstoffe an.

    "Ich wollte über etwas vollkommen Neues forschen, und so war ich sehr froh. Denn die Struktur, die ich in die Hand bekam, war die von Penizillin."

    Vier Jahre dauerte es, von 1942 bis 1946, bis sie die Position der Atome im Penizillin ermittelt hatte. Die Entdeckung überstieg zunächst die Vorstellungskraft ihrer Kollegen.

    "Wenn das die Formel für Penizillin ist, dann gebe ich die Chemie auf und züchte Pilze","

    entgegnete der Chemiker John Cornforth der jungen Wissenschaftlerin, als sie die Ergebnisse auf einer Fachtagung präsentierte. Aber Dorothy Hodgkin behielt recht. Und Pharmahersteller nutzten ihre Formel, um Penizillin, das erste wichtige Antibiotikum, im großen Maßstab zu produzieren.

    1948 begann sie, das Vitamin B12 zu erforschen. Sieben Jahre lang hat sie gemessen und gerechnet, bis sie aus unzähligen Röntgenaufnahmen schließlich die Struktur des Stoffes ableiten und so ihren Ruf als Virtuosin ihres Fachs endgültig besiegeln konnte.

    Als besonders widerspenstig erwies sich ein Molekül, an dem sie schon seit den frühen 30er-Jahren forschte: das Hormon Insulin. Erst nach 35 Jahren, 1969, konnte sie dessen Struktur veröffentlichen.

    Auch nach ihrer Pensionierung als Professorin 1977 lehrte und forschte Dorothy Hodgkin in Cambridge. Aber sie fühlte sich als Weltbürgerin, reiste viel und setzte sich als Mitglied der sogenannten Pugwash-Konferenz bis zu ihrem Tod 1994 aktiv für die Verständigung von Wissenschaftlern aus Ost und West ein.

    ""Ich glaube an den Frieden, dass jeder Mensch seinen Wert hat. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Und das ist immer ein hartes Stück Arbeit."