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Die Kritik aus Deutschland an der Politik Israels wird lauter

Engels: Im Nahen Osten ist kein Ende der Gewalt in Sicht. Immer wieder lösen palästinensische Selbstmordattentate weltweit Empörung und Entsetzen aus. Aber auch die Bilder von rollenden israelischen Panzern in Bethlehem und von sterbenden Palästinensern haben für Beunruhigung und Kritik gesorgt, auch in Deutschland. Laut einer Umfrage des Instituts Emnid von vergangener Woche halten 73 Prozent der Deutschen das harte Vorgehen Israels gegen die Palästinenser für nicht gerechtfertigt. Welche Auswirkungen hat die Situation im Nahen Osten auf das Leben der jüdischen Gemeinden in Deutschland? Darüber wollen wir sprechen mit Michel Friedmann, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Guten Morgen Herr Friedmann!

    Friedmann: Guten Morgen.

    Engels: Spüren die jüdischen Gemeinden in Deutschland derzeit die Folgen der Eskalation in ihrem Alltagsleben?

    Friedmann: Es hat sich natürlich seit letzter Woche einiges verändert und verschärft, als Hamas-Terroristen im Fernsehen (CNN) gesagt haben, der Feind ist nicht mehr Israel, sondern alle Juden in der Welt. In Frankreich, in Belgien gab es Anschläge auf Synagogen mit Dynamit, mit schweren Waffen, und auch in Berlin gab es am Wochenende Vorfälle, dass zwei amerikanische Juden angegriffen worden sind, nachdem sie gefragt worden sind, ob sie Juden sind. Die Sicherheitsmaßnahmen sind verstärkt worden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Radikalisierung auch von islamischen Extremisten, die wir in einigen Ländern Europas schon gesehen haben, auch in Deutschland stattfindet. Man darf nicht Panik, man darf nicht Angst hervorrufen, aber man muss verantwortlich und sehr ernsthaft mit diesen Dingen umgehen. Die Angst auch in der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ist deswegen gestiegen.

    Engels: Können Sie verstehen, dass viele Deutsche kein Verständnis mehr für das harte Vorgehen Israels in den Palästinensergebieten haben?

    Friedmann: Ich kann es dann verstehen, wenn mindestens genauso offensiv sie kein Verständnis für Arafats Terrorismus hätten, wenn sie genauso offensiv Arafat und die Palästinenser verurteilen und verurteilen, dass sie Zivilisten umbringen. Wir haben nach dem 11. September als freie Menschen, als zivilisierte Menschen gesagt, selbst bei berechtigten Gründen darf es den Terror nicht als Mittel der Politik geben. Dieses Mittel wird aber auch von Arafat mindestens geduldet und deswegen muss man mit gleicher Maßmenge messen. Was für New York und für Afghanistan galt, muss für Tel Aviv und für Jerusalem gelten. Wenn beides mindestens deutlich ausgesprochen wird, ist die Kritik übrigens auch konstruktiv und sie ist fair. Alles andere ist einseitig. Kritik ja; Einseitigkeit nein!

    Engels: Sie haben es angesprochen: Einseitigkeit nein. Können Sie selbst denn noch das Vorgehen der Regierung Sharon verteidigen?

    Friedmann: Solange der Terrorismus von Arafat und den Palästinensern, übrigens auch von Syrien, von Iran und Irak als Mittel der Politik nicht abgelehnt wird und unterbunden wird, solange muss man sich wehren. Es mag sein, dass man hier und da Überreaktionen auch sieht. Darüber muss man reden. Aber grundsätzlich, nachdem die Politik bei Arafat versagt hat - immerhin hat der Vorgänger von Sharon Herrn Arafat halb Jerusalem angeboten, einen eigenen Staat und Abbau der Siedlungen und hat ein Nein bekommen -, nachdem die Politik nicht erfolgreich ist und der Terror fortgesetzt wurde, muss auch Israel sich wehren können. Über das Wie kann man, muss man, soll man streiten. Über das Ob habe ich auch volles Verständnis für die Israelis.

    Engels: Dann blicken wir noch kurz auf das Wie. Sehen Sie denn eine Möglichkeit, aus dieser Spirale der Gewalt herauszukommen?

    Friedmann: Es muss eine geben, denn auf beiden Seiten sterben ja auch Zivilisten und unschuldige Menschen. Das muss man auch noch mal differenzieren. Das ist ein Unterschied zwischen den Palästinensern, die bewaffnet sich mit den Israelis bekämpfen - und dort sind es dann auch Soldaten -, und es muss unser Ziel sein, den Konflikt wieder zu beruhigen. Aber den Konflikt bilateral zu beruhigen bedeutet auch, Syrien, Iran, Irak und andere arabische Länder dazu zu bekommen, ihren konstruktiven Beitrag zu leisten. Dies ist eine schwere Aufgabe, die noch lange Zeit brauchen wird. Aber es gibt keine Alternative zum Frieden. Es gibt keine Alternative zum Dialog. Deswegen, auch wenn es momentan hoffnungslos aussieht, müssen alle, die Hoffnung haben wollen, ihre Energie einbringen. Das setzt aber voraus und gerade auch für Europäer, dass sie sich fair und ausgeglichen mit dem Konflikt auseinandersetzen. Hier ist Joschka Fischer und die Bundesregierung ein ausgesprochen positives Beispiel, akzeptiert von allen Beteiligten, von den Israelis, den Palästinensern und den Arabern. Einseitigkeit a la Möllemann führt dazu, dass man aus diesem konstruktiven Prozess des miteinander reden könnens und Hoffnung bringen herausgekegelt wird. Deswegen Hoffnung ja, aber es ist ein langer, ein anstrengender Weg.

    Engels: Sie haben es angesprochen, das Zitat von Jürgen Möllemann, das immer wieder genannt wird, er würde sich auch wehren und zwar mit Gewalt. Doch er ist nicht die einzige kritische Stimme in Deutschland. Ihr Parteifreund Norbert Blüm hat sich kritisch zur Politik Israels geäußert und auch Karl Lamers, profilierter außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, schließt nun Sanktionen gegen Israel nicht mehr aus.

    Friedmann: Gut gemeint ist nicht immer gut. Angela Merkel hat eine grundsätzliche Position der CDU formuliert, die davon deutlich abweicht. Jürgen Möllemann ist soweit ich weiß ein Fallschirmspringer, der in der Lokalpolitik Nordrhein-Westfalens den Kurs kennt. International kann ich nur sagen "zieh Leine". Es bringt niemandem nichts, einseitig zu sein. Übrigens das gilt auch, einseitig für Israel zu sein, nicht nur für die Palästinenser. Es bringt nur etwas, wenn man die Komplexität des Problems im Nahen Osten begreift, und das geht weit über die bilaterale Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis hinaus. Die deutsche Politik ist gut beraten, wenn sie konsequent wie am 11. September sagt, wir verurteilen Terror als Mittel der Politik und dies konsequent auch gegenüber Arafat formuliert, um dann genauso glaubwürdig die Israelis darauf aufmerksam zu machen, dass eine Eskalation letztendlich allen Beteiligten schadet. Aber ohne Schritt 1 ist der Schritt 2, Israel zu kritisieren, eine hohle Formel, die vielleicht hier einige bedient, die ganz bestimmte Emotionen gegen Israel haben, aber der Politik nichts nutz. Wir haben in den letzten Tagen - das war der Beginn unseres Gespräches - auch gemerkt, dass der Antizionismus teilweise auch zum Antisemitismus führt. Um so wichtiger ist der verantwortungsbewusste Umgang mit dem Thema auch innenpolitisch.

    Engels: Beobachten Sie denn einen Wandel innerhalb der deutschen Bevölkerung, innerhalb der Stimmung der Bevölkerung, der sich nun stärker gegen Israel richtet, als das vielleicht noch vor Jahren der Fall war?

    Friedmann: Eine pauschalierte Aussage wäre oberflächlich und unverantwortlich. Richtig ist allerdings, dass die Einseitigkeit deutlich zu vermerken ist. Aber ich will das noch mal sagen: Jede Einseitigkeit wäre hier destruktiv. Wir müssen konsequent bleiben und nicht heucheln. Wenn unser Dogma der Außenpolitik war, dass wir in New York interveniert haben, weil wir gesagt haben, es gibt als Legitimation für auch berechtigte Motive nicht den Weg des Terrors - es gibt andere Krisengebiete, Sudan und sonst wo, wo das auch vorhanden ist -, dann muss was für New York und für Afghanistan gilt auch für Jerusalem und Tel Aviv gelten. Danach, wenn der Terror aufhört, muss dann die internationale Staatengemeinschaft versuchen, konstruktiv die beiden handelnden Parteien und die, die hinter denen versteckt stecken und den Friedensprozess behindern, mit eigenen Mitteln wie übrigens auch in Afghanistan zu einem wenigstens Aufhören der Gewalt zu bewegen. Dies wird Engagement voraussetzen, aber erst muss der Terror aufhören. Und wenn er nicht aufhört, müssen wir konsequent bleiben und sagen, Terror nie und nirgends. Ob legitim oder nicht legitim, was die Gründe der Terroristen angeht, Terror ist nie ein Mittel der legalen Auseinandersetzung in zivilisierten Ländern.

    Engels: Nun scheint sich ja dennoch, trotz Ihrer Äußerungen, das Stimmungsbild in mehreren Staaten Europas nicht unbedingt israelfreundlich zu entwickeln. Gestern beobachteten wir große Demonstrationen in Brüssel, Paris und Barcelona. Stehen auch in Deutschland solche Demonstrationen bevor?

    Friedmann: Es gab sie bereits, aber sie waren vorwiegend von Palästinensern geführt. Das halte ich übrigens auch für legitim, dass sie für ihre Ziele auf die Straße gehen. Ich warne nur davor, das Demonstrieren, was ein legitimes demokratisches Recht ist auch in Deutschland, umschlagen zu lassen in Gewalt gegen jüdische Institutionen. Dieser Weg ist ein sehr kurzer. Um so mehr müssen wir deutlich machen, dass wir zwar eine solche Auseinandersetzung tolerieren, dass wir aber auf keinen Fall Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung hinnehmen werden: weder im Nahen Osten noch erst recht in Deutschland.

    Engels: Wir sprachen mit Michel Friedmann, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. - Ich bedanke mich für das Gespräch!

    Link: Interview als RealAudio