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Die Krimi-Kolumne April 2009

Ein Tusch! Ein Schrei! Ein Rezensent! Die Krimikolumne! Heute schwergewichtiger denn je, nämlich ...als Gesamtausgabe der Gesamtausgaben... mit dem perfekten Krimi ... mit einem gigantisch unlesbaren Roman und als Höhepunkt ...einem grandiosen Schwergewichts-Boxkampf ... und einem alten Kiffer an Spaniens Strand.

Ein Beitrag von Andreas Ammer |
    Letzte Woche ist unserem Rezensenten etwas Komisches passiert!

    Ich halte ja unseren Rezensenten für komisch.

    Ihm flatterten knapp 3 Kilo, genauer gesagt, 2889 Gramm Kriminalliteratur auf den Tisch. Gut abgehangen! Schwedische Ware.

    Etwas lustlos blätterte er in einer neuen Gesamtausgabe. Eigentlich wollte er nur das neue Vorwort zum ersten Band lesen. Henning Mankell hat es geschrieben, und er berichtet, wie es ist, nach so langer Zeit - immerhin 35 Jahre später - einen - Zitat - "modernen Klassiker" wieder zu lesen.

    Werter Sprecherkollege, Sie sprechen sicher von Sjöwall/Wahlöö, dem schwedischen Autorenduo, das in den sechziger Jahren den Krimi revolutioniert hat?

    Exakt!

    Die den heute - nur noch Sonntagabend-Fernsehzuschauern bekannten -"Kommissar Beck" erfunden haben? - Die zusammen zehn Krimis von zeitloser Schönheit geschrieben haben, bis Per Wahlöö 1975 starb? Die jetzt neu übersetzt und mit Vorworten heute bekannter Krimi-Autoren bei rororo als Taschenbuch-Gesamtausgabe erschienen sind?

    Genau, davon sprecht ihr beide gerade.

    1965 erschien "Die Tote im Götakanal", der erste der Sjöwall/Wahlöö-Krimis.

    1965 - Keine Handys, keine Computer, es wird geraucht. Überall und dauernd. Und all das fällt beim heutigen Lesen nur auf, weil der Rest des Krimis frisch, zeitgemäß und modern wirkt, als sei er gestern geschrieben.

    Lange standen Sjöwall/Wahlöö im Ruf, einen etwas braven, sozialdemokratisch realistischen Krimi erfunden zu haben.

    Ein Irrtum! Ein großer Irrtum!

    Liest man heute ihre Krimis, so sind sie ... na Herr Rezensent?

    Perfekt! Einfach perfekt! Lange keinen so guten Krimi gelesen.

    Man hatte vergessen, wie genau gebaut, wie perfekt gedacht, wie spannend geschrieben Sjöwall/Wahlöö-Krimis sind. Nehmen wir als Beispiel den ersten: "Die Tote im Götakanal".

    Der Krimi beginnt mit einem Verwaltungsakt: Die Kanalgesellschaft fordert beim Amt für Wege- und Wasserbau einen Schwimmbagger an.

    Als der Schwimmbagger, genannt Schlammkacker, eine Tote hervorbaggert, die keiner kennt, nimmt der Krimi scheinbar langsam seinen Lauf. Er stellt mit dem literaturhistorisch folgenreichen Satz:

    "Martin Beck putzte sich lange und sorgfältig die Zähne, um den Bleigeschmack im Mund loszuwerden"

    ... einen der populärsten Kommissare des letzten Jahrhunderts vor. Dann ...

    ... passiert lange nichts ...

    ... denn die Tote kann nicht identifiziert werden, es gibt keine Vermissten, keine Verdächtigen, nichts ... außer dem Vergehen der Zeit, ...

    ... dem Warten ...

    ... einer Packung Zigaretten zwischendurch ...

    ... und einer Spannung, die sich langsam, aber stetig aufbaut, ...

    ... während die Zeit vergeht ...

    ... und eigentlich nichts passiert.

    Das ist toll,

    das ist grandios,

    das ist das tollste, was ich seit langem gelesen habe.

    Allein die Idee, wie Komissar Beck, ewig rauchend und ewig von Übelkeit und seiner lieblosen Ehefrau geplagt, schließlich in der Mitte des Krimis

    ... dürfen wir das verraten? ...

    ... klar, denn jeder wahre Krimifreund kennt Sjöwall/Wahlöö, die Autoren mit den drei Ö eh schon ...

    ... wie sich also Kommissar Beck aus hunderten von zufälligen Urlaubs-Schnappschüssen ein Bild der Ermordeten, die keiner kennt, zusammensetzt, wie sein Assistent dann haarscharf schließt, dass niemand die Frau, die keiner kennt, umgebracht haben kann,

    ... und wie dann am Ende die Spannung nicht dadurch aufgelöst wird, wer der Täter ist, sondern wie er gefasst wird.

    Das ist toll,

    das ist grandios,

    das ist das Tollste, was ich seit langem gelesen habe.

    ... urteilt unser Rezensent über die zehnbändige Neuübersetzung und Neuherausgabe der 10 Sjowall/Wahlöö Kommissar Beck-Krimis, die gerade als Taschenbücher und mit neuen Vorworten schwedischer Krimi-Heroen wie Liza Marklund, Arne Dahl, Hakan Nesser oder Henning Mankell bei rororo erschienen sind.

    Überhaupt ist es der Frühling der guten alten Autoren und der neuen Gesamtausgaben. Außer der beglückenden Sjöwahl/Wahlöö-Ausgabe knallte noch einiges an "Sämtlichen Werken" auf den Tisch des Rezensenten:

    973 Gramm. ein backsteingroßes Ärgernis Folge 1: Leo Malet.

    "Paris des Verbrechens - Nestor Burmas klassische Fälle" - gesammelt vom Verlag 2001. Ebenfalls 10 Krimis; diesmal aus 10 Pariser Arrondissements für weniger als 10 Euro. Geschrieben vom Ex-Clochard und Surrealistenfreund Leo Malet. 1181 Seiten kriminalistischer Postsurrealismus um den Pariser Privatdetektiv Nestor Burma.

    Aber wer soll in einem Band ohne Sehnenscheidenentzündung lesen?
    Und wieso sind dann nicht einmal alle 15 Romane aus Malets Serie "Die neuen Geheimnisse von Paris" in dem Sammelband enthalten?
    Fragen!- Die Antwort:

    Weil es sich um billige Reprints handelt.

    Die Drittverwertung einer ambitionierten Verleger-Leistung aus den 80iger-Jahren. Damals entdeckte der Elster-Verlag Leo Malet für Deutschland. Er stellte jedem Band der Nestor-Burma-Reihe einen Plan des Arrondissements voran, in dem der Krimi spielte.

    ... und außerdem gab es dazu noch einen beglückenden "Nachgang", in dem der Herausgeber der Reihe, Peter Stephan, die Schauplätze der Krimis im heutigen Paris suchte. Die Reihe durchwehte das Flair der Surrealisten und man spürte den Atem des Flaneurs Walter Benjamin in jeder Zeile.

    Diese Liebe fehlt der Ausgabe von 2001 völlig.

    Und plötzlich ...

    fällt unserem Rezensenten auf ...

    ... dass Leo Malet vielleicht gar kein so guter Krimi-Autor ist wie ... na?

    Sjöwall/Walhöö?

    ... oder Friedrich Glauser.

    Friedrich Glauser,

    Auch von Friedrich Glauser hat der Verlag 2001 auf 1108 Seiten "Sämtliche Kriminalromane" in einem knallroten Band versammelt. Das lässt sich zwar eben so wenig lesen, ist dafür aber noch billiger: 7 Euro 99 kosten alle fünf Wachtmeister-Studer-Romane plus einem weiteren Glauser-Krimi.

    Gesamtgewicht ... Moment! äh 1148 Gramm - Lesbarkeit: Null!

    Die Existenz dieses Baumbestand und Editionsleistungen gefährdenden Wälzers verdankt sich dem am 1. Januar abgelaufenen Urheberrecht an Glausers Werken. Jeder kann jetzt mit Glausers Texten machen, was er will. Der Verlag 2001 richtet ihn zu Grunde.

    Rührend um Glauser gekümmert hat sich in den letzten Jahrzehnten der Schweizer Bernhard Echte. Er rettete persönlich die Briefe Glausers in einer dramatischen Aktion aus einem Müllwagen; er edierte und kommentierte sorgfältig alle Werke Glausers. Wer Glauser lesen will,

    ... was heißt wollen? - jeder Krimikolumnen-Hörer muss Glauser gelesen haben!

    ... wer diesem Befehl unseres Rezensenten folgen will, der muss ein wenig, aber nicht viel mehr Geld drauflegen. Für ein paar Euro zusätzlich sind im Unionsverlag alle Glauser Werke erschienen: Hervorragend ediert, sorgfältig kommentiert und mit intelligenten Nachworten versehen von Bernhard Echte.

    Jeder Verlag hat das berechtigte Interesse, mit seinen Autoren Geld zu verdienen. Das führt dazu, dass die Verlage die immer gleichen Werke ihrer erfolgreichsten Autoren immer neu auflegen.

    ... das kann zuweilen auch zu wunderschönen Büchern führen...

    ... zu denen die Georges-Simenon-Sämtliche-Maigret-Romane-Ausgabe bei Diogenes zählt. Zur zeit befindet man sich bei Band 52 von 75. "Maigret hat Skrupel", heißt dieser 52te Krimi. Er wurde in den letzten 50 Jahren seit Erscheinen 8 mal in 2 verschiedenen Übersetzungen veröffentlicht, 3 mal verfilmt und 2 mal verhörspielt, ...

    ... aber noch nie lag er so gut in der Hand wie heute.

    226 Gramm, 9 Euro, 1 fester Einband, eine Nacht voller Seligkeit.

    Wer ein Schwergewicht, aber keinen alten Krimi lesen möchte, der greife zur Taschenbuchausgabe eines Wälzers, eines wahren Wälzers, eines Buches, das den Namen Wälzer auch verdient:

    Vikram Chandra, Der Pate von Bombay, Aufbau Verlag

    Vikram Chandra ist einer der erfolgreichsten indischen Autoren und "Der Gott von Bombay" ist mit Sicherheit das dickste Buch, das unserem Rezensenten dieses Jahr untergekommen ist: 892 Gramm Taschenbuch, 1325 Seiten plus Anhang: plus vier Seiten "Handelnde Personen", plus 26 Seiten Glossar: Eine dringend notwendige Erklärung indischer Spezialausdrücke.

    1359 Seiten, so viel hat unser Rezensent noch nie am Stück lesen müssen?

    Frag du ihn!

    Naja, ich bin so mittendrin ...

    Aber schon mittendrin lässt sich ermessen: Ein Ereignis! Ein Buch, das unbedingt empfohlen gehört:

    "Der Pate von Bombay" ist ein Buch zur Indien-Renaissance: schrill wie "Slumdog Millionär", übervölkert wie Mumbai, kompliziert wie eine Reise dorthin.

    Inspektor Sartaj Singh ist in der exotischen Stadt Mumbai selbst noch einmal ein Exot: Er ist der einzige Sikh-Inspektor der Stadt. Der einzige also, der einen Turban trägt. Ein Anonymer Anrufer verrät ihm das Versteck von Ganesh Gaitone, einem berüchtigten Gangsterboss der Stadt. Gaitone hat sich in einem unzugänglichen Betonkubus versteckt. Er verhöhnt Singh über die Sprechanlage und als Singh mit dem Bagger anrückt, findet er Gaitone tot auf.

    Viel mehr wissen wir nicht, weil unser Rezensent mit dem Lesen noch nicht weiter ist ...

    ... wahrscheinlich hängt er nur vor dem Fernseher und guckt Sport.

    Neben dem Polizisten und dem Privatdetektiv gibt es für uns unbescholtene Bürger noch einen weiteren Zugang zur Welt es Verbrechens und der Niedertracht: Es ist die sogenannte "Halbwelt", ein stygisches Reich voller Huren und Boxer, Geldwäscher und bezahlter Schläger.

    Lange bevor "Boxen im Ersten" zum öffentlich-rechtlichen Programmauftrag wurde, waren Boxer überlebensgroße Helden, filigrane Körperkünstler und potentielle Verbrecher. "Die artige Kunst" heißt ein ganz und gar wunderbares Buch von A.J. Liebling, in dem dieser in langen Reportagen, die in den fünfziger Jahren für das renommierte Magazin "The New Yorker" geschrieben wurden, aus der Welt des Boxsports berichtet.

    "Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfes", heißt das Buch im Untertitel. A.J. Liebling beherrscht darin die Kunst, über einen Boxkampf, der 2 Minuten und 45 Sekunden dauert, eine 20-seitige spannende Reportage zu schreiben.

    Bevor der Fußball von einem Freizeitvergnügen zum Welterklärungsmodell wurde, noch bevor die Superzeitlupe jeden schnellen Uppercut auf Szenenlänge ausdehnt, war der Boxsport bei aller Brutalität auch ein intellektuelles Vergnügen gewesen.

    Beweis?

    Einfach zitieren, hier!

    "Rocky Marciano blieb zwei Sekunden am Boden. Ich wusste nicht, was in Mr. Moore ..."

    Mr. Moore, das ist Archie Moore, der Herausforderer Rocky Marcianos im Schwergewichts- Weltmeisterschaftskampf von 1955 im New Yorker Yankee Stadion ...
    "... was in Mr Moores Brust vorging, als er ihn aufstehen sah. Einen Augenblick lang mag er sich gefühlt haben wie Don Giovanni, als die Statue des Commendatore die Hand nach ihm ausstreckt (verwirrt, weil er doch glauben durfte, er habe den Mann bereits umgebracht), oder wie Ahab, als er sieht, das der Wal Fedallah mit Tauen und Harpunen in die Tiefe gezogen hat. Jedenfalls zögerte er ein paar Sekunden und das war angemessen."

    Mit der Schilderung dieses Kampfes endet das Buch. A.J. Liebling geht hinaus und belauscht zwei New Yorker Polizisten, wie sie darüber diskutieren, warum Walt Disney sich nie an eine Verfilmung von Kafkas "Verwandlung" gewagt habe.

    A.J. Liebling konstatiert noch, dass er beim Thema Kino nicht mitreden könne ...

    ... und damit geht eine Welt zugrunde. Der Marciano-Moore-Kampf wurde 1955 in 133 Kinos in 92 Städten gezeigt. Er markiert auch das Ende der literarischen Berichterstattung von solchen Ereignissen.

    Unser Rezensent ist ganz stumm erstarrt. ...

    Hingerissen, angezählt, ja: ausgeknockt ...

    ... ist er von der stillen Größe und Kraft der Box-Essays von A.J. Liebling, erschienen im Berenberg-Verlag unter dem Titel "Die artige Kunst".

    Und wir dürfen es verraten, ohne die Spannung wegzunehmen:

    Rocky Marciano hat den Boxkampf in der neunten Runde doch noch gewonnen.

    ... und aktuell? gibt es denn gar nichts Gutes, das dem strengen Auge des Rezensenten standhält? - Was Deutsches gar?

    Klar doch: Jörg Juretzka.

    Jörg Juretzka gehört zu den Spaßvögeln des Absurden, die in den neunziger Jahren den Krimi mit frechen Sprüchen, hanebüchenen Fällen und kuriosen Helden vom Ernst der Sjowall/Wahlöös und Mankells befreit haben. Damals eine Offenbarung.

    "Alles total groovy hier" heißt der neue, bei Rotbuch erschienene Krimi, von Jörg Juretzka, der sich immer noch Fälle für den spätpubertierenden Motorradgangkommunarden Kristof Kryszinski ausdenkt.

    Kryszinski hat schon auf Kreuzfahrtbooten angeheuert. Das war haarsträubend und lustig. Diesmal landet er in einer spanischen Hippiekommune und schliddert zwischen Steine werfenden Zigeunern und dauerbekifften Hippie-Campern arg knapp an allen verfügbaren Klischees vorbei. Das muss man mögen.

    Ich mag es!

    ... sagt unser Rezensent, aber diesmal ist es eine Liebe mit schlechtem Gewissen. "Alles total groovy hier!" ist so halbwitzig wie der Titel, und die Kiffergeschichte wirkt über Strecken wie ein Witz, über den man nur bekifft lachen kann.

    Aber unser Rezensent kifft doch gar nicht!

    ... und deshalb wechselt Juretzka in der Mitte des Buches die Gangart. Action und Dramatik verdrängt den Witz, Sklavenhändler die Hippies, ein Krimi die Blödelei. Tempo,

    Aus! Schluss! Guter Krimi!

    ... meint unser Rezensent zu Jörg Juretzkas "Alles total groovy hier", erschienen als ganz normales, 343 Gramm schweres Büchelchen bei Rotbuch.

    ... und für all diejenigen, die Jörg Juretzka noch nie gemocht haben, die meinen, dass ein Box-Buch nichts in einer Krimi-Kolumne zu suchen hat oder die in den 60er-Jahren von Sjöwall/Wahlöö-Krimis schon genug hatten, für all diejenigen gilt auch dieses Mal wie schon seit 19 Jahren:


    Die Krimi-Kolumne im Überblick:

    Vikram Chandra: "Der Pate von Bombay"
    (Aufbau Taschenbuch 2483)
    Friedrich Glauser: Sämtliche Studer-Romane
    (Zweitausendeins)
    Friedrich Glauser: Sämtliche Studer-Romane
    (Unionsverlag)
    A.J. Liebling: "Die artige Kunst"
    (Berenberg-Verlag)
    Jörg Juretzka: "Alles total groovy"
    (Rotbuch)
    Leo Malet: "Paris des Verbrechens"
    (Zweitausendeins)
    Georges Simenon: "Maigret hat Skrupel"
    (Diogenes detebe 28352)
    Sjöwall/Wahlöö: "Die Tote im Götakanal"
    (rororo 24441)
    Sjöwall/Wahlöö: Kommissar Beck Romane, 10 Bände
    (rororo)