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Die kostbaren Tränen von Chios

Das griechische Chios war schon im Mittelalter wohlhabend, ein Handelsplatz für Wein, Marmor, Seide. Ein Teil seines Reichtums verdankt der Ort jedoch dem Mastix: Baumharz, das für Produkten wie Klebstoff, Kaugummi oder Kosmetika benötigt wird. Noch heute wird es traditionell geerntet.

Von Martina Keller und Leo Schulte | 04.10.2009
    Olympi ist ein kleines Dorf im Süden der griechischen Insel Chios. Die Gassen sind so eng, dass gerade zwei Esel aneinander vorbeipassen. Nie verlaufen sie geradlinig, oft enden sie vor einer Hauswand. Das Gassengewirr wurde mit Bedacht angelegt. Chios war schon im Mittelalter wohlhabend, ein Handelsplatz für Wein, Marmor, Seide oder Baumharz. Als die Genueser im 14. Jahrhundert Herren der Insel wurden, wollten sie den Reichtum für sich behalten. So befestigten sie die Siedlungen, um sie vor Piraten zu schützen. Mittelpunkt von Olympi ist noch immer eine alte Fluchtburg, in der heute ein Cafenion untergebracht ist. Sie steht unter Denkmalschutz, wie fast alle Gebäude hier.

    Nur wenige, zumeist ältere Bewohner der Insel besuchen den Sonntagsgottesdienst. Aber er ist ja per Lautsprecher im gesamten Dorf zu hören. Bei der stundenlangen Litanei wechseln sich der Pope von Olympi und der ehemalige sozialdemokratische Bürgermeister ab. Letzterer kennt sich nicht nur in orthodoxem Liedgut aus, sondern auch im deutschen Profifußball bis zur dritten Spielklasse. Er wettet für sein Leben gern.

    Olympi ist ein beschaulicher Ort, und dennoch eine kleine Berühmtheit. Es zählt zu den sogenannten Mastixdörfern, denen Chios einen Großteil seines früheren Reichtums verdankt. Mastix ist ein Baumharz, das nach dem Pistazienstrauch benannt ist, von dem es gewonnen wird. Dieser Strauch wächst rund ums am Mittelmeer. Aber nur im Süden von Chios gerinnt das Harz zu jenen Tropfen, die die Inselbewohner poetisch die Tränen des Mastixbaums nennen. Man nutzt sie für eine Vielzahl von Produkten, von Firnis oder Klebstoff bis zu Kaugummi, Kosmetika oder Räucherwerk.

    In der Europäischen Union besitzt Mastix mittlerweile den Status einer geschützten Ursprungsbezeichnung - so wie Parmaschinken, Spreewälder Gurken oder Champagner. Deutsche Naturkosmetikhersteller wissen sein Aroma ebenso zu schätzen wie einst türkische Haremsdamen. Und natürlich die Chioten selbst.
    "Wenn man Bauchschmerzen hat, zerkleinert man das Mastix, mischt die Teilchen mit Wasser und trinkt es dann. Das ist Medizin. Es ist nicht nur zum Kauen, es ist Medizin, es ist gesund für alles, man kann es für Süßigkeiten nehmen, für Sesamkringel, für alles."

    Maria Kuma ist eine flinke Frau, trotz ihrer 80 Jahre und der Gicht, die ihren Rücken gebeugt hat. Schon ihre Eltern besaßen Mastixbäume, und auch ihre Urgroßeltern.

    "Mit zehn oder zwölf habe ich bei der Mastixernte geholfen. Nein, ich war sogar jünger, etwa acht. Damals haben wir nicht mit dem kleinen Besen alles zusammengekehrt, sondern das Mastix Stück für Stück unterm Baum aufgeklaubt. Und dann sind die Händler gekommen und haben das für einen lächerlichen Preis gekauft. Heute sind andere Zeiten, es gibt die Kooperative - und ja, schon mit acht sind wir zur Mastixernte gegangen."

    Maria und ihr Mann Michalis haben bis vor wenigen Jahren das Cafenion in der alten Fluchtburg bewirtschaftet. Jetzt backt Maria ihre Kartoffelbällchen und frittierten Sardinen nur noch für Freunde und Verwandte. Sie und Michalis besitzen ein altes Haus mit zwei Stockwerken, aber sie leben meist in einem einzigen Raum: Dort steht ein großes Bett, davor ein Fernseher. In der Wand ist ein Brotbackofen eingelassen, der von zwei Marmorsäulen umrahmt wird. Die Kumas haben die Säulen vor Jahren auf ihrem Feld gefunden, unweit eines Apollotempels aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus. Im vergangenen Jahr haben die Eheleute auch die letzten Bäume ihrer Tochter überlassen.

    "Ich kann nicht mehr, wir sind jetzt 80 Jahre, wir können das beide nicht mehr, wir sind zu alt. Wir können uns nicht mehr unter die Bäume bücken, da kriegen wir ja einen Schlaganfall. Diese Arbeit müssen junge Menschen machen, flinke Menschen, man darf nicht zu dick sein, weil man sich unter die Bäume bücken muss, um sie anzuritzen. Das ist schwere Arbeit, nicht jeder kann sich unter die Bäume bücken, kann Michalis sich jetzt noch so bücken? Er wird auf seine Nase fallen. Und ich kann es auch nicht mehr, jedenfalls nicht so richtig."

    Nicht alle Alten haben wie Maria und Michalis das Glück, dass sie ihre Mastixbäume an die Kinder weitergeben können. Viele junge Chioten wissen gar nicht mehr, wie das geht, Mastixernten. Auch Vassilis Ballas musste es erst lernen.

    "Wir kamen vor drei Jahren und haben dieses Land von Frau Fotini in Olympi gekauft, sie hatte Probleme mit ihrem Bein, und sie wollte die entfernt gelegenen Felder verkaufen, ihre Kinder waren an der Feldarbeit nicht interessiert, und sie wollte nicht, dass die Felder ihrer Eltern verwildern und verwahrlosen, deshalb wollte sie die Felder an junge Leute geben, die sich darum kümmern."

    Vassilis ist Mitte 30, ein Lockenkopf mit weichen Gesichtszügen. Früher hat er als Webdesigner in Athen gelebt. Bis seine Vorstellung von einem guten Leben nicht mehr mit dem Job in einem IT-Unternehmen in Einklang zu bringen war. Sein Urgroßvater besaß Mastixfelder auf Chios. Nach einem Urlaub auf der Insel beschloss Vassilis mit seiner Freundin, etwas Neues auszuprobieren und Mastixfarmer zu werden.

    "Als wir die Felder übernahmen, war es Saisonbeginn, wir trafen uns mit Frau Fotini, kauften all das Werkzeug und verabredeten uns für den Sonntagmorgen, aber sie rief Samstagabend an und sagte den Termin ab; wir wollten aber unbedingt anfangen und es selber probieren, wir hatten ja auch ein paar Bücher gelesen. Wir haben dann für zwei Bäume fast drei Stunden gebraucht, nur fürs Saubermachen (lacht) und wir waren nicht sehr zufrieden damit. Am nächsten Tag gingen wir mit Frau Fotini und ihrem Mann los und waren erleichtert, als wir sahen, wie es ging. Wir waren viel schneller, aber immer noch langsam."


    2000 bis 3000 aktive Mastixfarmer gibt es heute auf Chios. Vassilis zählt zur jungen Generation, die nach Wegen sucht, sich die Arbeit zu erleichtern. Im Juni muss man den Boden unter den Bäumen von Blättern, Borkenstücken und Unkraut befreien. Die alten Chioten verwenden dafür einen Feger, Vassilis setzt mitunter auch elektrisches Gerät ein, einen Laubsauger. Auf die gereinigte Fläche wird weißer Puder gestreut, sodass die kostbaren Tränen möglichst sauber bleiben, wenn sie zu Boden fallen. Geerntet wird ab Juli, wenn es auf Chios normalerweise nicht mehr regnet.

    "Die ersten Einschnitte, die wir machen, haben einen speziellen Namen wir nennen sie Rinjasma, sie sind speziell, weil der Baum sich noch davon ausruht, alle Wunden geheilt zu haben, und dann fängt man wieder an mit den Schnitten, das ist brutal für den Baum. Man macht deshalb nur zwei oder drei Schnitte, wenn man zum ersten Mal zum Baum geht, das ist wie ein Weckruf, Sie teilen ihm mit, es ist der Beginn der Saison."


    Zweimal wöchentlich fährt Vassilis während der Erntezeit frühmorgens auf seine Felder, um die Bäume zu ritzen. Auf sechs Besuche pro Baum kommt er so während der zweimonatigen Erntezeit. Die Genossenschaft zahlt derzeit etwa 70 Euro pro Kilo Mastix - dafür muss Vassilis vier oder fünf Bäume abernten. Wenn er sein Pensum schaffen will, muss er schnell sein, aber er darf nicht zu tief schneiden, damit die Wunden des Baums sich wieder schließen können.

    "Es beginnt schneller und mehr zu laufen, aber die interessanteste Eigenschaft ist, dass es trocknet. Es ist wie beim menschlichen Blut, es hört auf zu rinnen und schließt die Wunde, dasselbe passiert hier. Deshalb trocknet es - nicht weil wir es sammeln wollen (lacht), sondern weil das Harz die Wunde schließen will."


    Die heilende Wirkung des Mastix, etwa bei Magengeschwüren, wurde bereits in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift beschrieben. Geschäftstüchtige Unternehmer entwickeln immer neue Produktideen, zum Beispiel für Mastixeis oder Tomatensoße mit Mastix. Den alten Leuten auf Chios schmeckt das nicht unbedingt, aber es gibt viele Kunden, die es mögen. Zehn Mastixgeschäfte öffneten in den letzten Jahren allein in Griechenland, auch in Paris und New York gibt es bereits Filialen. Allein der Anbau ist immer noch fast so umständlich wie im Altertum. Als die Mastixgenossenschaft vor einigen Jahren versuchte, den Ertrag der Bäume mithilfe von Chemie zu steigern, scheiterte sie kläglich. Die Bäume weinten wie verrückt, aber das Harz wurde nicht richtig hart. Auch das Sortieren der Tropfen nach der Ernte bleibt mühsam.


    "Die meiste Arbeit wird mit Wasser getan oder mit einer speziellen Technik - man kann den Wind nutzen, aber da ist auch eine spezielle Technik, die vor allem die alten Damen nutzen - auf die Weise hat man das Mastix in der Mitte und den Rest am Rand und man kann aussortieren, ohne Wasser zu brauchen, aber ich habe das probiert, das ist hart, eine falsche Bewegung - und alles ist wieder gemischt."

    Unter die Bäume können sie nicht mehr kriechen, Maria Koma und die anderen alten Frauen von Olympi. Aber im Herbst werden sie wieder vor ihren Häusern sitzen, abends, wenn die Sonne untergegangen ist und die Mauern die Wärme des Tages abstrahlen. Sie werden das Mastix sieben oder mit einem Messer kleine Steinchen aus den getrockneten Tränen pulen. So hat fast jedes Haus in Olympi sein Bernsteinzimmer. Hier lagern die gesäuberten Bröckchen auf dem Boden, einzeln nebeneinander, glitzernd wie Kristalle.