Der Medientheoretiker Norbert Bolz folgt in seinem neuen Buch Die Konformisten des Andersseins der Bewegung des Wertewandels. Unter den Schlägen linker Kritik zerfielen beispielsweise die Werte von Familie und Treue als bürgerliche Zwangsinstitution und als Sublimierung. Bereits seit der Aufklärung fordert dagegen kritisches Bewußtsein Mündigkeit und Autonomie, sich selber mit allen lebenswichtigen Fragen vernünftig auseinander setzen zu können. Seit den Jahren um 1968 hat das kritische Bewußtsein seinen Siegeszug vollendet. Fast allgemein anerkannt ist es jetzt eine der wichtigsten Tugenden, kritisch zu sein. Doch auch diese neue Tugend - das stellt Norbert Bolz fest - geht bereits wieder nieder:
"Mein Buch hat ja den Titel, der signalisiert, daß wir am Ende der Kritik angekommen sind, d.h. daß die intellektuelle Form des kritischen Bewußtseins an unüberschreitbare Schranken gestoßen ist. Man kann das am leichtesten dadurch erklären, daß man sich vergegenwärtigt, wie die Selbstbegründung kritischen Bewußtseins am Anfang der Moderne lautete. Das war lange Zeit das durchaus elitäre Bewußtsein der Aufklärung, also die Unterscheidung des Unmündigen und des aufgeklärten Bewußtseinszustandes, wobei es der Kritik dann vorbehalten war, die Unmündigen, sei es zum selber denken, d.h. zum philosophisch korrekten Denken zu bewegen, sei es ihnen Lernmodelle der Aufklärung anzubieten und zu verordnen. Aufklärung war also eine Kultur der Kritik und zwar eine mit dem besten Gewissen derer, die sich des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit sicher waren."
Mit Marx verfällt zwar die aufklärerische Kritik dem Ideologieverdacht. Die Kritik transformiert sich dabei in Gesellschaftskritik, die unter dem Deckmantel, den Armen, Unterprivilegierten und Ausgebeuteten zu dienen, von allen Nachdenkenden eine moralische Haltung der eigenen Betroffenheit einfordert. Doch wenn sich für Adorno angesichts von Auschwitz und Hiroshima die Welt kaum noch im Sinne eines humanen Fortschritts gestalten läßt, dann endet bereits in den sechziger Jahren auch der praktische Sinn der Sozialkritik, und das just in der Zeit, als die kritische Haltung überall in der westlichen Welt hoffähig wurde:
"Ich würde sagen, schon 1966 war deutlich daß Kritik an ihr Ende gekommen ist und daß sich nicht mehr zeigen läßt, woher sich das überlegene kritische Bewußtsein legitimieren könnte, wie ein Ort außerhalb der Gesellschaft fingiert werden könnte, von dem aus sie kritisiert werden könnte. Und ich meine, was wir danach erlebt haben, nach Adorno, war auf seiten der Linken, also auf seiten der kritischen Bewußtseine nur eine Verdeckung dieser Grundparadoxie. Man hat sich mehr oder minder elitär doch eingebildet, man könne - Stichwort etwa Wohlfahrtsstaat oder Reformbewußtsein - man könne Kriterien für besseres Leben angeben. Wie gesagt ich glaube diese Formen der Kritik sind längst unhaltbar geworden."
Auf der einen Seite, darauf weist Norbert Bolz in seinem neuen Buch hin, erodiert das aufklärerische Fundament der Kritik, ihr rational überlegener Standpunkt. Auf der anderen Seite erlaubt dieser Zerfall gerade, daß Kritik zu einer allgemeinen Tugend avanciert, an der zu partizipieren jeder verpflichtet ist. Denn wenn ein letztes rationales Urteil über welche Angelegenheit in der Welt auch immer nicht mehr existiert, dann kann jeder mitreden und mitkritisieren, nicht mehr nur der philosophisch Gebildete. Kritik ist jetzt nicht mehr die Tätigkeit einer kleinen avantgardistischen Minderheit. Norbert Bolz:
"Der Witz heute ist ja, daß es der Mainstream ist, der nach Kritik verlangt und der auch selbst immer bereit ist, sich kritisch zu zeigen und Kritik einzufordern. Kritik ist zur reinen Rhetorik der Kritik verblaßt. Es ist ein Massenartikel, Konfektionsware, die vollkommen kriterienlos verbreitet wird."
Das zeitigt natürlich Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung - das eigentliche Thema von Norbert Bolz neuem Buch, das er in den für ihn signifikanten Problembereichen rhetorisch wie sachhaltig geschickt präsentiert, also hinsichtlich der Medien- und Sinngesellschaft mit ihren neuen Ritualen und ihren üblichen Therapien:
"Die Konformisten des Andersseins ist ein Titel, der einen imgrunde sehr einfachen, für unsere Gesellschaft aber sehr fundamentalen Sachverhalt bezeichnen soll, nämlich daß sich das Verhältnis von Subversion und Mainstream so radikal verändert hat, daß wir sagen können, es ist zu einem rasanten Umschlagverhältnis gekommen zwischen Subversion und Mainstream. Das was heute als Subversion verkauft wird, ist imgrunde schon der neue Mainstream."
Zwischen Massenkonsum und Individualisierungsprozeß transformiert sich die Tugend der kritischen Haltung in einen allgemeinen Zwang, der nonkonformistisches Verhalten zum neuen Konformismus verdreht:
"Ich würde also meinen, daß jemand, der anonym unauffällig sein bürgerliches Leben ordentlich über die Runden bringt, weniger konformistisch ist, als jemand der den Parolen der Selbstverwirklichung, der Selbsterlösung und des radikalen Andersseins als die anderen folgt. Denn wir haben es mit der tollen Paradoxie seit Jahren schon zu tun, daß alle anders sein wollen als die anderen, daß also gerade dieses Anderssein der gemeinsame Zug der Massenkultur ist."
Der von der Soziologie diagnostizierte, gegenwärtige Individualisierungsprozeß entfaltet gerade keine individualistischen Lebensformen. Der Nonkonformismus tritt heute vielmehr als massenhaftes Phänomen auf.
Der Massenkonsum beschleunigt diese Entwicklung. Kritisierten die Achtundsechziger die Konsumgesellschaft als einen gigantischen uniformisierenden Angleichungsapparat, so paßt der Konsum heute an, ohne zu uniformieren. Indem man sich individualistisch fühlt, sitzt man Anpassung auf:
"Genialerweise kann vor allem die Konsumgüterindustrie sich auf diesen Wunsch, anders zu sein als die anderen, hervorragend einstellen. Es gibt heute tatsächlich konfektionierte Individualität, also das andere Produkt als Massenware. Das ist heute technische sehr gut möglich: das Auto das aus einer Bandbreite von hundert Variablen frei kombiniert werden kann, bis hin zu den Jeans von Levis, die eine garantiert einmalige Nummer eingedruckt haben, die kein anderer mit den 501 Jeans trägt."
Trotzdem wendet sich Norbert Bolz von dieser liberalistisch aufgeweichten Welt, in der die alten Werte und Ordnungsstrukturen verblassen, keineswegs mit Abscheu ab. Der Prozeß, in dem die kritische Haltung und der Nonkonformismus als Massenware aufgeht, löst andererseits auch manche Borniertheit auf. Wenn man die Gesellschaft von keinem absoluten kritischen Standpunkt aus beurteilen kann, dann legitimiert sich Kritik nicht mehr durch ihre Wahrheiten, die sie sagt:
"Man hat, um jemand zu nennen der sehr schlecht formuliert, bei Jürgen Habermas immer das Gefühl, es muß irgendwie sehr ernsthaft und sehr wahr sein, weil es sehr schlecht formuliert, sehr spröde, sehr protestantisch ist, also gar keine Lust zum Lesen bereitet. Und diese Verführung, diese hochmoderne Verführung, was keinen Spaß macht, muß wenigstens wahr sein, würde ich eigentlich nicht mehr gerne erliegen."
Kritik, so Bolz, kann sich nicht mehr einfach auf ihre Wahrheit berufen. Vielmehr muß man jetzt seine Einwände geschickt und stilistisch brillant formulieren. Damit kehrt auf ein Neues das wieder, was seit Sokrates, Christus und Kant im Abendland eher verpönt wird, nämlich die Rhetorik, also die Fähigkeit des geschickten und überzeugenden Redens, unabhängig davon, inwieweit das dabei Gesagte von sich aus wahr ist, bzw. von sich aus ein starkes Argument ergibt. Die Abkehr von der Kritik und die Hinwendung zur Rhetorik spiegelt für Bolz damit das Informationszeitalter:
"Für mich ist die Konjunktur, die Wiederkehr der Rhetorik in unserer Zeit auch ein sehr genauer Ausdruck für die Unmöglichkeit von Kritik. (. . .) Rhetorik ist überall dort wichtig, wo man nicht genug Zeit hat, alle denkbaren Informationen zu versammeln, wo man nicht genug Zeit zur Besonnenheit hat, wo man nicht Zeit hat alle Meinungen in Ruhe anzuhören und abzuwägen, also im Klartext und auf deutsch: Rhetorik ist überall dort wichtig wo wir in eminent modernen, d.h. eben überschnellen und überkomplexen Verhältnissen leben."
Die Kritik als Tugend verliert an Glanz. Sie auf sich selbst angewendet mußte sich zwangsläufig aufheben. Aber verfällt damit ihr ethischer Wert? Nach Bolz erhebt sich aus der Asche der Kritik eine neue Tugend, die der Rhetorik, die sich einer modernen Welt viel besser anmißt, wenn Wahrheiten bestenfalls noch relativ und abhängig von ihren Bedingungen gelten. Sollte der Werteverfall damit zum Stillstand kommen? Und sei es nur, weil Rhetorik nach wie vor als ein eher niederer Wert empfunden wird! Oder wird die Rhetorik demnächst auch dasselbe Schicksal erleiden? Norbert Bolz insistiert jedenfalls:
"Ich bin für ein rhetorisch raffiniertes Argumentieren und Darstellen, auch essayistisches Darstellen, so wie es etwa immer noch großartig Enzensberger betreibt und gegen diese tabuistischen zwangsneurotischen Formen von Sozialphilosophie und Aufklärung, wie es für mich immer noch in der Suhrkamp-Culture so im Gefolge von Habermas praktiziert wird."
Wir leben in Zeiten des Wertewandels. Manche meinen gar, die Werte verfielen. Vielleicht kehrt sich der Wandel gerade dann in einen Verfall, wenn diese Bewegung sich soweit beschleunigt, daß selbst die veränderten Werte sich erneut wandeln.
"Mein Buch hat ja den Titel, der signalisiert, daß wir am Ende der Kritik angekommen sind, d.h. daß die intellektuelle Form des kritischen Bewußtseins an unüberschreitbare Schranken gestoßen ist. Man kann das am leichtesten dadurch erklären, daß man sich vergegenwärtigt, wie die Selbstbegründung kritischen Bewußtseins am Anfang der Moderne lautete. Das war lange Zeit das durchaus elitäre Bewußtsein der Aufklärung, also die Unterscheidung des Unmündigen und des aufgeklärten Bewußtseinszustandes, wobei es der Kritik dann vorbehalten war, die Unmündigen, sei es zum selber denken, d.h. zum philosophisch korrekten Denken zu bewegen, sei es ihnen Lernmodelle der Aufklärung anzubieten und zu verordnen. Aufklärung war also eine Kultur der Kritik und zwar eine mit dem besten Gewissen derer, die sich des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit sicher waren."
Mit Marx verfällt zwar die aufklärerische Kritik dem Ideologieverdacht. Die Kritik transformiert sich dabei in Gesellschaftskritik, die unter dem Deckmantel, den Armen, Unterprivilegierten und Ausgebeuteten zu dienen, von allen Nachdenkenden eine moralische Haltung der eigenen Betroffenheit einfordert. Doch wenn sich für Adorno angesichts von Auschwitz und Hiroshima die Welt kaum noch im Sinne eines humanen Fortschritts gestalten läßt, dann endet bereits in den sechziger Jahren auch der praktische Sinn der Sozialkritik, und das just in der Zeit, als die kritische Haltung überall in der westlichen Welt hoffähig wurde:
"Ich würde sagen, schon 1966 war deutlich daß Kritik an ihr Ende gekommen ist und daß sich nicht mehr zeigen läßt, woher sich das überlegene kritische Bewußtsein legitimieren könnte, wie ein Ort außerhalb der Gesellschaft fingiert werden könnte, von dem aus sie kritisiert werden könnte. Und ich meine, was wir danach erlebt haben, nach Adorno, war auf seiten der Linken, also auf seiten der kritischen Bewußtseine nur eine Verdeckung dieser Grundparadoxie. Man hat sich mehr oder minder elitär doch eingebildet, man könne - Stichwort etwa Wohlfahrtsstaat oder Reformbewußtsein - man könne Kriterien für besseres Leben angeben. Wie gesagt ich glaube diese Formen der Kritik sind längst unhaltbar geworden."
Auf der einen Seite, darauf weist Norbert Bolz in seinem neuen Buch hin, erodiert das aufklärerische Fundament der Kritik, ihr rational überlegener Standpunkt. Auf der anderen Seite erlaubt dieser Zerfall gerade, daß Kritik zu einer allgemeinen Tugend avanciert, an der zu partizipieren jeder verpflichtet ist. Denn wenn ein letztes rationales Urteil über welche Angelegenheit in der Welt auch immer nicht mehr existiert, dann kann jeder mitreden und mitkritisieren, nicht mehr nur der philosophisch Gebildete. Kritik ist jetzt nicht mehr die Tätigkeit einer kleinen avantgardistischen Minderheit. Norbert Bolz:
"Der Witz heute ist ja, daß es der Mainstream ist, der nach Kritik verlangt und der auch selbst immer bereit ist, sich kritisch zu zeigen und Kritik einzufordern. Kritik ist zur reinen Rhetorik der Kritik verblaßt. Es ist ein Massenartikel, Konfektionsware, die vollkommen kriterienlos verbreitet wird."
Das zeitigt natürlich Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung - das eigentliche Thema von Norbert Bolz neuem Buch, das er in den für ihn signifikanten Problembereichen rhetorisch wie sachhaltig geschickt präsentiert, also hinsichtlich der Medien- und Sinngesellschaft mit ihren neuen Ritualen und ihren üblichen Therapien:
"Die Konformisten des Andersseins ist ein Titel, der einen imgrunde sehr einfachen, für unsere Gesellschaft aber sehr fundamentalen Sachverhalt bezeichnen soll, nämlich daß sich das Verhältnis von Subversion und Mainstream so radikal verändert hat, daß wir sagen können, es ist zu einem rasanten Umschlagverhältnis gekommen zwischen Subversion und Mainstream. Das was heute als Subversion verkauft wird, ist imgrunde schon der neue Mainstream."
Zwischen Massenkonsum und Individualisierungsprozeß transformiert sich die Tugend der kritischen Haltung in einen allgemeinen Zwang, der nonkonformistisches Verhalten zum neuen Konformismus verdreht:
"Ich würde also meinen, daß jemand, der anonym unauffällig sein bürgerliches Leben ordentlich über die Runden bringt, weniger konformistisch ist, als jemand der den Parolen der Selbstverwirklichung, der Selbsterlösung und des radikalen Andersseins als die anderen folgt. Denn wir haben es mit der tollen Paradoxie seit Jahren schon zu tun, daß alle anders sein wollen als die anderen, daß also gerade dieses Anderssein der gemeinsame Zug der Massenkultur ist."
Der von der Soziologie diagnostizierte, gegenwärtige Individualisierungsprozeß entfaltet gerade keine individualistischen Lebensformen. Der Nonkonformismus tritt heute vielmehr als massenhaftes Phänomen auf.
Der Massenkonsum beschleunigt diese Entwicklung. Kritisierten die Achtundsechziger die Konsumgesellschaft als einen gigantischen uniformisierenden Angleichungsapparat, so paßt der Konsum heute an, ohne zu uniformieren. Indem man sich individualistisch fühlt, sitzt man Anpassung auf:
"Genialerweise kann vor allem die Konsumgüterindustrie sich auf diesen Wunsch, anders zu sein als die anderen, hervorragend einstellen. Es gibt heute tatsächlich konfektionierte Individualität, also das andere Produkt als Massenware. Das ist heute technische sehr gut möglich: das Auto das aus einer Bandbreite von hundert Variablen frei kombiniert werden kann, bis hin zu den Jeans von Levis, die eine garantiert einmalige Nummer eingedruckt haben, die kein anderer mit den 501 Jeans trägt."
Trotzdem wendet sich Norbert Bolz von dieser liberalistisch aufgeweichten Welt, in der die alten Werte und Ordnungsstrukturen verblassen, keineswegs mit Abscheu ab. Der Prozeß, in dem die kritische Haltung und der Nonkonformismus als Massenware aufgeht, löst andererseits auch manche Borniertheit auf. Wenn man die Gesellschaft von keinem absoluten kritischen Standpunkt aus beurteilen kann, dann legitimiert sich Kritik nicht mehr durch ihre Wahrheiten, die sie sagt:
"Man hat, um jemand zu nennen der sehr schlecht formuliert, bei Jürgen Habermas immer das Gefühl, es muß irgendwie sehr ernsthaft und sehr wahr sein, weil es sehr schlecht formuliert, sehr spröde, sehr protestantisch ist, also gar keine Lust zum Lesen bereitet. Und diese Verführung, diese hochmoderne Verführung, was keinen Spaß macht, muß wenigstens wahr sein, würde ich eigentlich nicht mehr gerne erliegen."
Kritik, so Bolz, kann sich nicht mehr einfach auf ihre Wahrheit berufen. Vielmehr muß man jetzt seine Einwände geschickt und stilistisch brillant formulieren. Damit kehrt auf ein Neues das wieder, was seit Sokrates, Christus und Kant im Abendland eher verpönt wird, nämlich die Rhetorik, also die Fähigkeit des geschickten und überzeugenden Redens, unabhängig davon, inwieweit das dabei Gesagte von sich aus wahr ist, bzw. von sich aus ein starkes Argument ergibt. Die Abkehr von der Kritik und die Hinwendung zur Rhetorik spiegelt für Bolz damit das Informationszeitalter:
"Für mich ist die Konjunktur, die Wiederkehr der Rhetorik in unserer Zeit auch ein sehr genauer Ausdruck für die Unmöglichkeit von Kritik. (. . .) Rhetorik ist überall dort wichtig, wo man nicht genug Zeit hat, alle denkbaren Informationen zu versammeln, wo man nicht genug Zeit zur Besonnenheit hat, wo man nicht Zeit hat alle Meinungen in Ruhe anzuhören und abzuwägen, also im Klartext und auf deutsch: Rhetorik ist überall dort wichtig wo wir in eminent modernen, d.h. eben überschnellen und überkomplexen Verhältnissen leben."
Die Kritik als Tugend verliert an Glanz. Sie auf sich selbst angewendet mußte sich zwangsläufig aufheben. Aber verfällt damit ihr ethischer Wert? Nach Bolz erhebt sich aus der Asche der Kritik eine neue Tugend, die der Rhetorik, die sich einer modernen Welt viel besser anmißt, wenn Wahrheiten bestenfalls noch relativ und abhängig von ihren Bedingungen gelten. Sollte der Werteverfall damit zum Stillstand kommen? Und sei es nur, weil Rhetorik nach wie vor als ein eher niederer Wert empfunden wird! Oder wird die Rhetorik demnächst auch dasselbe Schicksal erleiden? Norbert Bolz insistiert jedenfalls:
"Ich bin für ein rhetorisch raffiniertes Argumentieren und Darstellen, auch essayistisches Darstellen, so wie es etwa immer noch großartig Enzensberger betreibt und gegen diese tabuistischen zwangsneurotischen Formen von Sozialphilosophie und Aufklärung, wie es für mich immer noch in der Suhrkamp-Culture so im Gefolge von Habermas praktiziert wird."
Wir leben in Zeiten des Wertewandels. Manche meinen gar, die Werte verfielen. Vielleicht kehrt sich der Wandel gerade dann in einen Verfall, wenn diese Bewegung sich soweit beschleunigt, daß selbst die veränderten Werte sich erneut wandeln.