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"Die Kraft Berlins ist sehr groß"

Eberhard Diepgen war Berlins Regierender Bürgermeister mit der längsten Amtszeit. Von 1984 bis 1989 regierte er Berlin die fünf Jahre vor dem Fall der Mauer, dann weitere zehn Jahre von 1991 bis 2001. "Die wirklich spannende Zeit für die Zukunftsgestaltung Berlins lag nach der Wiedervereinigung", sagt er. Für die Zukunft müsse Berlin mehr Impulse auch für die gesamtdeutsche Politik geben.

30.10.2008
    Eberhard Diepgen. Am 13. November 1941 in Berlin-Pankow geboren. Studium der Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin. 1971 Wahl ins Abgeordnetenhaus von Berlin. Aufstieg in der Partei und Fraktion bis zum Landesvorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden. Von 1984 bis 1989 und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin. Damit der Regierende Bürgermeister mit der längsten Amtszeit. Heute Anwalt in Berlin.

    "Eberhard Diepgen: Ich fühle mich der Generation verpflichtet, die Freiheit wollte."

    Gegen den Strom der 68er

    Jepsen-Föge: Herr Diepgen, Sie sind ein echter, kein zugereister Berliner. Betrachten Sie diese Konzentration auf Berlin politisch gesehen rückblickend eher als Ihre Stärke oder Ihre Schwäche?

    Diepgen: Es gab eine Phase, wo es eine eindeutige Stärke war, weil die Berlinerinnen und Berliner es eigentlich leid waren, immer von außen Hilfe zu erwarten, obwohl es eine Grundmentalität in Berlin gibt. Man sucht immer die Unterstützung von anderen. Einerseits ein Vorteil, auch ein Vorteil übrigens, wenn man natürlich die Stadt kannte, auch emotional. Aber in der oftmals kritischen Betrachtung durch die veröffentlichte Meinung, da war es schon etwas schwierig, weil man immer mit dem Vorwurf der Provinzialität sich auseinandersetzen musste, etwas vereinfacht dargestellt.

    Jepsen-Föge: War es für Sie denn persönlich von Bedeutung, dass Sie im Ostteil der Stadt geboren wurden? Hat dies etwa Auswirkungen gehabt auf Ihre Einstellung, Ihre Einsichten und auch damit auf Ihre Politik?

    Diepgen: Ich will jetzt gar nicht auf den Geburtsort dabei kommen. Aber es hat natürlich eine Auswirkung gehabt, dass ich unmittelbar an der Sektorengrenze groß geworden bin, dass ich immer wieder nach Ostberlin gegangen bin und dass man die Entwicklung der Stadt erlebt hat. Mich persönlich beeinflusst hat weniger der Volksaufstand 1953, da war ich noch zu jung, sicherlich die Luftbrücke mit all den Folgen, etwas früher noch, aber vor allen Dingen der Volksaufstand in Ungarn 1956 - am Radio mitgehört, dabei übertragen auf all das, was es an politische Spannungen auch in Deutschland gab, der Bau der Mauer, die ich unmittelbar vom Fenster der Wohnung aus beobachten konnte. Das hat mich doch erheblich beeinflusst und war ein Stück Motivation meines späteren Handelns.

    Jepsen-Föge: Und auch Begründung dafür, sich politisch zu engagieren. Sie haben sich ja zunächst politisch engagiert an der Universität. Sie waren kurze Zeit erster Vorsitzender an der FU, später stellvertretender Vorsitzender des Verbandes deutscher Studentenschaften. Fühlen Sie sich eigentlich der Generation der 68er zugehörig, über die nun 40 Jahre später so viel gesprochen wird?

    Diepgen: So wie heute 68er definiert wird, nein. Ich fühle mich der Generation zugehörig, die in den 60er Jahren für eine Auflockerung, für Aufhebung von Verkrustungen gekämpft hat. Ich fühle mich der Generation verpflichtet, die Freiheit wollte, unser Grundsatz war der freie und verantwortliche Student. Aber das war etwas völlig anderes als die 68er.

    Jepsen-Föge: Hieß das auch, unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren?

    Diepgen: Jawohl, das gehörte alles dazu, und ich war ja auch verantwortlich, jedenfalls im Verband deutscher Studentenschaften für die damalige Aktion Bildungswerbung. Am 1. Juli demonstrierten an den Universitäten die Studenten für mehr Bildung für Bürger. Die Bildungskatastrophe, Picht schrieb damals darüber. Dieser Generation fühle ich mich verpflichtet, aber nicht denjenigen, die sich heute als 68er definieren und glauben, übrigens manchmal etwas in einer Übertreibung, die Veränderung der Bundesrepublik Deutschland eingeleitet zu haben.

    Da waren aus meiner Sicht, verzeihen Sie, wenn ich das so einfach sage, eine Fülle von Spinnern dabei. Es war emotionale Betroffenheit, zum Teil ja verständlich durch bestimmte Entwicklungen. Aber das war nicht wirklich meine Generation. Ich war für mehr praktische Politik, freiheitliche Politik. Und ein Stückchen Antikommunismus oder Skepsis gegenüber sozialistischen Theorien und Ideologien spielte bei mir immer eine wichtige Rolle.

    Jepsen-Föge: Sie sind da eher politisch gesehen, studentenpolitisch gesehen, gegen den Strom geschwommen? Sie waren auch Burschenschaftler, aus der Perspektive der Linken geradezu ein Reaktionär?

    Diepgen: Ja, es gab einen Hochschullehrer, der hat mal gesagt von mir, ich sei nicht reaktionär, sondern restaurativ. Und die Grundposition lässt sich vielleicht so beschreiben. Ich bin eingetreten in eine politische Partei. Vorher habe ich das alles immer abgelehnt, ich habe ja nicht geträumt, Politiker zu werden, aus Protest. Aber aus Protest gegen Manipulation von links. Das müsste man jetzt näher beschreiben, aber das führt eigentlich zu weit.

    Jepsen-Föge: Sie haben 1967 Ihr Jurastudium an der FU abgeschlossen. Das war ja das Jahr, in dem Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah vor der Berliner Oper durch eine Polizeikugel getötet wurde. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

    Diepgen: Ich war vorher ja im Verband Deutscher Studentenschaften tätig und bemühte mich dann, nun endlich mein Examen zu machen. Die unmittelbare Erfahrung war der Kampf um den Platz in den Instituten und in den Bibliotheken, dem man sich nämlich erkämpfen musste, und zwar gegen protestierende Studenten, die draußen waren. Ich glaube, in dem Zusammenhang spielt aber eine andere Erfahrung eine Rolle. Ich bin damals ganz bewusst zu einzelnen Veranstaltungen noch hingegangen, auch zu Rudi Dutschke, dessen ideologischen Konzeptionen ich nichts abgewinnen konnte, der mich beeindruckt hat durch seine Ausstrahlung, aber mehr verängstigt hat, ein typischer Demagoge aus meiner Sicht. Und heute verkennt man ja oft, sagen wir mal, die Vielfalt seiner ideologischen Zielrichtung.

    Übrigens für Berlin war damals ganz kennzeichnend: Das war eine studentische Bewegung, die sehr stark linksorientiert war, sich immer dem Verdacht aussetzte, von der DDR fremdgesteuert zu sein - ein Teil war es ja auch, wie man später in Stasi-Akten feststellen konnte. Und auf der anderen Seite Berlin, eine Stadt, die immer unter dem Druck der Sowjetunion, der DDR unter der Angst stand, dass die Kommunisten die Stadt vereinnahmen wollten. Und da baute sich das Spannungsfeld zwischen der damaligen studentischen Protestbewegung und den Berlinern und Berlinerinnen besonders intensiv auf. Die Amerikaner wurden als die Schutzmacht angesehen, die notwendig ist, um überhaupt die Freiheit in Berlin zu sichern. Und da gab es eine studentische Bewegung, die protestierte gegen alles, was von den Amerikanern ging. Der Vietnamkrieg spielte auch eine Rolle.

    "Diepgen: Ich wollte, dass Berlin so etwas wird wie eine Halbinsel durch verstärkte politische Bindung zur Bundesrepublik Deutschland."

    Verantwortung für Berlin

    Jepsen-Föge: Herr Diepgen, als Sie ins Abgeordnetenhaus einzogen, das war 1971, da regierte in Bonn die sozial-liberale Koalition. Es gab heftige Auseinandersetzungen über die Ostpolitik Willy Brandts. Es gab ja die ersten Kontakte Willy Brandts mit Willi Stoph in Kassel und Erfurt, die Treffen. Auch im Rathaus Schöneberg, hier in Berlin, regierte ein Sozialdemokrat, Klaus Schütz war das damals. Welche Rolle spielte Berlin in der Politik der Bundesrepublik Anfang der 70er Jahre, als Sie ins Abgeordnetenhaus einzogen?

    Diepgen: In einer nüchternen Analyse, Berlin war immer der Ort, an dem sich die Spannung zwischen Ost und West am stärksten widerspiegelten, in der Notwendigkeit, Konflikte zu lösen, aber auch in der Gefahr, dass gerade um Berlin die Konflikte in besonderer Weise deutlich werden und immer wieder herausgestellt werden. Das hatte etwas mit dem Bau der Mauer zu tun, mit den nachfolgenden Fragestellungen, mit dem Thema, was heute ja auch oftmals vergessen wird, dass die Berliner ja viel schlechter behandelt worden sind in allen Fragen des Reise- und Besucherverkehrs, dass all diese Probleme in Berlin auftauchten und auch die Wirtschaft, der wirtschaftliche Hintergrund.

    Berlin war immer sozusagen der Ort, an dem festgemacht werden musste, ob es überhaupt eine Lösung in einer Mitte Europas gibt und welche Rolle dann Berlin, und zwar der Westteil der Stadt, eingemauert dabei spielen müsste. Er hat immer die deutsche Frage offengehalten. Das war meine Position, aber ich glaube, das ist eine ganz objektive Analyse.

    Jepsen-Föge: Es gab damals, glaube ich, die Formel, die deutsche Frage bleibt solange offen, bis das Brandenburger Tor geschlossen ist.

    Diepgen: Ja, die Formel ist dann richtig immer weiter demonstrativ vorgetragen worden - übrigens trotz der Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland dann gerade diese Rolle Berlin meiner Ansicht nach übel genommen wurde und es ja eine Entwicklung gab, die immer mehr zur Anerkennung der beiden deutschen Staaten, und ich sage jetzt beiden deutschen Staaten und nicht beiden Staaten in Deutschland, geführt hat. Aber in den 70er Jahren gab es unterschiedliche Positionen. Heute sehe ich das anders, damals war ich noch skeptischer gegenüber Helsinki und Ähnlichem.

    Jepsen-Föge: Da will ich noch mal fragen. War da die CDU überhaupt im Bremsehäuschen der Entwicklung auf Bundesebene, die große Skepsis gegen die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition und in Berlin? Und Sie persönlich vielleicht auch, das frage ich, eher einer, der skeptisch war, und diesen Kurs abbremsen wollte?

    Diepgen: Ich gehörte auch damals zu den Skeptikern, weil ich befürchtete, dass die Folge dieser Politik eine Anerkennung der Teilung Deutschlands sein konnte. Heute weiß ich oder würde ich analysieren, dass alles zusammengehörte, übrigens auch die restriktive oder zurückhaltende Rolle der Union. Denn man musste ja darauf achten, dass erstens die Bevölkerung auch mitgenommen wird in einer solchen Politik. Man muss ja immer sehen: Die menschlichen Kontakte, die Fragen auch übrigens der Vertriebenen und, und, und…, die spielten ja eine wesentliche, auch innenpolitische Rolle.

    Und das zweite, man musste auch beachten, dass man in einer solchen Politik der Anerkennung nicht zu weit geht und damit die Sorge, die ich eben formuliert habe, der Anerkennung der zwei Staaten eben weiter vorangetrieben wird, ohne dass dabei wirkliche Ergebnisse für die Menschen nämlich, menschliche Kontakte, wirtschaftliche Kontakte, überhaupt das Miteinander auch wenigstens einer Kulturnation gegeben sein kann. Ich glaube, beides gehörte unmittelbar miteinander zusammen.

    Jepsen-Föge: Herr Diepgen, sprechen wir über die Zeit, in der Sie in verantwortliche Positionen kamen. Anfang der 80er Jahre änderten sich ja die Machtverhältnisse - in Bonn mit Bildung der christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl und Anfang der 80er Jahre auch in Berlin, 1981 wurde Richard von Weizsäcker zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt. Die CDU war dann die stärkste Partei. Sie waren zu der Zeit Fraktionsvorsitzender, vorher schon als Oppositionsführer, dann als Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei und haben dann Richard von Weizsäcker gleichsam, ich sage das mal so etwas, beerbt: Er kandidierte für das Amt des Bundespräsidenten - wie wir wissen, erfolgreich - und Sie wurden dann als sein Nachfolger ins Amt des Regierenden Bürgermeisters gewählt.

    Sie regierten dann Berlin die fünf Jahre vor dem Fall der Mauer, 1984 bis 1989. Lag eigentlich das Ereignis des 9. November 1989 damals im Bereich Ihrer Vorstellungskraft. Oder war nicht vielleicht auch Ihre Politik darauf angelegt, das Leben der Menschen in der geteilten Stadt zu erleichtern, die Mauer nicht zu beseitigen, aber sie durchlässiger zu machen, sie erträglicher zu machen?

    Diepgen: Meine Position war klar zu umreißen. Erstens, ich wollte die Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands offenhalten und wollte alles tun, um Möglichkeiten in dieser Richtung zu eröffnen. Zweitens, in dieser Situation alles zu tun, um ein geregeltes, nicht nur Nebeneinander, sondern in Teilbereichen auch Miteinander zwischen den beiden Staaten in Deutschland zu ermöglichen. Das hing zusammen mit intensiveren Kontakten zur anderen Seite, für Berlin besonders schwierig durch die statusbedingten Einschränkungen.

    Ich will es mal auf einen einfachen Nenner versuchen zu bringen, was mein Ziel war: Berlin war durch den Status im Grunde eine Insel inmitten der DDR. Ich wollte, dass Berlin so etwas wird wie eine Halbinsel durch verstärkte politische Bindung zur Bundesrepublik Deutschland. Da spielten viele Rechtsfragen eine Rolle, auch beispielweise die Frage, welche Verfassungsgerichtsbarkeit kann man in Berlin durchsetzen, welche Rechte der Alliierten aus dem Jahr 1945 müssen eigentlich erhalten bleiben. Verstärkung der Bindung und Verstärkung der Verbindung.

    Damals ist dann übrigens die Grundlage gelegt worden, immer in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, für die ersten Höchstgeschwindigkeitszüge zwischen dem Westen und Berlin. Es ging um den Stromverbund. Es ging um eine Erdgasverbindung und einen großen Erdgasspeicher in der Stadt. Es ging um eine weitere Transitverbindung durch Berlin. Das ist alles damals erreicht worden. Und daneben, das waren die Statusregeln, dann die Frage, inwieweit man sicherstellen kann, dass die Berliner leichter mit ihren Verwandten und Freunden in Ostberlin und in der DDR auch zusammenkommen.

    Jepsen-Föge: Erleichterte Besucherregelungen?

    Diepgen: Erleichterte Besucherregelungen, die Nachteile. Ich nenne mal zwei Punkte, weil die auf der einen Seite heute nur noch als lächerlich angesehen werden können. Mit Honecker musste ich verhandeln über die Frage, ob denn im Bahnhof Zoo ein behindertengerechter Aufzug eingebaut werden kann. Und mit Honecker wurde darüber verhandelt, warum denn die Berliner ihren Lieblingshund nicht beim Besuch mitnehmen durften, sondern nur die Besucher aus Hamburg. Hunde aus Berlin waren besonders verdächtig.

    "Diepgen: Ich fühlte mich um die Ernte gebracht."

    Der Fall der Mauer

    Jepsen-Föge: Für den Regierenden Bürgermeister Diepgen begann das Jahr 1989 natürlich nicht gut. Es gab Wahlen, Walter Momper wurde zu Ihrem Nachfolger gewählt, blieb dann zwei Jahre, aber war eben Regierender Bürgermeister in genau dieser Phase, als die Mauer fiel, und Sie waren von außen der Betrachter. Fühlten Sie sich um die Ernte dessen gebracht, was Sie da selber mitgesät haben?

    Diepgen: Wenn ich an die Zeit unmittelbar im November 1989 denke, dann haben Sie recht. Ich fühlte mich um die Ernte gebracht, fand das fürchterlich, dass jemand in dieser Phase Regierender Bürgermeister von Berlin ist, der die deutsche Wiedervereinigung nicht will. Und ich fühlte mich auch ein wenig betrogen um das, was wir an Aufbauarbeit in Berlin geleistet hatten. Denn die 80er Jahre waren ja dadurch gekennzeichnet, dass die tiefe Depression der Berliner überwunden werden konnte, nicht nur im Zusammenhang mit der 750-Jahr-Feier, eine Fülle von Aktivitäten deutlich wurde, sondern auch der wirtschaftliche Aufbau und eine Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung Anfang der 80er Jahre, Prognosen 1,5, 1,6 Millionen Einwohner und Ende dieser Legislaturperiode. 1990 waren wir bei zwei Millionen Einwohnern.

    Aber wissen Sie, ich werde ja oft dabei gefragt und habe mich da oft selbst geprüft. Das war eine kurze Phase. Danach gab es eine faszinierende Zeit des Jahres 1990 mit der Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern aus der damaligen DDR, eine Fülle von Veranstaltungen dabei. Man konnte mitwirken.

    Jepsen-Föge: Hatten Sie vielleicht sogar mehr Zeit, weil Sie nicht mehr Regierender Bürgermeister waren?

    Diepgen: Ja, ich habe dann auch oft darüber nachgedacht, ob es denn hilfreich wäre, wenn ich jetzt Regierender Bürgermeister wäre, ob ich im Hinblick auf die Frage Hauptstadt - beim Einigungsvertrag war ja eine Reihe von vertraglichen Regelungen - ob es da besser gewesen wäre, wenn ich da dran gewesen wäre. Kann ich alles nicht genau beurteilen, wahrscheinlich weil die Befindlichkeit der Reinbundrepublik nun mal so war, wie sie war, und auch ein CDU-Bürgermeister zwar mehr emotionalen Zugang zu dem einen oder anderen gehabt hätte, aber nicht wirklich diese Grundmentalität der Rheinbundrepublik hätte verändern können.

    Nein, Sie merken, ich bin da eigentlich mit mir gar nicht so unzufrieden. Und von heute weiß ich auch, wenn ich im Amt geblieben wäre, wäre ich nicht bis zum Jahre 2001 Regierender Bürgermeister gewesen. So ist die normale Entwicklung von Amtsträgern. Und die wirklich spannende Zeit auch für die Zukunftsgestaltung Berlins, die lag nach der Wiedervereinigung.

    Jepsen-Föge: Da werden wir auch gleich noch sprechen. Aber ist es vielleicht sogar Ausdruck auch der Stimmung der Bevölkerung, dass in dieser Phase, Fall der Mauer, bis 1991 ein Sozialdemokrat, Walter Momper, die Stadt regierte. Denn wir erinnern uns ja auch noch etwa an den 10. November, den Tag dem Fall der Mauer, als es eine große Veranstaltung gab vor dem Schöneberger Rathaus. Bundeskanzler Helmut Kohl unterbrach einen Besuch in Warschau, flog nach Berlin und flog dann wieder zurück. Und es war eine Stimmung, die nicht gerade eine Freude über den Fall der Mauer ausdrückte, sondern eher eine auch doch starke Gegnerschaft gegen Kohl. Und man hatte fast das Gefühl, wenn das ein Sinnbild dafür wäre, für die Stimmung, die Bevölkerung Berlins ist eher gegen eine Wiedervereinigung, die dadurch ausgelöst werden könnte.

    Diepgen: Sie betrachten bei dieser Frage etwas isoliert die Veranstaltung am Schöneberger Rathaus. Vor dem Schöneberger Rathaus hatten sich in der Tat Gruppen versammelt, die ich übrigens nicht als typisch für die Berlinerinnen und Berliner ansehe. Und ich will jetzt hier ganz bewusst einmal Walter Momper aus seinem Buch, in dem er die damalige Situation beschrieben hat, zitieren. Er sagte nämlich, er wunderte sich darüber, dass das nicht die Berliner waren, nicht die Berliner waren, die bei John F. Kennedy da waren, die die Geschichte Berlins erlebt haben. Und er wundere sich, wer da eigentlich zusammengekommen ist. Das war das oppositionelle Berlin, vielleicht auch noch aus dem anderen Teil Berlins sehr stark, nicht alle, ich will das nicht vereinfachen.

    Aber es gab ja eine andere Veranstaltung, an der Gedächtniskirche. Die sah ganz anders aus. Übrigens am 10. November hat mich zwar dieses Auspfeifen von Helmut Kohl, die Nie-wieder-Deutschland-Rufe besonders negativ berührt. Noch negativer berührt haben mich aber die damaligen Verhandlungen dann im Abgeordnetenhaus von Berlin über eine Resolution, wo ja die damalige Regierungskoalition aus SPD und heute sagt man Grüne, damals Alternative Liste, obwohl sich das auch da verändert hat als Alternative Liste, wo man sich nicht einigen konnte auf Formulierungen, wie man denn damit umgehen kann. Der Begriff Wiedervereinigung durfte überhaupt nicht, der Begriff Vereinigung durfte überhaupt nicht verwendet werden. Selbst Zitate von Willy Brandt, die versucht worden sind als Kompromiss einzubringen, wurden abgelehnt. Und auch hier zitiere ich Walter Momper, habe ich erst später mitgekriegt.

    Walter Momper schreibt in seinem Buch, eigentlich hätte er zu diesem Zeitpunkt angesichts der Gegnerschaft der Alternativen Liste zu aller aktiven Wiedervereinigungspolitik oder Politik der Vereinigung der Stadt, des Zusammenwirkens der Stadt die Koalition mit der alternativen Liste aufgeben müssen. Er konnte das nur nicht, gut, ich bin damals auch gar nicht auf die Idee gekommen, dass man so etwas machen konnte. Nur es beschreibt die damalige gesellschaftliche Situation.

    Und ich sage noch einmal, das waren nicht nur so die Berliner, sondern es gab da durchaus unterschiedliche Positionen. Und am Rathaus Schöneberg waren die, die eben vorher auch gegen Reagan demonstriert haben und sonst woher gekommen sind, die Fundamentalopposition aus der Bundesrepublik Deutschland und weniger der Stamm der Berliner, die heute oftmals als die blöden alten Westberliner bezeichnet werden.

    "Diepgen: Wir mussten sicherstellen, dass die Stadt zusammenwächst, die von erheblichen emotionalen Gegensätzen geprägt war."

    Aufgaben nach der Einheit

    Jepsen-Föge: Diese Koalition aus SPD und Alternative Liste zerbrach dann ja auch 1991.

    Diepgen: Sie ist abgewählt worden.

    Jepsen-Föge: Ist abgewählt worden und Sie wurden zum zweiten Mal zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Und das war, wahrscheinlich rückblickend für Sie, die noch wichtigere Zeit. Vielleicht schildern Sie mal, wie das in der Praxis ging, aus zwei Teilen einer Stadt oder zwei für sich ja genommenen Einheiten nun eine Stadt, eine Hauptstadt zu machen.

    Diepgen: Ein Teil der Vorarbeiten ist natürlich schon geleistet worden noch unter Walter Momper. Es gab damals die verfassungsmäßige Situation auch, dass es einen sogenannten Maxi-Senat gegeben hat, die Zusammenfassung der Regierung in Ostberlin, des Magistrats und des Berliner Senats zu einem Berliner Senat. Und da sind eine Reihe von Grundentscheidungen getroffen worden. Die wichtigste Aufgabe war, wir mussten sicherstellen, dass die Stadt zusammenwächst, die von erheblichen emotionalen Gegensätzen geprägt war.

    Westberlin war doch mehrheitlich der Ort, der seine gesamte Existenz auch begründet hat aus dem Kampf gegen die kommunistischen Machtansprüche. Und Ostberlin, das war der Konzentrationspunkt der kommunistischen, jedenfalls der Eliten eines zentralistisch-organisierten und von den Kommunisten bestimmten Staates. Das zusammenzukriegen war das Wichtigste. Für mich ging es dabei immer darum, dass emotional nicht das Gefühl entstehen kann, dass die sich immer als die Benachteiligten begreifen. Das war eine starke Belastung der Politik. Zweitens, es ging um den Aufbau der Stadt, es sind wichtige Grundentscheidungen für die Stadtentwicklung getroffen worden. Städtische Leitlinien, die europäische Stadt, das Aufgreifen der alten Straßen, Netze im Grunde - weil ohne das hätte es ein Chaos gegeben und wahrscheinlich wäre der Aufbau der Stadt erheblich verzögert worden. Es war die Grundüberlegung der Zusammenfügung von Alt und Neu, was heftig erkämpft werden musste zunächst einmal auch, übrigens gegen die Bundesregierung am Anfang, die ja am liebsten alle alten Gebäude abreißen wollte und eine gewisse Verzögerung in der Hauptstadtdiskussion damit erreichen wollte, und die Regierungsgebäude dann alle neu bauen wollte - auch weil es teurer ist und man deswegen gegen den Umzug argumentieren konnte.

    So war die Position der Administration da. Wir haben durchgesetzt, Alt und Neu zusammen, Sie können das feststellen an der Architektur heute des Reichstages oder auch des Parlaments, des Preußischen Landtages dabei, wo dieses im Einzelnen erreicht worden ist. Es waren wichtige stadtpolitische Entscheidungen bis hin zu den Grundlagen für die Verkehrsplanung innerhalb von Berlin, wie die Eisenbahn nach Berlin reingeführt wird. Das war eine unendlich spannende und interessante Phase.

    Jepsen-Föge: Hab ich Sie richtig verstanden, wenn Sie sagen, auch in Auseinandersetzung mit der Bundesregierung, auch Helmut Kohl als Vater der deutschen Einheit war er jemand, von dem Sie sich auch unterstützt fühlen könnten in der Frage, Berlin muss nun auch wirklich Hauptstadt werden? Oder vertrat Helmut Kohl vielleicht als Pfälzer eher eine Position, Bonn sollte doch Hauptstadt bleiben, was immer politisch vorher versprochen, gesagt worden ist?

    Diepgen: Ich würde die Rolle von Helmut Kohl insgesamt positiv für Berlin bewerten. Sie war vor dem Fall der Mauer offensiver und emotional deutlicher für Berlin. Das sehen Sie an seinen Grundentscheidungen, beispielsweise wie er sich in Berlin für bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen engagiert hat, wie er teilgenommen hat an den Konferenzen der deutschen Wirtschaft zur Unterstützung von Berlin, wie er sich bei der 750-Jahr-Feier verhalten hat, wie er die Gründung beispielsweise des Deutschen Historischen Museums dabei durchgesetzt hat.

    Nach der Wiedervereinigung kam Helmut Kohl aus meiner Sicht in eine komplizierte Situation mit jedenfalls starken Gruppen seiner Partei, auch meiner Partei, der Union, die massiv gegen Berlin als Hauptstadt waren. Es gehörte übrigens zu den Aufgaben damals, die Entscheidung, Berlin wird Hauptstadt, auch durchzusetzen. Das ist ja nur mit ganz knappen Mehrheiten im Bundestag gelungen. Und der Widerstand war massiv. Helmut Kohl versuchte dann immer etwas auszugleichen. Wobei ja dann allerdings, dazu war er viel zu sehr Historiker, sich im Ergebnis immer für Berlin ausgesprochen hat, auch für Berlin das eine oder andere gearbeitet hat, aber versuchte, die Spannung ein wenig abzugrenzen.

    Ich sage es mal etwas vereinfacht, seine Frau war emotionaler für Berlin als er. Und er war der Staatsmann, der Historiker, der das dann alles mit eingeleitet hat, aber mit großem Verständnis und großem Engagement für Einzelheiten in Berlin. Das sehen Sie an der Neuen Wache am Deutschen Historischen Museum, wie es dann nachher, ursprünglich sollte es ja da gebaut werden, wo ja heute das Kanzleramt ist. Heute eben in der Mitte und mit der hervorragenden Architektur von Pei, die einfach Kohl eben durchgesetzt hat. Da hat er sehr viel Positives für Berlin gemacht.

    "Diepgen: Die Rutschbahn, auf die wir immer vertraut haben, ist nicht sehr steil."

    Beharrungskräfte gegen Berlin

    Jepsen-Föge: Aber um das noch mal festzuhalten. Die Mehrheit in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und auch die Mehrheit der SPD-Fraktion und auch die Mehrheit der FPD-Fraktion war für die Beibehaltung, war für Bonn als Hauptstadt und eine Minderheit, eine knappe Minderheit für Berlin. Und wenn man es etwas überspitzt sagen darf, ist die Entscheidung, dass Berlin Hauptstadt wird, durch die geschlossene Haltung der PDS, heute der Linkspartei, entstanden. Ist das nicht irgendwo so etwas wie ein Treppenwitz?

    Diepgen: Es ist ein Treppenwitz, ja. Ohne die Abstimmung der PDS, die geschlossen war, wäre Berlin nicht Hauptstadt geworden. Die PDS hat das erst übrigens nachträglich ihre historische gute Leistung relativiert, weil sie nämlich später Anträge gestellt hat, dass man aus Kostengründen auf den Umzug verzichten sollte. Das gehört auch zur historischen Wahrheit dabei. Aber das Problem meiner Ansicht nach der Bundesrepublik Deutschland, und ich bewerte das immer als Restbereiche der klassischen Reinbundrepublik, bestand darin, dass alle großen Parteien mehrheitlich gegen Berlin als Hauptstadt waren. Und sie haben es nachher auch geschafft, das alles zu verzögern, und zwar mit ganz simplen Instrumenten, was ja auch bis heute Auswirkungen hat und die Berliner Politik erheblich erschwert hat.

    Man hat die Wachstumsmöglichkeiten und Erwartungen in Berlin hochgeschraubt, um zweierlei zu erreichen: Erstens, die Unterstützung Berlins schnell abbauen zu können mit all den fatalen Folgen in der Berlin-Förderung und in der Berlin-Hilfe und in den Arbeitsplatzentwicklungen innerhalb der Stadt selbst. Zweitens, mit diesem Wachstumsprognosen die Behauptung aufzustellen, die Hauptstadt würde niemals ihre Infrastrukturprobleme lösen können. Und deswegen, aus beiden Gründen, müsste eigentlich die Hauptstadt in Bonn bleiben. Drittens sind alle Kosten für den Umzug hochgerechnet worden und im Grunde ist erst ab Mitte der 90er Jahre nach unserem heftigen Drängen auch das Konzept mit Töpfer verwirklicht worden, dass wir die alten Gebäude in Berlin auch mit aufnehmen und historische Substanz in der Stadt noch mit selbst absichern.

    Das alles gehört dazu. Und, ich meine, aus dem Hauptstadtbeschluss, Berlin wird Hauptstadt, wurde ein Beschluss, Berlin und Bonn werden Hauptstadt. Die Rutschbahn, auf die wir immer vertraut haben, ist nicht sehr steil, denn auch heute sind mehr Bundesbedienstete in Regierungsfunktionen in Bonn angesiedelt, als das in Berlin der Fall ist. Und noch eins, eigentlich haben die Bonner ihren Widerstand nur erst dann aufgegeben, als der Rhein über seine Ufer getreten ist und das erst nach dem Fall der Mauer neu geplante Gebäude für Abgeordnete in Bonn dann nicht mehr verwirklicht konnte.

    Jepsen-Föge: Ist nicht der Rutschbahneffekt vielleicht verzögert, vielleicht Mitte der 90er Jahre sogar besonders stark geworden? Wenn Sie daran denken, dass auch ganz schnell etwa der Bundesrat beschlossen hat, was zunächst offengehalten worden war, hier in Berlin sein Zentrum zu haben, und dass Berlin heute viel mehr Hauptstadt ist, als es die provisorische Hauptstadt Bonn war. Weil eben nicht nur die Regierungsinstitution, Regierung, Parlament, der Bundespräsident, die Verfassungsorgane hier ihren Sitz haben, sondern viele Verbände, die vorher über die ganze Republik verstreut waren - so sehr, und deshalb die Frage, dass manche befürchten, eigentlich ist durch diese Konzentration auf Berlin der Föderalismus in Gefahr.

    Diepgen: Diese Gefahr sehe ich überhaupt nicht. Ich sehe eher die Gefahr in der Bundesrepublik, dass wir einen übertriebenen Föderalismus haben und ein Verständnis von Gesamtstaat immer weiter zurückgedrängt worden ist. Das sehen Sie auch an verschiedenen Kompetenzfragestellungen bis hin zu der Frage, wie man denn mit diesem Staat beispielsweise an seinem eigenen Staatsfeiertag, am 3. Oktober, umgeht. Man wandert da von einem Bundesland zum anderen und nennt das Ausdruck von Föderalismus. Übrigens ein starker Föderalismus braucht gerade eine starke auch Klammer. Und diese Klammer fehlt den Deutschen. Aber Ihre Frage Rutschbahneffekt. Nun darf man da überall nicht so schwarz-weiß malen. Das sehe ich schon so.

    Der Bundesrat ist dann nach Berlin gekommen, übrigens weil die Bayern schnell begriffen haben, die eigentlich gegen Berlin als Hauptstadt waren, aber die sind immer Pragmatiker gewesen, die haben gesagt, wenn wir nicht bei der Bundesregierung sind, verlieren wir an Einfluss und damit lief diese Entscheidung. Aber die anderen Entscheidungen haben sich alle länger hingezogen. Sie haben recht, im Grunde ist das von der Ausstrahlung Berlins als Hauptstadt, spielt das gar keine Rolle. Wer weiß schon, wer da alles noch in Bonn rumschwirrt. Aber für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins hat es doch erhebliche Bedeutung. Es ist nicht gelungen, beispielsweise die Zentralen von großen deutschen Unternehmen, auch wenn sie in Berlin mal gegründet worden sind, nach Berlin zu holen. Wir haben viele Repräsentanzen, aber wir haben nicht die Unternehmensleitung und damit die Steuereinnahmen und die Arbeitsplätze und dergleichen in Berlin. Wir haben eine erhebliche Verzögerung der wirtschaftlichen Entwicklung in Berlin selbst.

    Jepsen-Föge: Liegt das auch an der Politik, die in Berliner selber gemacht wird?

    Diepgen: Das kann ich natürlich so allgemein auch nicht verneinen. Aber wir haben beispielsweise, und jetzt will ich nicht in die Kritik der letzten Jahre eintreten dabei, wir haben intensiv zunächst einmal versucht, diese Zentralen hierher zu holen, haben schnell mitgekriegt, dass die das nicht wollen. Übrigens, es gab bei mir im Senat einen Beauftragten, der sich speziell um die Frage kümmerte. Auch alte Gebäude, wo deutsche Firmen gegründet worden sind, haben wir extra freigehalten, damit da auch wieder reinkönnen und, und, und… Mit vielen psychologischen und sonstigen Mitteln haben wir das versucht. Das funktionierte nicht.

    Wir haben dann natürlich die Wirtschaftspolitik in Hinblick auf die übrigens schon in den 80er Jahren begonnen Positionen Verbindung mit Wissenschaft aus Gründung von wichtigen Instituten, Adlershof ist heute ein bemerkenswertes Beispiel dafür, aber auch die Fraunhofer Gesellschaft und ähnliche Dinge dabei - dieses entsprechend fortzusetzen und europäische Zentralen hierher zu holen. Was natürlich auch ziemlich kompliziert war, weil, wenn Sie feststellen können, dass die Unterstützung und der Weg hin zur Hauptstadt Berlins in der bundesdeutschen Politik erheblich erschwert wird, können Sie die Erwartung, die international an die Hauptstadt eines großen Wirtschaftsfaktors gesetzt wird, nicht voll erfüllen. Ich weiß noch, wie ich mich immer bemühen musste, beispielsweise in Tokio den Sony-Leuten zu erklären, Sie können ruhig nach Berlin kommen. Die Lufthansa würde doch noch mal irgendwo nach Berlin kommen, und mit der Bundesregierung brauchten sie doch keine Sorge zu haben. Sie haben alle diese Fragen immer gestellt, was immer zu Verzögerungen für die wirtschaftliche Entwicklung in Berlin geführt hat.

    Jepsen-Föge: Und auch dazu geführt hat, dass Berlin heute im Grunde wie vor dem Mauerfall, wenn man so will, finanziell am Tropf der Bundespolitik hängt?

    Diepgen: Der Bund hat ja Berlin in der Zeit nach 1990 nicht besonders gut behandelt. Meiner Ansicht nach sogar rechtswidrig, obwohl man sich immer fragen muss, sehr sorgfältig fragen muss, ob man da Rechtswege einschlägt. Das betraf die viel zu schnelle Reduzierung der Berlin-Förderung, auch die Unterstützung des Haushaltes selbst. Im Grunde hat die bundesdeutsche Politik Berlin in die Schuldenfalle getrieben. Ich will nur ein Beispiel nenne: Innerhalb eines Jahres, das war 1994, hat die Bundespolitik noch im Dezember eines laufenden Haushaltsjahres die Zuschüsse für Berlin, den Ausgleich des Haushaltes, auf den wir früher in der Zeit der Teilung einen Rechtsanspruch hatten, weil ja Berlin nicht in den Länderfinanzausgleich einbezogen war, um noch mal 800 Millionen gekürzt. Wie sollten Sie das ausgleichen, ohne nicht in die Verschuldung zu gehen?

    Wir haben alle Sparmaßnahmen getroffen bei den erhöhten Anforderungen der Wiedervereinigung, Aufbau Ost vor Ausbau West, massive Leistungen gerade in den Aufbau des Ostteils der Stadt, der übrigens durch die Westberliner finanziert worden ist, das war notwendig. Und dennoch sind die Mittel immer weiter reduziert worden und die Sparüberlegungen konnten gar nicht so groß sein, wie die zusätzlichen Einsparungen, die der Bund einem auflastete. Deswegen ist man immer wieder in Netto-Neuverschuldung gekommen. Und das ist die Grundlage für das, was heute die Finanzsituation der Stadt ausmacht.

    "Diepgen: Die Kraft Berlins ist sehr groß."

    Die neue Rolle der Hauptstadt

    Jepsen-Föge: Herr Diepgen, zum Schluss, was Sie sagen, das erinnert mich an den Satz "Berlin ist arm, aber sexy". Lassen Sie uns einmal auf die jetzige Situation gucken und in die Zukunft über die Rolle, die Berlin spielt und nach Ihrer Einschätzung spielen könnte. Berlin ist ja von außen betrachtet eine überaus attraktive Stadt, offenbar nicht für Investoren, das haben Sie eben dargestellt.

    Diepgen: Nicht ausreichend.

    Jepsen-Föge: Nicht ausreichend für Investoren, aber etwa für junge Leute. Die strömen in diese Stadt, haben das Gefühl, viele Künstler, viele kreative Menschen: Hier in Berlin ist Aufbruch, hier tut sich etwas. Berlin ist eigentlich eine, wenn nicht die attraktivste Stadt der Welt. Hat Berlin damit seine Rolle gefunden oder welches sollte die Rolle Berlins sein?

    Diepgen: Etwas vereinfacht ausgedrückt, Berlin ist attraktiv für junge kreative Kräfte, die noch mal leben wollen, die die Chancen einer Großstadt auskosten wollen. Aber Berlin ist nicht attraktiv für diejenigen, die Geld verdienen müssen und wollen. Und damit ergeben sich auch Wanderungsbewegungen in der Stadt selbst. Berlin ist im Augenblick selbstverständlich schon die Hauptstadt als Ausstrahlungsort, muss sich übrigens dieser Verantwortung immer mehr bewusst werden. Denn die Architektur hier, die übrigens auch in einer großen Vielfalt angelegt worden ist in den 90er Jahren, das ist die Architektur, die international als die deutsche Architektur angesehen wird, um nur diese Beispiele zu nennen.

    Ich glaube, dass eine Großstadt, ein Ballungsgebiet wie Berlin, nur, so wichtig das ist, auch als Wirtschaftsfaktor, von Kultur und dieser Kreativität nicht leben kann, sondern wir müssen die wirtschaftliche Basis im Sinne von Industrie, industrienahen Dienstleistungen, der Nutzung auch für wirtschaftliche Wertschöpfung dessen, was wir im Bereich der Wissenschaft und der Bildungsinstitution in der Stadt haben, doch noch viel stärker nutzen.

    Nun wollen Sie wissen, wie ich die Zukunft für Berlin dabei sehe. Erstens, ich glaube, Berlin muss mehr Impulse auch für die gesamtdeutsche Politik geben. Ich habe mich immer darum bemüht, niemand darf den Eindruck haben, er wird benachteiligt, er wird nicht ernst genommen, was im Verhältnis in Deutschland zwischen Ost und West immer noch eine wesentliche Rolle spielt. Deswegen haben wir auch die klare Politik der Angleichung der Lebensverhältnisse vorgenommen, auch bis hinein in die Tarifpolitik. Im übertragenen Sinne müssen von Berlin solche Impulse für ganz Deutschland, nämlich von Berlin als der deutschen Hauptstadt ausgehen. Da sehe ich eine erhebliche Lücke. Zweitens, wissen Sie, die Kraft Berlins ist sehr groß. Ich glaube auch, dass es einen Bevölkerungszuwachs in der europäischen Wanderung in die Metropole Berlin geben wird. Und Politik kann die positiven Entwicklungen nur verzögern, aber nicht verhindern.

    Jepsen-Föge: Vielen Dank, Herr Diepgen.