Wenn ein Buch mit Adam und Eva anfängt, dann überlegt man zweimal, ob man genug Zeit und Muße zur Verfügung hat, denn in der Regel erwartet einen ein in der Folge recht ausschweifendes Lese-Vergnügen oder auch -Missvergnügen. Fritz Breithaupt kommt in seiner Studie glücklicherweise mit diesem einen Beispiel aus, er braucht nicht mehr als den sich vor Gott rechtfertigenden ersten Menschen. Bei seinem Buch "Kultur der Ausrede" handelt es sich nämlich, anders als man meinen könnte, nicht um eine Kulturgeschichte der Ausrede, nicht um einen historischer Abriss von der Bibel bis zu Christian Wulff. Den Literaturwissenschaftler, der auch Kognitionswissenschaften unterrichtet, interessiert die Ausrede vielmehr als eine Technik, die den Menschen über das Tier erhebt:
"Die Welt, die sich den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies auftut, ist eine Welt der narrativen Mehrdeutigkeit. Die Sprache hat aufgehört, die Dinge schlicht zu benennen, wie es noch die paradiesische Namenssprache tat. Damit aber können die Menschen zu eigentlich Kulturträgern und –erzeugern werden. Wer Ausreden fabrizieren kann, der ist nicht nur kreativ, sondern in der Lage, Geschichten zu erzählen und seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen."
Es geht Breithaupt also nicht um die faulen, leicht zu durchschauenden Ausreden. Ihn interessieren jene, die den Sachverhalt in ein anderes Licht rücken oder eine grundsätzlich alternative Wirklichkeit vorstellen. Wer eine Ausrede fabriziert, sieht sich freilich zuallererst einer Anklage ausgesetzt. Mit dieser gilt es dann umzugehen. Das, so Breithaupt, kann man auf zwei Arten tun. Man sagt: Ja, es war so, aber ich bin trotzdem nicht schuldig, weil etwa Eva mich überredet hat, den Apfel zu essen, oder man bestreitet die Tatsache gleich ganz: Ich habe gar keinen Apfel gegessen, sondern ein Stück Kuchen. So oder so bedarf es eines gewissen Erfindungsreichtums von Seiten des Angeklagten. Deswegen auch, sagt der Autor, sei die Ausrede eine Kunst.
"Ebendies ist die Leistung der Ausrede, eine andere Form des Sprechens, Nachdenkens, Entscheidens einzufordern. Darin geht die Ausrede auch wesentlich weiter als die Anklage. Die Anklage leistet ebenfalls eine Versprachlichung der Wirklichkeit, die eine Darstellung des Geschehens liefert. Damit ermöglicht sie, dass auch Abwesende später verstehen, was vorgefallen ist, und sie verfestigt den institutionellen Rahmen, im Akt der Kommunikation über die Untat zu befinden. Doch die Pluralität der Versionen ist mit der Anklage nicht gegeben. Die Anklage will keinen Dialog. Die Ausrede schüttelt hingegen die geballte Faust der Anklage, als wäre sie eine Einladung zur Kommunikation."
Redet man von Ausreden, so geht es also um Interpretationen. Kein Wunder also, dass gerade der Literaturwissenschaftler so von ihr fasziniert ist. Entsprechend verfolgt Breithaupt die Wesensverwandtschaft von Ausrede und Narration. Beide, schreibt er, liefern verschiedene Versionen von Sachverhalten, beide etablieren oder verneinen Kausalitäten, beide haben eine persuasive Funktion und beide setzen Empathie voraus. Der Naturwissenschaftler in ihm fragt sich, ob die Fähigkeit zur Ausrede nicht womöglich auch ein Selektionsvorteil sein konnte. Bei der Gelegenheit spricht er eine dankenswerte Warnung aus:
"Ein Wort der Vorsicht ist angebracht. Wie kaum eine andere Disziplin lädt die Evolutionsbiologie zum Spekulieren ein. Kaum hatten sich die Darwin’schen Ideen halbwegs durchgesetzt, übernahmen etwa Herbert Spencer und Darwins Halbcousin Francis Galton diese Ideen und übertrugen sie auf die Beschreibung und aktive Gestaltung der Gesellschaft. Man könnte geradezu von einer evolutionären Imagination sprechen, die sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zum Massenphänomen ausgeweitet hat."
Nichtsdestotrotz referiert Breithaupt ein Beispiel nonverbaler Ausrede unter Mantelpavianen, das die These des Selektionsvorteils zu stützen scheint. Entscheidend aber ist folgende Überlegung Breithaupts: Die Ausrede, sagt er, wird von der Hoffnung geleitet, dass dem Sprechenden zugestimmt wird, dass seine Darstellung und sein Anliegen als legitim anerkannt werden. Darin liege ein Ursprung von Gerechtigkeit, die Idee nämlich, dass jeder das Seine erhält, nicht weil es ihm zusteht, sondern weil er Anspruch darauf erhebt. Hier verwischt freilich die Grenze zwischen Ausrede und legitimer Verteidigung, ja hier liegt der womöglich einzige Punkt in Breithaupts ansonsten so aspektreicher Arbeit, der ein wenig zu kurz kommt: Wie steht es um den Wahrheitsgehalt der Ausrede? Und wann wird die Ausrede zur Lüge? In jedem Fall gibt sie zu Denken. Und das ist, wie man an Breithaupts Buch sieht, so verkehrt nicht.
Fritz Breithaupt: "Kultur der Ausrede"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 236 Seiten, 12 Euro.
"Die Welt, die sich den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies auftut, ist eine Welt der narrativen Mehrdeutigkeit. Die Sprache hat aufgehört, die Dinge schlicht zu benennen, wie es noch die paradiesische Namenssprache tat. Damit aber können die Menschen zu eigentlich Kulturträgern und –erzeugern werden. Wer Ausreden fabrizieren kann, der ist nicht nur kreativ, sondern in der Lage, Geschichten zu erzählen und seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen."
Es geht Breithaupt also nicht um die faulen, leicht zu durchschauenden Ausreden. Ihn interessieren jene, die den Sachverhalt in ein anderes Licht rücken oder eine grundsätzlich alternative Wirklichkeit vorstellen. Wer eine Ausrede fabriziert, sieht sich freilich zuallererst einer Anklage ausgesetzt. Mit dieser gilt es dann umzugehen. Das, so Breithaupt, kann man auf zwei Arten tun. Man sagt: Ja, es war so, aber ich bin trotzdem nicht schuldig, weil etwa Eva mich überredet hat, den Apfel zu essen, oder man bestreitet die Tatsache gleich ganz: Ich habe gar keinen Apfel gegessen, sondern ein Stück Kuchen. So oder so bedarf es eines gewissen Erfindungsreichtums von Seiten des Angeklagten. Deswegen auch, sagt der Autor, sei die Ausrede eine Kunst.
"Ebendies ist die Leistung der Ausrede, eine andere Form des Sprechens, Nachdenkens, Entscheidens einzufordern. Darin geht die Ausrede auch wesentlich weiter als die Anklage. Die Anklage leistet ebenfalls eine Versprachlichung der Wirklichkeit, die eine Darstellung des Geschehens liefert. Damit ermöglicht sie, dass auch Abwesende später verstehen, was vorgefallen ist, und sie verfestigt den institutionellen Rahmen, im Akt der Kommunikation über die Untat zu befinden. Doch die Pluralität der Versionen ist mit der Anklage nicht gegeben. Die Anklage will keinen Dialog. Die Ausrede schüttelt hingegen die geballte Faust der Anklage, als wäre sie eine Einladung zur Kommunikation."
Redet man von Ausreden, so geht es also um Interpretationen. Kein Wunder also, dass gerade der Literaturwissenschaftler so von ihr fasziniert ist. Entsprechend verfolgt Breithaupt die Wesensverwandtschaft von Ausrede und Narration. Beide, schreibt er, liefern verschiedene Versionen von Sachverhalten, beide etablieren oder verneinen Kausalitäten, beide haben eine persuasive Funktion und beide setzen Empathie voraus. Der Naturwissenschaftler in ihm fragt sich, ob die Fähigkeit zur Ausrede nicht womöglich auch ein Selektionsvorteil sein konnte. Bei der Gelegenheit spricht er eine dankenswerte Warnung aus:
"Ein Wort der Vorsicht ist angebracht. Wie kaum eine andere Disziplin lädt die Evolutionsbiologie zum Spekulieren ein. Kaum hatten sich die Darwin’schen Ideen halbwegs durchgesetzt, übernahmen etwa Herbert Spencer und Darwins Halbcousin Francis Galton diese Ideen und übertrugen sie auf die Beschreibung und aktive Gestaltung der Gesellschaft. Man könnte geradezu von einer evolutionären Imagination sprechen, die sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zum Massenphänomen ausgeweitet hat."
Nichtsdestotrotz referiert Breithaupt ein Beispiel nonverbaler Ausrede unter Mantelpavianen, das die These des Selektionsvorteils zu stützen scheint. Entscheidend aber ist folgende Überlegung Breithaupts: Die Ausrede, sagt er, wird von der Hoffnung geleitet, dass dem Sprechenden zugestimmt wird, dass seine Darstellung und sein Anliegen als legitim anerkannt werden. Darin liege ein Ursprung von Gerechtigkeit, die Idee nämlich, dass jeder das Seine erhält, nicht weil es ihm zusteht, sondern weil er Anspruch darauf erhebt. Hier verwischt freilich die Grenze zwischen Ausrede und legitimer Verteidigung, ja hier liegt der womöglich einzige Punkt in Breithaupts ansonsten so aspektreicher Arbeit, der ein wenig zu kurz kommt: Wie steht es um den Wahrheitsgehalt der Ausrede? Und wann wird die Ausrede zur Lüge? In jedem Fall gibt sie zu Denken. Und das ist, wie man an Breithaupts Buch sieht, so verkehrt nicht.
Fritz Breithaupt: "Kultur der Ausrede"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 236 Seiten, 12 Euro.