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Die Kunst des Artifiziellen

Die Nebenreihe der Festspiele von Cannes "Un certain regard" zeigt Filme, die nicht am Wettbewerb teilnehmen, aber trotzdem besondere Qualitäten. In diesem Jahr ging es höchst politisch zu. Doch was thematisch avanciert ist, muss dies nicht unbedingt auch ästhetisch sein.

Von Christoph Schmitz |
    Intensiv hat sich in diesem Jahr neben dem Wettbewerb auch das übrige Cannes-Programm mit der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart und jüngeren Geschichte befasst. In der Reihe "Un Certain Regard" gab es fast kein aktuelles Thema, was nicht aufgegriffen worden wäre. Vom Palästina-Israel-Konflikt, der Situation in den kurdischen Gebieten im Norden Iraks nach dem Sturz Saddam Husseins, über die Diskussionen um Rassismus in den USA und Sterbehilfe in Italien, bis zur rechtlichen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften in Frankreich – alles war dabei. Thematisch zeigte sich das wichtigste unter den drei Begleitprogrammen auf der Höhe der Zeit. Ästhetisch waren die meisten der dezidiert gesellschaftskritischen und politischen Filme nicht unbedingt avanciert.

    Eine der wenigen Ausnahmen machte die französische Regisseurin Claire Denis mit ihrer thrillerartigen Studie "Bastards". Ein Unternehmer stürzt sich am Anfang aus dem Fenster, eine nackte junge Frau – seine Tochter, wie man später erfährt – taumelt mit blutüberströmten Beinen durch Paris bei Nacht. Hinter dem Selbstmord soll der Geschäftsmann Laporte stecken, behauptet die Frau des Toten. Ihren Bruder bietet sie, die Sache aufzuklären. Der mietet sich im Haus der Geliebten des Geschäftsmannes Laporte ein und kommt über sie den sexuellen Perversionen Laportes und anderer auf die Spur. Die Erzählfäden und -zeiten vernäht die Regisseurin zu einem verwirrenden Gespinst. Ihr Film wird zum Inbild einer korrupten und dekadenten Bourgeoisie. Stilistisch jedoch eigenwilliger gehen zwei ostasiatische Regisseure vor, Rithy Panh aus Kambodscha und Adolfo Alix von den Philippinen. Beide schlagen sie blutige Kapitel des 20. Jahrhunderts auf.
    "The Missing Picture" heißt Rithy Panhs Film über die Terrordiktatur der Roten Khmer in Kambodscha von 1975 bis 1979. Historische Propagandafilme der Roten Khmer in Schwarzweiß kombiniert Panh mit seiner eigenen Kindheit und der Geschichte seiner Familie in jener Zeit. Wobei er das Familienporträt nicht als Spielfilm zeigt. Er stellt die Szenen des Krieges, der Verschleppung, der Zwangsarbeit, des Hungers, der Hinrichtungen und Folter mit handgefertigten und kolorierten Lehmfiguren plus Umgebung dar. Geräusche aus dem Off und eine Erzählerstimme erläutern und analysieren das Geschehen. Ein eindringliches Stück Erinnerungsarbeit, das die Wirklichkeit hinter den Propagandabildern Pol Pots und seinem steinzeitkommunistischen Regime aufzeigt.

    Nicht weniger artifiziell geht Adolfo Alix in seinem Film "Death March" vor. Er erzählt, wie die Japaner ihre Gefangenen, philippinische und amerikanische Soldaten, 1942 quer durch den Urwald trieben. Der Urwald im Film ist dabei nur eine naive Bühnenkulisse aus gemalten Bäumen und Pflanzen, die explodierenden Granaten nur Feuerwerksknaller. Und dennoch hätte kein noch so aufwendig rekonstruierter Historienfilm den Todesmarsch intensiver darstellen können. Zu den stärksten Filmen der Reihe "Un Certain Regard" aber gehörte eine Arbeit, die weder aus der Historie noch von der politischen Gegenwart erzählt, sondern von einem Idioten in Hamburg heute, von einem frommen Jesus Freak namens Tore.
    Tore findet bei Benno, dessen Freundin Astrid und deren zwei Kinder eine Ersatzfamilie. Doch Tores freundliche und naive Art provoziert die Erwachsenen. Wie Dostojewskis "Idiot" wirkt er als Katalysator für die unterschwelligen Ressentiments, Aggressionen und den Sadismus. Katrin Gebbes Filmdebüt "Tore tanzt", der einzige deutsche Cannes-Beitrag, zerrt das Böse ans Licht. Tore zieht es an sich, bis in den Foltertod, und weg von den beiden Kindern. Eine Leidens- und Befreiungsgeschichte, mit expressiven Zeichen versehen: der immer nagende Wind des Nordens, die eingedunkelten Farben der Natur. Und der Geruch von Erde und Blut kriecht einem fast in die Nase. Eine archaische Geschichte über Gewalt, Ohnmacht und Hoffnung. Auch in den Nebenreihen begegnet man in Cannes oft, wie nirgends sonst, ungewöhnlichem Kino.