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"Die Kopfbedeckung meines Volkes ist der Hut!“

Vor 80 Jahren zog General Mustafa Kemal aus, um die Türkei zu einem laizistischen Staat zu machen. Das beinhaltete auch das Verbot des Fes, der traditionell-osmanischen Kopfbedeckung für Männer und das Verbot des Kopftuches für Frauen in staatlichen Einrichtungen. Die türkische Gesellschaft ist noch heute in der "Kopftuchfrage" gespalten. Beide Lager stehen einander kompromisslos gegenüber.

Von Susanne El Khafif | 01.09.2005
    Die Türkei im Jahr 1925. An einem heißen Augusttag macht sich General Mustafa Kemal, der Begründer der modernen Republik, auf eine Reise durch sein Land - getrieben von einer "besonderen" Mission: Er will seinen Landsleuten erklären, dass der Fes, die traditionell-osmanische Kopfbedeckung, fortan der Vergangenheit angehört. In verschiedenen Städten versammelt er seine Landsleute um sich und hält ihnen einen Vortrag: "Das hier", Musstafa Kemal macht eine Handbewegung in Richtung Kopf, "das hier ist ein Hut. Es gibt Menschen, die behaupten, dass die Religionsgesetze diesen Hut verbieten. Erlauben Sie mir zu sagen, dass diese Menschen unwissend sind."

    Die Versammelten blicken ungläubig zu ihrem Staatspräsidenten auf. Denn sie finden den Panama-Hut, der da auf seinem Kopf sitzt, unangemessen. Sie sind es gewohnt, den Fes zu tragen. Und warum sollte falsch sein, was ihre Väter und Großväter ihnen vorlebten? Die Menschen sind verunsichert, zugleich regen sich Unmut und Ärger. Mustafa Kemal bleibt davon aber unbeeindruckt.

    "Sehen Sie sich doch die gesamte islamische Welt an! Weil sie ihr Weltbild nicht der Zivilisation angepasst hat, befindet sie sich in einem so katastrophalen Zustand! Auch wir sind deswegen so unterentwickelt und stecken im Schlamm des Elends."

    Zurück in Ankara lässt Mustafa Kemal das Tragen des Fes offiziell verbieten. Als es zu Protesten und Unruhen kommt, ruft er den Ausnahmezustand aus. Hunderte, die sich demonstrativ dem Hut als "Symbol des Christentums" verweigern, werden verhaftet; 138 von ihnen werden zum Tode verurteilt. Die Angeklagten sollen, so heißt es, einen Aufstand gegen den Staat angezettelt und die junge Republik gefährdet haben.

    Mustafa Kemal, der den Beinamen "Atatürk" - "Vater aller Türken" - tragen wird, ist von den Ideen der Demokratie und Rechtstaatlichkeit beflügelt. Und doch scheut er sich nicht, auf die Mittel der Diktatur zurückzugreifen. Sein Ziel hat er klar vor Augen: Er will die Türkei nach europäischem Vorbild modernisieren. Für ihn heißt das: Religion und Staat müssen strikt voneinander getrennt sein. Mustafa Kemal will eine laizistische Türkei. Der Fes aber stört - als sichtbares Zeichen einer für ihn grauen, islamischen Vergangenheit.

    Weitere Maßnahmen zur religiösen "Umerziehung" des Volkes sollen Atatürks Vorhaben vollenden. Das Kalifat, das weltlich-religiöse Herrscheramt, und die Scharia werden abgeschafft, der Laizismus wird in der Verfassung festgeschrieben, ein staatliches Amt für Religion eingerichtet. Und so wie den Männern das Tragen des Fes untersagt worden ist, dürfen auch Frauen und Mädchen in staatlichen Einrichtungen kein Kopftuch mehr tragen. Die Order gilt für Beamtinnen ebenso wie für Schülerinnen und Studentinnen.

    Die Türkei heute, im Jahr 2005. In der Theologischen Fakultät der Universität Ankara ist gerade Vorlesungspause. Einige Studentinnen und Studenten haben die Hörsäle verlassen und sitzen im vorgelagerten kleinen Park der Universität, der an einer belebten Straße liegt. Hohe Bäume spenden hier kühlenden Schatten, Holzbänke und Tische laden zum Verweilen ein. Viele der jungen Studentinnen tragen ihr Haar offen, andere dagegen bedecken es mit einem Kopftuch oder tragen einen Hut.

    Nach dem Grund befragt, warum sie gegen die bestehende Ordnung verstoßen, wehren die jungen Frauen ab. Sie wollen sich nicht äußern, sie blicken zum Aufsichtspersonal, einer der Männer nähert sich, zeigt deutlich erkennbar seinen Ärger über das aufgestellte Mikrophon. Eine willkommene Gelegenheit für die Studentinnen, ihre Sachen zusammenzupacken und sich zurückzuziehen. Vor dem Portal angekommen, geschieht etwas Seltsames. Die Studentinnen, die ein Kopftuch tragen, bleiben stehen, greifen in ihre Taschen. Und ziehen dann Perücken heraus. Die Perücken streifen sie über den Kopf - über das Kopftuch.

    Es ist 80 Jahre her, dass General Mustafa Kemal auszog, um sein Volk von - Zitat: "Kopf bis Fuß zu zivilisieren". Damals war es der Fes, der zum Symbol eines religiös motivierten Widerstandes wurde; heute ist es das Kopftuch. In den Universitäten darf es nicht getragen werden. An vielen Theologischen Fakultäten haben sich Verwaltung und Studentenschaft indes auf einen unausgesprochenen Kompromiss geeinigt: Um gemäß der Gesetze die staatliche Einrichtung betreten und verlassen zu können, greifen viele Studentinnen auf die Perücke zurück.

    Anfang der 80er Jahre begann eine Minderheit zumeist junger Akademikerinnen aus einfachen Verhältnissen, sich gegen das Verbot an den Universitäten zu stellen. Die jungen Frauen berufen sich die Menschenrechte, sie wollen dem Islam mehr Raum verschaffen, in ihrem Alltag und in ihrer Gesellschaft. In den Hochburgen des Laizismus, den Universitäten, treten sie in Sitz- und Hungerstreiks.

    Das Verhalten der jungen Islamistinnen ruft all jene auf den Plan, die sich dem Laizismus verbunden fühlen, unter ihnen sind viele Frauen. Sie wenden sich gegen ihre Geschlechtsgenossinnen, bezichtigen sie des Verrats an der "gemeinsamen Sache": Der Kemalismus, sagen sie, habe den Frauen schließlich erst das Recht auf Ausbildung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verschafft. Das Unverständnis für die Überzeugung der jeweils anderen ist groß, wird von Tag zu Tag größer. Bis heute.

    Die türkische Gesellschaft ist in der "Kopftuchfrage" zutiefst gespalten. Beide Lager stehen einander kompromisslos gegenüber. Als ginge es beiden um sehr viel mehr als nur ein Tuch - um Macht und Herrschaft.

    Leyla Tavsanoglu arbeitet bei der angesehenen Tageszeitung "Cumhuriyet" – das Redaktionsgebäude nebst großem Archiv liegt im Herzen Istanbuls. Sie gehört zu den "Grandes Dames" des türkischen Journalismus. Eine Katzenfreundin ist sie, und wie ihre Haustiere sehr eigen, markant und burschikos, ihr Lachen ist ansteckend. Leyla Tavsanoglu ist Kemalistin, wünscht sich eine aufgeschlossene und demokratische Türkei. Sie glaubt, dass Mustafa Kemal in den Anfangsjahren der Republik gar nicht anders handeln konnte als hart durchzugreifen. Doch sie sieht auch die Begrenztheit des kemalistischen "Zivilisationsprojektes".

    "Man kann eine bestehende Ordnung nicht einfach auslöschen. Und auf deren Asche eine ganz neue errichten. Denn es bleibt immer ein Rest glühender Kohle, der nur darauf wartet, in eine lodernde Flamme auszuschlagen. Mustafa Kemal versuchte, das Feuer der Islamischen Bewegung zu ersticken, doch es ist ihm nicht gelungen."

    Sivas, im mittleren Osten der Türkei gelegen, Juli 1992. Die Zusammenkunft der Refah, der Wohlfahrtspartei, ähnelt mehr einer politischen Demonstration als einem Parteitag. Zehntausende sind in die Stadt gekommen - aus der gesamten Türkei, vor allem aber aus den ländlichen Gebieten, aus dem Osten und Südosten.

    Die meisten der Anhänger entsprechen dem Klischee vom islamistischen Anatolier: Die Männer tragen Bärte und Strickmützen, die Frauen Kopftücher und lange Mäntel. Sie alle wollen einmal ihn – den Hoca, den Lehrer, Necmettin Erbakan - leibhaftig sehen und hören. Ganz Sivas ist mit Postern und Wimpeln der Refah geschmückt, ein Autocordon fährt kreuz und quer durch die Stadt. Die Stimmung ist euphorisch.

    Necmettin Erbakan, nur mit einem dünnen Oberlippenbart versehen, tritt in der Sporthalle von Sivas auf. Er weiß um sein Auftreten. Mit sparsamen Bewegungen und einer sonoren Stimme strahlt er Ruhe und Souveränität aus, er spricht langsam und deutlich, will, dass die Menschen seinen Worten folgen können. Ein älterer Herr ist er, ein Akademiker, der es gewohnt ist, vor vielen Menschen zu sprechen.

    Necmettin Erbakan, 1926 geboren, promoviert in Deutschland, macht nach seiner Rückkehr in die Türkei erst Karriere in der Wirtschaft, dann in der Politik. Mehr und mehr wird Erbakan zur alles überragenden Figur des politischen Islam in der Türkei, wie kaum ein anderer prägt er die Bewegung von Anfang an, verhilft ihr - trotz aller Niederlagen, die sie in Form von Parteiverboten einstecken muss, zu mehr und mehr politischer Macht. Mit der Gründung der Refah, der Wohlfahrtspartei, gelingt 1983 der Durchbruch. Die Wahlen im Dezember 1995 bringen die Refah an die Macht, Erbakan wird zum Ministerpräsidenten der Türkei.

    Die Botschaft, die Necmettin Erbakan auf dem Parteitag in Sivas verkündet, ist einfach: Er ist gegen die strenge laizistische Ordnung. Viele Modernisierungsversuche, sagt er, seien nichts anderes als eine "Nachmachereikrankheit". Diese Krankheit verlaufe in mehreren Stufen und sei in ihrer Auswirkung verheerend.

    "Sie werden mit der Zeit eine dritte Stufe erreichen, dass sie von den anderen ausgebeutet werden und sie als eine Sklave behandelt werden. Leider die Türkei ist mit der Zeit in diese Stufe gekommen."

    Necmettins Worte sind vielen Türken Balsam für die Seele. Sie fühlen sich erniedrigt und von "denen da oben", die in Korruption und Vetternwirtschaft verstrickt sind, im Stich gelassen. Sie sind Opfer des Bürgerkrieges und der Liberalisierungspolitik, sie sind verarmt und verelendet. Und unter dem Eindruck des zusammenbrechenden Sowjetreiches halten sie einzig den Weg, den Necmettin Erbakan ihnen aufzeigt, für richtig: Er und seine Refah-Partei haben sich den Islam auf die Fahne geschrieben.

    "Dieser Rettungsweg ist der von Wohlfahrtspartei - das heißt, wir nennen das die "Neue Weltordnung", die niemals Kapitalismus und nie Kommunismus sein kann, sondern eine neue Regime, die nicht die Kraft sondern das Recht über alles hält."

    Ein gutes Jahr, von 1996 bis 97, bleibt Necmettin Erbakan im Amt des Ministerpräsidenten, dann holt der Laizismus zum Gegenschlag aus. Und gewinnt. Militär, Justiz und politische Opposition ziehen an einem Strang, Erbakan muss zurücktreten, die Refah und ihre Nachfolge-Partei werden verboten. Die Anklage: Verstoß gegen den Laizismus. Von der Berg- zur Talfahrt. Der politische Islam in der Türkei - so scheint es - ist am Ende.

    Doch wieder ist ein "Rest glühender Kohle" geblieben. Und diesmal schlägt er aus in zwei "lodernde Flammen". Die islamische Bewegung hat sich gespalten, in Traditionalisten und Reformer. Die Traditionalisten stehen unter Führung Necmettin Erbakans, die Reformer unter der Recep Tayyib Erdogans.

    Der neue Stern am politischen Horizont war einst Bürgermeister von Istanbul, er ist populär, jung und dynamisch, er stammt aus einfachen Verhältnissen und ist doch ein Mann von Welt. Im November 2002 trägt Erdogans "Fortschritts- und Entwicklungspartei - AKP" den Sieg davon, er selbst wird zum Ministerpräsidenten der Türkei.

    Recep Tayyib Erdogan ist der Ziehsohn Necmettin Erbakans. Doch von sich selbst sagt er heute: "Ich habe mich gewandelt. Ich bin ein islamischer Demokrat."

    Die Regierung unter Recep Tayyib Erdogan ist nun seit mehr als zweieinhalb Jahren an der Macht. Die türkische Wirtschaft konnte sich stabilisieren, viele Reformen im politischen Bereich wurden vorangetrieben. Die Journalistin Leyla Tavsanoglu hat für die Regierung dennoch nur Worte der Kritik, ja des Spottes übrig. Sie glaubt nicht, dass aus Erdogan ein aufgeklärter Muslim geworden ist.

    "Wir haben eine wirklich islamistische Regierung. Sie nennt sich nur transparent und demokratisch, offen gegenüber dem Westen und aufgeschlossen gegenüber Veränderungen. Doch ganz tief im Inneren hat sie sich nicht verändert. Und wird es niemals tun. Was die Regierung macht? Sie betreibt "takiyye" - sie täuscht etwas vor, sie verstellt sich. Ihre Vertreter können keine Demokraten sein. Sie glauben doch gar nicht an die Demokratie."

    Kanal B, so heißt der neue Fernsehsender, der - weit außerhalb, doch mit Blick auf die Hauptstadt Ankara gelegen - rund um die Uhr sein Programm in die Türkei und in die Welt ausstrahlt: Nachrichten, Magazine, Diskussionssendungen - Information aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Das Gebäude ist nagelneu, die Technik auf dem letzten Stand, alles blitzt und blinkt, das Team ist jung und engagiert, die Arbeit wird präzise und professionell abgewickelt.

    Eines der Magazine, die von Kanal B ausgestrahlt werden, dreht sich um Rechtsfragen, geladen sind Experten und Sachverständige - auch aus der Baskent Universität, auf deren Gelände Kanal B errichtet wurde. Universität wie Fernsehsender stehen für den Laizismus, sie bilden eine ideologische Einheit, wirken fast wie ein Bollwerk gegen das, was die bestehende Ordnung zu bedrohen scheint.

    Auch Professor Ahmet Mumcu tritt bei Kanal B auf. Der Staatsrechtler hat sich über Jahrzehnte hinweg für die Ideale Atatürks engagiert, als Hochschullehrer und als Berater mehrerer Parlamentspräsidenten. Die Entwicklung, die die Türkei bis heute genommen hat - mit Tayyib Erdogan an der Spitze des Landes - sieht er überaus kritisch: Mehr und mehr, glaubt er, werde der Laizismus untergraben. Ahmet Mumcu hält strikt daran fest, dass das Kopftuch in staatlichen Räumen verboten bleibt. Denn er befürchtet, dass die Türkei am Ende dastehen könnte wie der Iran.

    Wenn diese gesetzliche Bestimmung aufgehoben wird, dann wird die Tür zum islamischen Staat völlig geöffnet. Das wird der erste Schritt sein. Hinterher kommen die anderen Schritte. Welche? Die Trennung von Frauen und Männern in öffentlichen Stellen und Gebäuden, in Kinos usw., das Verbot mancher Berufe für Frauen, dann wird das islamische Eherecht akzeptiert und dann wird das Scharia-Recht völlig anerkannt. Das ist das Ziel. Das ist eindeutig.

    Die etablierte "Türkische Stiftung für Demokratie" liegt in Cankaya - etwa zehn Fußminuten vom Staatspräsidentenamt entfernt - inmitten der Hauptstadt Ankara. In der Seitenstraße ist es ruhig, das Gebäude ist unscheinbar, das Büro funktional eingerichtet.

    Am Schreibtisch gegenüber sitzt Zekeriye Akcam, Vorsitzender der Stiftung für Demokratie, Mitte dreißig, dunkelhaarig und hochgewachsen, eine attraktive Erscheinung. Er hat in den USA Politologie studiert, in Ankara und Brüssel gearbeitet. Heute ist er Abgeordneter, sitzt für Erdogans AKP im türkischen Parlament.

    Über die Kritik des Hochschullehrers Ahmed Mumcu schüttelt Zekeriye Akcam eigentlich nur den Kopf. Etwas gereizt trommelt er mit seinen schmalen Fingern auf der Tischplatte herum, bevor er zu einer Entgegnung ansetzt.

    "Wir hier in der Türkei haben ein ganz eigenes Verständnis des Islam und der islamischen Kultur entwickelt, und das schon seit mehr als 700 Jahren. Wenn diese Leute also glauben, die türkische Nation oder das türkische Volk würde einfach übernehmen, was in Iran oder in den arabischen Staaten praktiziert wird, dann heißt das: Sie trauen ihren eigenen Landsleuten nicht. Ja, sie kennen ihr eigenes Volk gar nicht."

    Zekeriye Akcam ist ein Taktiker, ein Aufsteiger. Und ein Querdenker. Auch innerhalb der eigenen Partei. Als Mann Erdogans lehnt er den Islamisten Erbakan ab, was ihn nicht davon abhält, auch Erdogan öffentlich zu kritisieren und Sachentscheidungen zu hinterfragen.

    Zekeriye Akcam will Bilder und Stereotype, die - so sagt er - auch im Ausland kursieren, zurechtrücken. Er wundert sich über die Attribute "islamistisch" und "islamisch", mit denen seine Partei immer wieder versehen wird. In der Türkei gebe es überwiegend Muslime, von daher sei es naheliegend, dass Mitglieder und Wähler einer Partei ebenfalls muslimischen Glaubens seien. Zekeriye Akcam sieht die AKP schlicht als Partei der gesellschaftlichen Mitte, als Volkspartei.

    Auch von einer Spaltung der türkischen Gesellschaft in zwei große Lager will Zekeriye Akcam nichts wissen. Die Laizisten repräsentieren eine elitäre Minderheit, sagt er, die schon seit langem an den Hebeln der Macht sitze und nicht bereit sei, das Volk regieren zu lassen.

    "Sie wollen nicht, dass Anatolien regiert. Sie wollen nicht wahrhaben, was das Volk wirklich denkt und fühlt, und sie weigern sich, ihm in der Regierung, im Parlament und anderer Stelle Geltung zu verschaffen. Sie interessiert nur, was sie selber wollen. Wir sollten die Laizisten heute beim Wort nehmen und ihr Verständnis von Demokratie hinterfragen."

    Und doch spricht diese alte Elite im Namen Mustafa Kemals, führt ihn als Kronzeugen für ihr politisches Handeln und Tun an. Zekeriye Akcam zögert erst, schüttelt dann aber entschieden den Kopf.

    "Ich würde gerne glauben, was sie sagen, aber ich kann es nicht. Atatürk ist unser gemeinsamer Ausgangspunkt, er prägt unsere gemeinsame Kultur. Niemand darf Atatürk für sich allein beanspruchen."

    Die Bemühungen um Modernisierung haben viele Früchte getragen. Eine davon ist ein höheres Bildungsniveau im gesamten Land. Doch eben die Türken und Türkinnen, die einst benachteiligt und von der Macht ausgeschlossen waren, sind heute aufgrund politischer Reformen an die Macht gekommen. Sie sind konservativ eingestellt, haben einen traditionellen Hintergrund. Doch sie wollen gehört werden, wollen, dass eine Mehrheit über die Belange der Türkei entscheidet. Nicht nur in der Kopftuchfrage.

    Und auch sie beanspruchen Mustafa Kemal für sich, wollen interpretieren, was der "Vater aller Türken" für sein Volk am Ende wirklich wünschte.