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Die kritische Einordnung fehlt

Einen ganz bestimmten Blick in die erste Nachkriegszeit verspricht Holm Kirsten. Das Jahr 1945, Schicksale von Deutschen, Polen, Russen - sie sind den chaotischen Zeitläuften entsprechend auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Ein Gefangenenlager - und zwar ein besonderes - hat Kirsten in diesem Zusammenhang interessiert: "Das sowjetische Speziallager Nr.4 Landsberg/Warthe" - so heißt sein Buch.

Von Martin Sander |
    Die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs haben derzeit Konjunktur. Luftkrieg, Vertreibung und Unrecht durch die Besatzungsmächte begegnen dem Publikum mal als literarischer Stoff, mal als Feuilletondebatte - oder in Gestalt historischer Abhandlungen. Dagegen lässt sich im Prinzip nichts einwenden, und dennoch wird man fragen dürfen: Gab es das nicht alles schon einmal? Wenigstens in der alten Bundesrepublik betrachtete man bis weit in die sechziger Jahre hinein die jüngste deutsche Geschichte nicht ohne Vorliebe aus der Perspektive ihrer deutschen Opfer. Zeitzeugenberichte, Memoiren, Tagebücher über Vertreibung und die politische Willkür der Sowjets erfreuten sich damals großer Beliebtheit.

    Die Dimension deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg drang hingegen eher zögerlich ins öffentliche Bewusstsein. Erst in den achtziger Jahren erreichte dieses Thema eine starke Präsenz in Wissenschaft und Medien. In der DDR hingegen waren Vertreibung, Bombenkrieg und Verbrechen der Sowjets offiziell tabu, woraus sich im Anschluss an die Wende ein Nachholbedarf ergab. Der in der Gedenkstätte Buchenwald tätige Historiker Holm Kirsten hat jetzt ein Buch über "Das sowjetische Speziallager Nr. 4 Landsberg/Warthe" vorgelegt, das im Wallstein Verlag erschienen ist. Kirsten hat 50 Augenzeugenberichte aus Archiven ausgewertet und 37 noch lebende Zeitzeugen befragt, um so die Geschichte eines von zahlreichen sowjetischen Speziallagern zu rekonstruieren. In diesem Speziallager Nr. 4 waren von Ende Mai 1945 bis Mitte Januar 1946 mehr als 10.000 Deutsche interniert - unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die genaue Zahl der Opfer, die an Hunger, Krankheit, Entkräftung starben oder durch Schüsse ihrer Bewacher ums Leben kamen, lässt sich nicht mehr ermitteln. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 1800 und 3800. Die meisten Überlebenden wurden bei Auflösung des Landsberger Lagers in das ehemalige KZ Buchenwald bei Weimar transportiert und dort weiter interniert. In Landsberg erinnert, anders als in Buchenwald, auch heute keine Gedenktafel an die Opfer der Lagerhaft. Das hat einen besonderen Grund: Die Stadt liegt östlich der Oder und gehört, umbenannt in Gorzów Wielkopolski, seit 1945 zu Polen. Dies aber - so Holm Kirsten - stellt Historiker vor besondere Herausforderungen:

    " Im Gegensatz zu den auf ehemaligem DDR-Territorium liegenden Speziallagern, wo in der Zeit nach 1990 Gedenkstätten entstanden, ehemalige Häftlinge Interessenverbände gründeten und sich die Forschung des Themas annahm, blieben die auf heutigem polnischen Territorium liegenden und vielfach als Speziallager-Vorläufer bezeichneten Lager weitgehend unbeachtet. Ebenfalls nicht unwichtig war die Tatsache, dass die meisten ehemaligen Internierten, sofern sie nicht dort verstarben, in diesen Lagern - gemessen an der Gesamthaftzeit - nur eine kurze Zeit verbrachten und deshalb ihre schriftlichen oder mündlichen Erinnerungen an diese frühen Haftstationen eine marginale Rolle spielen. Das ist allerdings auch das Dilemma der Forschung. "

    Für ein anderes Dilemma muss sich allerdings der Autor selbst verantworten: Die Zeitzeugnisse, die er gesammelt hat, werden von ihm zwar präsentiert, leider unterlässt er es aber, dieses Material anschließend in gebotener Weise kritisch zu analysieren. Die Erinnerung hat ihre eigenen Gesetze. Kirsten lässt weitgehend unberücksichtigt, inwieweit politische Interessen, der zeitliche Abstand zum Geschehen oder auch stereotype Vorstellungen das menschliche Gedächtnis steuern und verfälschen. Das ist bedauerlich, zumal - den Angaben des Autors zufolge - 90 Prozent der in Landsberg Inhaftierten ehemalige Mitglieder der NSDAP waren. In ihnen "neutrale" Zeugen zu sehen, fällt schwer - unabhängig von allen anderen Einwänden, die sich gegen eine vermeintliche historische Beweiskraft von subjektiv gefärbten Erinnerungen vorbringen lassen. Darüber hinaus fehlt leider auch eine kritische Einordnung zu dem oft von Klischees geprägten Sprachgestus mancher, die sich da erinnern.

    "(…) willkürlich und wahllos verfuhr der Russe, wenn er seine randvoll überquellenden Kerker ein wenig öffnete und Menschen entließ, die ihr Glück oft kaum zu fassen vermochten. Während ungezählte harmlose und völlig unpolitische Menschen weiterhin einem ungewissen (oder besser gesagt: einem furchtbar gewissen) Schicksal überantwortet blieben, befanden sich unter denen, die Landsberg verlassen durften, immerhin einige Männer, denen der Russe mit einer gewissen Berechtigung hätte misstrauisch gegenüberstehen können, so ein höherer SS-Führer (einer der wenigen, die sich nicht abgesetzt hatten) oder der letzte Generaldirektor der "Film-Produktionsgesellschaft" UFA. "

    Mag sein, dass dieser Vorgang im Kern der historischen Wahrheit entspricht, Ob er aber - und das ist nicht unwesentlich - als sicher, als gesichert gelten kann? - Der Autor der eben zitierten Zeilen heißt Arnold Bacmeister, war Abteilungsleiter in der Filmprüfungsstelle des Reichspropagandaministeriums und seit 1936 Mitglied der SS. Von diesen Funktionen erfährt man allerdings erst im Anhang des Buches, in dem ausgewählte Häftlingsbiographien in Kurzform vorgestellt wurden.

    Mehr Information und Reflexion hätte auch dort gut getan, wo es um eine zeittypische Besonderheit geht - um das spannende "Dreiecksverhältnis" zwischen sowjetischen Funktionsträgern aller Dienstgrade und Amtsbezeichnungen sowie den Deutschen und Polen im früheren deutschen Landsberg an der Warthe und dem späteren polnischen Gorzów Wielkopolski. Nur sehr wenige polnische Zeitzeugen kommen zu Wort. Sie vermitteln das Bild von Menschen, denen das russische Speziallager Nr. 4 und das Schicksal der Inhaftierten von Anfang an bis auf den heutigen Tag gleichgültig geblieben ist. Vielleicht ist das die Wahrheit. Gleichwohl könnte man vermuten, dass das Spektrum polnischer Meinungen auch in Gorzów Wielkopolski doch ein wenig vielfältiger ist, als Holm Kirsten es wiedergibt. Alles in allem bleibt festzuhalten: Der Band "Das sowjetische Speziallager Nr. 4 Landsberg/Warthe" hat die Chance verpasst, einem bisher weitgehend unbekannten Kapitel der unmittelbaren Nachkiegsgeschichte feste Konturen zu verleihen. Diese Aufgabe wartet noch auf ihren Zeithistoriker.

    Holm Kirsten: Das sowjetische Speziallager Nr. 4 Landsberg/Warthe.
    Wallstein Verlag, Göttingen 2005,
    159 S., EUR 18,00