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Die Korallen der Arktis

Biologie. - Mit verbindet man sofort Tauchparadiese in tropischen Gewässern. Zu ihrer Verblüffung entdeckten Kieler Meeresbiologen jetzt selbst in den eisigen Gewässern vor Norwegen einen Artenreichtum an Korallen, der es mit der verwöhnten Tropenverwandtschaft durchaus aufnehmen kann.

Von Jens Wellhöner | 30.08.2005
    Es ist stürmisch, im Polarmeer nördlich der Lofoten. Das Forschungsschiff "Poseidon" des Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften an der Universität Kiel (IFM-GEOMAR) schaukelt auf und ab. Ungemütlich für die beiden Insassen des Tauchboots "Jago". Auf drei mal zwei Metern quetschen sie sich zusammen - und bekämpfen die Übelkeit. Kaum sinkt das Tauchboot tiefer, wird es ganz still. Für Geologe Andres Rüggeberg ist es der erste Ausflug zu den Korallen der Arktis. Nach seiner Rückkehr kommt er aus dem Schwärmen nicht heraus:

    "Letztendlich sieht man nur etwas Diffuses, was dann langsam immer klarer wird. Und ich hatte das Glück, dass wir direkt über dem Riff gelandet sind. Und das ist beeindruckend, da gibt es keinen Vergleich. Man ist einfach nur hin und weg!"

    Besonders die weißen Kalkgerüste der Lophelia-Korallen geben ein imposantes Bild ab. Vom Tauchboot sehen ihre feinen Verästelungen so aus wie Blumenkohl-Köpfe - von bis zu anderthalb Metern Größe. Und sie bilden riesige Riffe. Viel größere als die Forscher bis jetzt annahmen. Sascha Flögel vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften:

    "Die sind wirklich groß. Das wusste man schon. Aber dass sie einen so großen Bereich geschlossen abdecken. Also wir haben ein Riff gefunden in einem Sund in Nordnorwegen, zehn Schiffsstunden nördlich von Tromsö, wo über 2,5 Seemeilen diese Korallen mehr oder weniger flächendeckend vorkommen."

    Über vier Kilometer lang und zum Teil über 30 Meter hoch: Die Wissenschaftler sind überrascht über die enormen Ausmaße der Korallenriffe in der Arktis. Die kleinen Meeresbewohner einen optimalen Lebensraum ausgesucht. In 100 bis 1000 Metern Tiefe auf dem Kontinentalschelf, also der relativ flachen Zone zwischen der Küste Europas und der Tiefsee im offenen Atlantik, siedeln die Korallen auf Unterwasserhügeln. Und auf ihnen ist die Meeresströmung besonders stark. Ein Vorteil für die Korallen:

    "Die sitzen im Wasser, halten ihre Tentakel rein und angeln Nahrung, die mit starker Strömung vorbei getrieben wird."

    Die Kaltwasserkorallen ernähren sich von kleinsten Tieren, dem so genannten Zooplankton. Ganz im Gegensatz zu ihren Verwandten in den warmen Tropen. Die werden durch Algen mit Nährstoffen versorgt, mit denen sie in einer Lebensgemeinschaft zusammen auftreten. Die Kaltwasserkorallen haben aber noch eine andere Eigenheit: Wenn sie ihre Kalkgerüste bauen, binden sie das Treibhausgas Kohlendioxid. Meeresforscher Sascha Flögel:

    "Also das funktioniert folgendermaßen: Das CO2 aus der Atmosphäre löst sich im Meerwasser. Da bildet sich Kohlensäure. Und zusammen mit dem Kalzium aus dem Meer bildet sich Kalziumkarbonat. Und dieses Kalziumkarbonat ist dann der Gerüst bildende Stoff für die Korallen. Und dabei wird CO2 der Wassersäule und damit auch der Atmosphäre entzogen."

    Damit werden sie natürlich auch ein Faktor bei der Berechnung des zukünftigen Weltklimas. Aber: Die Erforschung der kleinen Meeresbewohner steht erst am Anfang. Andres Rüggeberg:

    "Welchen Einfluss diese Kaltwasserkorallen auf den globalen Kohlenstoffkreislauf haben, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Aber, fest steht, dass diese bisher nicht in Form von Modellen mit berücksichtigt wurden. Und das wird auch ein Forschungsschwerpunkt in der nächsten Zukunft."

    Eines wissen die Forscher aber schon jetzt: Die Korallen sind nicht nur vor Norwegen verbreitet. Sie bilden vielmehr ein ganzes System von Riffen zwischen Marokko im Süden und dem Nordkap. Darüber hinaus wurden auch vor allen anderen Kontinenten in den vergangenen Jahren Kaltwasserkorallen entdeckt. Aber so verbreitet sie auch sind: Die moderne Fischerei mit Schleppnetzen ist für die Riffe eine große Gefahr. Denn die Netze werden mit Metallgewichten beschwert, die den Meeresboden regelrecht aufreißen. Um der laufenden Zerstörung einen Riegel vorzuschieben, hat zum Beispiel Norwegen bereits ein Riff-Schutzgebiet ausgewiesen. Aber die Zeit drängt, damit die Kaltwasserkorallen nicht vernichtet werden, bevor sie überhaupt richtig erforscht sind.