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Die Krimi-Kolumne Oktober 2010

Das Ende - soviel ist sicher - ist nah. Reihum sterben in den Romanen nicht nur die Menschen, sondern in diesem Herbst auch gerne die Helden. Deshalb heute in der Krimi-Kolumne: Heldentode! Die Meisterstücke des Genres.

Von Andreas Ammer | 22.10.2010
    Die Krimikolumne, diesmal: Fünfeinhalb Vorschläge für ein aufregendes Leseerlebnis.
    Die Krimikolumne, diesmal: Fünfeinhalb Vorschläge für ein aufregendes Leseerlebnis. (Stock.XCHNG / Nate Nolting)
    Mindestens zwei Antworten auf die Frage: Wie bringe ich meinen Helden glaubhaft um die Ecke? Oder meinen Rezensenten?

    "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!", rezitiert dieser.

    Oje, das verspricht, inhaltsschwer zu werden. Ach wo, so klug ist der nicht. Wir beginnen mit dem doppelten Ende!

    Praktisch gilt: Künstler, die ihrer Kunst abgeschworen haben, gelten in jeder Gattung als Inbegriff der Kunst.

    So in der Malerei: Marcel Duchamp gilt als der Inbegriff des Avantgardisten und war Zeit seines Lebens vor allem dafür bekannt, nach dem "Großen Glas" von 1921 keine Kunstwerke mehr zu fabrizieren.
    So auch in der Musik: Giuseppe Verdi, der Inbegriff des Opernkomponisten, betrachtete nach dem "Requiem", das er mit 60 Jahren schrieb, sein musikalisches Werk als abgeschlossen.
    Und so auch in der Dichtkunst: Arthur Rimbaud gilt heute noch als Inbegriff eines Poeten, bloß weil er im zarten Alter von 21 Jahren die Dichtkunst für alle Zeiten aufgab.

    Das Krimigenre steht da nicht hinten an: 1893 stürzte Sir Arthur Conan Doyle seine berühmteste Erfindung, Sherlock Holmes, in die Schweizer Reichenbachfälle, um sich ein für alle Mal von seiner Figur zu befreien, die ihn buchstäblich als Geisel genommen hatte.

    "If I had not killed him, he certainly would have killed me", soll Doyle zu seiner Mutter gesagt haben, als sie versuchte, ihren Sohn von seinem mörderischen Vorhaben abzubringen.

    Und damit zur aktuellen Krimiproduktion.

    Die Abschaffung des eigenen Helden ist die - selten gelingende - Königsdisziplin des Genres, für die Krimi-Autoren manchmal erstaunliche Konstruktionen ersinnen. Während Doyle es bei Sherlock Holmes noch mit schlichtem Mord versuchte, hat Wolf Haas am vermeintlichen Ende der Brenner-Reihe sogar seinen Ich-Erzähler erschossen. Henning Mankell beschloss, seinen allzu populären Helden Wallander einfach dement werden zu lassen, nur um keine Zeile mehr über ihn schreiben zu müssen.

    Und damit nun wirklich zur aktuellen Krimiproduktion.

    Kinky Friedman, "Zehn kleine New Yorker", Edition Tiamat
    Gleich im Untertitel kündigt der Krimi-Kolumnen-Liebling Heinrich Steinfest an, dass es um seinen Ermittler Cheng in dem gerade erschienenen Piper-Taschenbuch "Batmans Rückkehr" jetzt geschehen sein wird. "Chengs letzter Fall" heißt der Band im Untertitel.

    "Zehn kleine Negerlein" heißt hingegen der wohl definitiv letzte Krimi des anderen Krimikolumnen-Säulenheiligen, der sich Kinky Friedman nennt und sich vor einigen Jahren vom Autorenleben ins Politikerdasein gerettet hat. Nicht ohne zuvor sein Alter Ego, den New Yorker Vollzeit-Taugenichts und Nebenher-Detektiv Kinky Friedman artgerecht zu entsorgen.
    Fünf lange Jahre hat es gedauert, bis Kinky Friedmans Abschied vom Krimi-Genre, sein 17. und letzter Kinky-Friedman-Roman, ins Deutsche übersetzt wurde. Fünf Jahre, in denen viel geschehen ist.
    In dieser Zeit ist Kinky, der Ex-Countrysänger und Ex-Schriftsteller, zum Ex-Politiker gereift. Er hat im Wahlkampf um den texanischen Gouverneursposten achtbare 13 Prozent erreicht und trotzdem deutlich verloren. Mittlerweile verkauft er eine eigene Zigarrenserie. Seine Marken heißen Kinkychristo, Texas Jewboy oder The Willie. Auf seiner Internetseite kann man etwas traurige Bilder dieser Aktivitäten beweinen.
    Verwirrende Mutationen eines immer kreativen und nie politisch oder sonst wie korrekten Menschen. Die vorletzte Mutation Kinkys erscheint nun endlich in der Übersetzung von Astrid Tillmann auf Deutsch: "Zehn kleine New Yorker", Kinkys Abschiedsroman, von dem man von Anfang an weiß, dass er nicht gut ausgehen wird.

    Dafür bekommt man gegen Ende des Romans endgültig Aufschluss darüber, welches Verhältnis eigentlich der wirklich existierende Autor Kinky Friedman zu seinem gleichnamigen Helden hat. Auf die Frage nach Fiktion und Nicht-Fiktion legt der nicht-fiktionale Kinky seiner Fiktion die Worte in den Mund,

    "dass die fiktionale und die nicht-fiktionale Welt überlappende Welten sind, in denen vieles, was die nicht-fiktionale Welt umfasst, nicht stimmen mag und vieles, was die Welt der Fiktion ausmacht, tatsächlich stimmen kann"
    Da uns diese Weltweisheit wiederum eine fiktionale Figur erläutert, so mag das tatsächlich stimmen, aber - geliebter Rezensent - ist das hier nun ein Krimi oder ein philosophisches Traktat, das sie hier besprechen?

    "Ein Krimi, der immer gern philosophisch ist."

    Aber keiner, der den Kategorien von Spannung, Komplexität, Action oder Eleganz entspricht.
    Man merkt Kinky an, dass ihn die Lust am Schreiben etwas verlassen hatte. "Zehn kleine New Yorker" tritt von der dritten Seite an ... (also sofort nach einem Prolog, der das Ende vorwegnimmt) ... auf der Stelle.

    Und zwar mit Absicht. Für jedes sich anbietende Gedankenspiel lässt Kinky die Logik der Handlung schon einmal fahren. Hier will ein Mann etwas zu Ende bringen. Seine Glieder schmerzen schon ein wenig und der Colt sitzt nicht mehr so locker, aber am Ende muss gestorben werden.

    ... und natürlich stirbt Kinky dann einen Tod, der eines Sherlock Holmes würdig war, aber ... - so steht zu befürchten - ... anders als für Sherlock Holmes oder Brenner gibt es für Kinky, den fiktiven Detektiv, wohl kein Zurück. So wie es für Kinky, den Country-Musiker, kein Zurück gab und wie es vielleicht auch für Kinky, den Politiker, kein Comeback gibt.
    Andererseits weiß unser auf seine Bildung etwas arg eingebildeter Rezensent hat Verdi nach dem Requiem seine schönsten Opern komponiert.

    Und auch Duchamp noch heimlich an seinem letzten Meisterwerk gebastelt.

    Egal: "Zehn kleine New Yorker" von Kinky Friedman aus der Edition Tiamat gehört in die Hand eines jeden, der je schon einmal von Kinky Friedman gehört hat.

    Alle anderen lesen erst mal die 16 anderen Krimis.

    Fehlt nur noch ein Verlag, der die alle mal vernünftig ediert.

    Heinrich Steinfest, "Batmans Schönheit", Piper
    Und noch ein Abschied eines lieb gewonnen Ermittlers gilt es zu beklagen: Heinrich Steinfest, der vielleicht Beste, aber auf jeden Fall absurdeste und künstlerischste Krimiautor dieser Republik, hat entschlossen, sich endgültig von seinem Erfolgsermittler Cheng, dem kauzigen einarmigen Wiener Chinesen, zu trennen.

    "Batmans Schönheit" heißt das Abschieds-Werk und es ist im Piper Verlag erschienen, der sich alle Mühe gab, dieses kleine absurde Juwel der kriminalistischen Erzählkunst mit einem denkbar scheußlichen Cover und so lieblos auszustatten, dass es auf gar keinen Fall mit den anderen Cheng Romanen im Regal unseres Rezensenten zusammenpasst.
    Andererseits sagt ein Sprichwort, dass man ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen sollte, und selten war dieser dumme Spruch so weise wie in diesem Fall.
    Seit einiger Zeit verhalten sich Steinfest Krimis zur Kriminalliteratur wie die Amtskirche zur realen Erscheinung eines Engels mitten im 21. Jahrhundert.

    Zwei dieser vier Dinge kommen in "Batmans Schönheit" vor.

    Steinfest traut sich mehr und mehr, in die scheinbar ganz und gar profane Welt des Kriminalromans fantastische Elemente einzubauen. Da gibt es in Hörspiel-Krimis schon einmal leibhaftig lebendige Pokemons oder die Lösung eines Falles besteht darin, dass die ganze Handlung ein Brettspiel irgendwelcher Götter war oder eine Hauptperson entpuppt sich als ein Schläfer-Spion vom Planeten Plutos.
    Denn Steinfest erzählt Absonderlichkeiten mit der Akkuratesse eines kalten Krimiautors. Für ihn ist ein Engel weniger fantastisch als ein Serienmörder. Und ein Blick in die Kriminalstatistik zeigt, dass die Anzahl der Serienmörder - anders als die Kriminalromane glauben machen - die Anzahl der glaubhaften Engelssichtungen nur geringfügig überschreitet.
    In "Batmans Schönheit" kommt indes beides vor: ein paar Engel und auch ein Serienmörder. Und am Ende wird der Ermittler Cheng nicht mehr der sein, der er einmal war.
    Was bis dahin passiert, ist schier unfassbar. Heinrich Steinfest spielt in diesem Roman den kleinen Erzählgott. Er zaubert wunderbar abstruse Handlungsstränge auf die Seiten, bloß um sie plötzlich abbrechen und den Roman in einer langen Rückblende auslaufen zu lassen, die selbst wieder fulminant und mit Anklängen an den heiligen Edgar Allen Poe erzählt wird, aber dann nicht wirklich mit dem Restkrimi in Konkordanz zu bringen ist.

    Selten so gestaunt. Denn all das ist nicht Achtlosigkeit, sondern eine furiose Demonstration eines Erzählens, das sich alles leisten kann und sich auch alles leistet: irrwitzige Reflexionen, wilde Urwaldgeschichten, Engelsgefechte, Serienmorde und absurde Ermittlungsmethoden, die zum logischen Erfolg führen.

    "Wenn Gott erzählen kann, dann könnte er Heinrich Steinfest heißen", behauptet unser Rezensent über "Batmans Schönheit" von Heinrich Steinfest.

    Einem Krimi aus dem Piper-Verlag, der alle Regeln dieses Genres mit allergrößtem Vergnügen bricht.

    Und damit zu eher klassischen Empfehlungen. Heute noch länger und besser also sonst. Nämlich dreieinhalb an der Zahl.

    David Peace, "Tokio, besetzte Stadt", Liebeskind Verlag.
    Das neue Buch des Krimipreisträgers David Peace, in dem er sein Erzählprinzip des ewig gehetzten, hypnotischen Monologes um gleich elf Sprechweisen erweitert hat. Der Roman "Tokio, besetzte Stadt" wird nämlich aus der Perspektive von zwölf unterschiedlichen Personen erzählt. Darunter allein 2 Detektive, ein überlebendes Opfer und ein Schriftsteller, der unbedingt den bis heute ungelösten Fall lösen möchte.

    Wieder geht es um einen realen Fall vor dem Hintergrund des nur scheinbar exotischen Tokios der Nachkriegszeit. Wieder geht es um ein unfassbares Verbrechen, einen dutzendfachen Giftmord.
    Wieder nistet sich Peace in den unheimlichen Nischen der Realität und der Geschichte ein, um einen Roman von unglaublicher Intensität zu schreiben.

    Definitiv eine Empfehlung: der zurzeit vielleicht beste Krimiautor der Welt!

    Jussi Adler Olsen, "Schändung", dtv
    Um einiges rätselhafter ist da der anhaltende Bestsellererfolg von Jussi Adler Olsen, der es derzeit als einziger Krimi-Autor in den Belletristik-Bestsellerlisten vertreten ist. Dies dafür gleich doppelt. "Schändung" heißt nach "Erbarmen" Adler-Olsens zweiter Erfolgskrimi um den Sonderermittler Carl Mörck vom Dezernat Q. Schon allein die Titelwahl der von Hannes Thies übersetzten und etwas holzschnittartig geschriebenen Thriller offenbart, worum es dem dtv-Verlag hier ging:

    Man wollte den Stieg-Larsson-Ähnlichkeitswettbewerb, der nach dem Tod und Welterfolg dieses Autors einsetzte, gewinnen.

    Und genau dies ist dtv mit Jussi Adler-Olsen gelungen. Ein Lob für das Marketing, nicht unbedingt für den Autor. Eine halbe Empfehlung.

    Nein. Eher eine Warnung.

    Don Winslow, "Tage der Toten", Suhrkamp
    Und damit zur Groß-Empfehlung Nummer 2: ein Roman, der eigentlich die Grenzen des Genres und die Grenzen dieser Kolumne sprengt. "Tage der Toten" heißt das im Suhrkamp-Verlag erschienene Krimi-Epos von Don Winslow, das von Chris Hirte übersetzt wurde und derzeit die Spitze der Krimiwelt-Bestenliste innehat.

    "Ich sag es gleich, ich hab es noch nicht geschafft, das Ding fertig zu lesen", gesteht unser Rezensent die Kardinalsünde seiner Zunft, "ich bitte Euch, das Buch hat fast 700 Seiten"

    Und wurde von einem Kollegen unseres Rezensenten schon als das "Krieg und Frieden" der Kriminalliteratur bezeichnet.

    Der Kollege könnte recht haben.

    "Tage der Toten" - soviel konnte unser Rezensent schon in Erfahrung bringen - handelt von dem amerikanischen Fahnder Art Keller, der den Drogenschmuggel an der Grenze zu Mexiko unterbinden will. Don Winslow hat seinen Roman bis zum Exzess recherchiert und angeblich sechs Jahre daran geschrieben.
    Alles an diesem monströsen Buch könnte wahr sein. Einer der Barrera-Drogen-Brüder, deren Vertrauen der Fahnder Art Keller gewinnt, ist dem mexikanischen Großdealer Fuentes nachempfunden. Der bis heute tobende Krieg unter den mexikanischen Drogenbaronen zeigt, dass keines der brutalen und fantastisch wirkenden Verbrechen aus "Tage der Toten" wirklich erfunden sein muss.

    "Ein gewaltiges und gewalttätiges Buch", urteilt unser Rezensent über "Tage der Toten" von Don Winslow. Aber wieso - geliebter Rezensent haben Sie das Buch noch nicht fertig gelesen, wenn es so gut ist?

    "Ich musste zwischendrin noch den neuen Simenon lesen!"

    Nein nicht schon wieder!

    Simenon, "Die Verlobung des Monsieur Hire, Ausgew. Romane", Band 1, Diogenes
    Doch, es ist wieder so weit. Nach dem überwältigenden Erfolg der Maigret-Gesamtausgabe hat sich der Diogenes-Verlag entschieden, den Maigrets die Non-Maigrets folgen zu lassen. Zumindest 50 davon werden in den nächsten zwei Jahren allmonatlich erscheinen.
    Den Anfang macht in diesem Monat "Die Verlobung des Monsieur Hire", ein früher Simenon aus dem Jahre 1933, der schon dreimal verfilmt wurde und in noch mehr unterschiedlichen Ausgaben bei Diogenes erschienen ist.
    Jetzt dürfte mit der Herausgabe der "Gesammelten Werke" eine endgültige Form für diese Schmuckstücke trickreichen Erzählens gefunden sein.

    Besprochene Bücher:
    Jussi Adler Olsen, "Schändung", dtv
    Kinky Friedman, "Zehn kleine New Yorker", Edition Tiamat
    David Peace, "Tokio, besetzte Stadt", Liebeskind Simenon, "Die Verlobung des Monsieur Hire, Ausgew. Romane", Band 1, Diogenes
    Heinrich Steinfest, "Batmans Schönheit", Piper
    Don Winslow, "Tage der Toten", Suhrkamp