Donnerstag, 25. April 2024

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Die Lange Nacht der Sirenen
Der Gesang, dem niemand widersteht

Homer, Jorge Luis Borges, Dante, James Joyce, Ovid, Platon, Goethe, Kafka, Edgar Allan Poe, Robert Walser, Rainer Maria Rilke, Tomaso de Lampedusa, Christian Andersen, Thomas Mann: Im Lauf der Jahrhunderte hat die Figur der Sirene immer wieder Dichter, Schriftsteller und Philosophen in ihren Bann gezogen, sie mit ihrer morbiden Schönheit verzückt und verschreckt.

Von Agnese Grieco | 02.04.2016
    Ein Sirenen-Aquamanile (um 1230) und ein Löwen-Aquamanile im Bode-Museum in Berlin
    Ein Sirenen-Aquamanile (um 1230) und ein Löwen-Aquamanile sind Teil des Welfenschatzes und sind im Bode-Museum in Berlin zu sehen. (picture alliance / dpa / Stephanie Pilick)
    Für die Fantasie vieler Künstler war sie eine verlockende Herausforderung, auch die Filmindustrie hat sie später gewinnbringend ausgeschlachtet. Halb Fisch, oder halb Vogel - wenn man ihre altgriechische Genealogie genau betrachtet - lebt die Sirene als wohlbekannte Grenzgestalt, sinnlich betörend gedanklich beunruhigend in den Träumen der Menschen und in den Kunstdarstellungen immer weiter.
    Sie vermag das Menschliche und das Tierische, die Strenge eines geheimnisvollen Wissens und die Faszination der Verführung, das Verlangen nach dem vollkommenen Leben und die süße Sehnsucht nach dem Tod zu vereinen.
    Ursprünglich in dem blendenden Licht eines mythologischen Mittelmeermittags erschienen, kann sie ohne Mühe auch romantische nördliche Klippen zieren und Gewässer bevölkern oder sie spaziert durch die chaotischen Straßen der modernen Metropolen. Sie ist Verwandlungskünstlerin.
    Eines haben Komponisten und Musiker von ihr schon immer gewusst: die Stimme, der Gesang ist das Urgeheimnis der Sirene. Und was sie über den ewigen Kampf zwischen Mann und Frau zu erzählen weiß, bietet noch immer manche Überraschung.

    Sirenenland
    Im Jahr 1911 beschreibt der britische Schriftsteller und Reisende Norman Douglas diese berühmte italienische Landschaft in seinem Buch Sirenenland. Es gilt bis heute als einer der besten Reiseführer der Gegend.
    "Einen guten Eindruck des Landes gewinnt man von dem wohl bekannten Kloster Deserto aus, oberhalb von Sorrento. Man blickt hinunter auf den Golf von Neapel und auf den von Salerno, geschieden durch einen Höhenzug, den abfallenden Bergrücken von Sant’ Angelo, der sich in östlicher Richtung über die ganze Halbinsel erstreckt und den Blick in die Weite begrenzt. Dies ist Sirenenland. Im Süden liegen die Insel der Sirenen, heutzutage als Li Galli bekannt; im Westen Capri, angemessen mit ihnen assoziiert wegen der schroffen und doch verführerischen Aussicht; Sorrento, dessen Name sich von ihnen herleitet liegt an den nördlichen Ausläufern. Ein gelobtes Land. Dort fließen Milch und Honig; vor allem ersteres: Saint Non erwähnt als Beweis seiner Fruchtbarkeit die Tatsache, dass man dort Ammen im Alter zwischen Vierzehn und Fünfundfünfzig findet."
    Wer sich auf die Suche nach den Sirenen begibt, wird bald nicht nur zum Historiker sondern auch zum Amateur-Geographen, zum Kenner der ganzen Mittelmeerlandschaft!
    Mehr zu George Norman Douglas und zur Norman-Douglas-Sammlung
    Nachweislich liebten die Sirenen oder sirenenähnliche Geschöpfe auch die nördlichen Gewässer und bewohnten deren Klippen. Wie die kleine Nixe aus Dänemark zeigt oder auch die Loreley, um nur die bekanntesten im Norden zu erwähnen. Jenseits der Koordinaten der sogenannten westlichen Zivilisation könnten wir unser Panorama leicht erweitern. Wer über anthropologische Kenntnisse verfügt, könnte hier sogar die arktischen Gefilde zitieren und dabei an die Kulturen der verschiedenen Völker denken, die sie bewohnen. Im ewigen Eis, in den dunklen nördlichsten Meerestiefen fühlt sich Sedna, die wichtigste weibliche Gottheit der Inuit, zu Hause. Und auch sie ist eine mächtige Sirene. Zu ihr sollen, laut der Inuitmythen, die Schamanen, und besonders die Schamaninnen, hinuntertauchen, ihr als Herrin der Meere huldigen und sie auf besondere Weise besänftigen. Zum Beispiel ihr mit einem schönen Kamm die lange Mähne kämmen. Tradiert wird hier das Muster einer gefährlichen Reise, die die Eingeweihten durch die Untiefen der Seele und durch die Urgeschichte der Menschheit führt. Kein Zufall also, wenn diese fischartige Sirenengöttin Sedna für eine zeitgenössische, von versierten Musikologen gefeierte Meisterin des Kehlkopfgesanges, wie die kanadische Inuit Sängerin und Performerin Tanya Tagaq noch immer eine wichtige Inspirationsquelle bildet. Tanya Tagaq ist übrigens auch gemeinsam mit der bekannten Pop Sängerin Björg aufgetreten.
    Mehr zu Tanya Tagaq
    Sirenengesang
    Sollten wir uns den Sirenengesang heute eher wie die Stimmexperimente einer solchen transkulturellen Künstlerin vorstellen? Sangen die Sirenen überhaupt jemals melodisch und verführerisch schön? Am Ende unserer nächtlichen Reise in Gesellschaft der Sirenen werden wir eine Antwort auf die Frage wagen. Auch in der Oper Sirenen – Bilder des Begehrens und des Vernichtens von Rolf Riehm, die in Frankfurt 2014 ihre Uraufführung erlebte, erklingt ein eher Angst einflößender Sirenengesang. Es handelt sich hier um die jüngste Oper zu dem Thema.
    SIRENEN - Bilder des Begehrens und des Vernichtens
    Rolf Riehm
    Oper in drei Teilen und acht Szenen
    Text vom Komponisten, u.a. nach der Odyssee des Homer, nach Karoline von Günderode, Isabelle Eberhardt u.a.
    Kein Fisch und keine Frau:
    Die Sirene mutiert zum traurigen Zwitterwesen. Wie die siamesischen Zwillinge, die man im Zirkus zeigte. Und es gibt tatsächlich historische Zirkusplakate, die die Sirene als Sensation des Hauses den Zuschauern anpreisen. Bei Borges aber taucht diese Figur der spinnenden Sirene in einem Handbuch der phantastischen Zoologie auf. Der Titel der Abhandlung allein signalisiert bereits wie der Autor selbst die Wissenschaftlichkeit seiner Bemerkung einschätzt. In einem anderen Text hatte Borges übrigens eine - fiktive? - chinesische Enzyklopädie erwähnt, nach der die Tiere wie folgt zu klassifizieren seien:
    "a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen."
    Diese Borges-Passage wird auch von dem Philosophen Michel Foucault zitiert, im Vorwort von "Die Ordnung der Dinge". Und eines hat uns Foucault gelehrt: fremdartige Ordnungssysteme können uns amüsieren, uns vielleicht albern erscheinen, auf jeden Fall aber zeigen sie uns wie jede Ordnung, jede Klassifizierung, eine eigene Geschichte und eine eigene – austauschbare? - Logik in sich hat. In einem Handbuch der phantastischen Zoologie erwartet man keine wissenschaftlich bewiesenen Inhalte. Trotzdem darf es darin an Wissen anderer Art nicht fehlen. Noch einmal Borges:
    Die englische Sprache unterscheidet die klassische Sirene (siren) von derjenigen, die mit einem Fischschwanz ausgestattet ist (mermaid). Bei der Entstehung der letzteren Figur mag die Erinnerung an die Tritonen, Gottheiten aus dem Gefolge Poseidons, mitgespielt haben. Sirene: angeblich ein Meerestier, lesen wir in einem brutalen Wörterbuch.
    Jorge Luis Borges
    Gesammelte Werke.

    Bd.10 Die Anthologien
    Handbuch der phantastischen Zoologie; Das Buch von Himmel und Hölle; Buch der Träume. Herausgeber: Haefs, Gisbert; Arnold, Fritz .
    2008 Hanser

    Sein Name steht stellvertretend für die moderne Literatur in Lateinamerika: Jorge Luis Borges. In diesen Anthologien fesselt er den Leser mit einer fremden Welt jenseits unserer Alltagserfahrungen. Nicht weniger als 120 Phantasiewesen hat der aus Argentinien stammende Autor in den jahrtausendealten Vorstellungen der Menschen entdeckt oder selbst erfunden: vom Behemoth der Bibel, den Chimären der Griechen und den Dämonen der Juden bis zu den Drachen des Fernen Ostens und dem Einhorn des Mittelalters. Ein einzigartiges Museum des Phantastischen, Beklemmenden und Absonderlichen
    Michel Foucault
    Die Hauptwerke

    2013 Suhrkamp
    Michel Foucault, Philosoph und Historiker, politischer Aktivist und Professor am College de France, verband die Arbeit im Archiv mit unmittelbarem politischem Engagement und verstand es wie kein zweiter, die historisch-philosophische Analyse unserer Kultur für eine kritische Diagnose der Gegenwart fruchtbar zu machen. Seine Analysen der neuzeitlichen Ordnungen der Sexualität und des Wissens, der modernen Biomacht und der Gouvernementalität haben das theoretische Terrain abgesteckt, auf dem die aktuellen Debatten um eine Neubestimmung der condition humaine geführt werden. Vor allem seine diskurs- und machttheoretischen Schriften haben eine ganze Generation von Intellektuellen geprägt. Der Band versammelt die einschlägigen Hauptschriften Foucaults, die nach wie vor den Königsweg zu seinem Denken darstellen: Die Ordnung der Dinge, Archäologie des Wissens, Überwachen und Strafen und die drei Bände der Studien über Sexualität und Wahrheit: Der Wille zum Wissen, Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich.
    Wer waren eigentlich die Erzeuger der Sirenen?
    Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Forscht man nach der Herkunft altgriechischer Götter und Heroen, wird man mit einem gewissen Chaos konfrontiert. Eine mythologische Herkunftsgeschichte lässt sich selten ohne Variationen und kompliziert verzweigte Nebengeschichten erzählen, die sogar für erhebliche Verwirrungen und Widersprüche sorgen können. Es gilt unterschiedliche Quellen zu prüfen und Schriftsteller, Philosophen, Gelehrte und Mythologen zu befragen. Im Fall der Sirenen versucht der Altphilologe Karoly Kerenyi eine gewisse Ordnung in das Material zu bringen und kommt zu folgendem Ergebnis:
    "Wer von den Sirenen erzählen will, muß auch Acheloos erwähnen, den vornehmsten unserer Flußgötter, der neben Phorkys der Vater der Sirenen genannt wird. Hesiod zählt Acheloos, den mit den silbernen Wirbeln, unter den Söhnen der Tethys und des Okeanos auf, Homer hingegen stellt ihn einmal sogar vor Okeanos "den Ursprung von allen". Wird Okeanos als bärtiger Mann mit Stierhörnern dargestellt, so war Acheloos das Vorbild dazu. Sonst entwachsen dem mächtig behaarten Schädel des Vaters Okeanos – zuletzt nur seiner Maske, einem Antlitz von tiefem, fast traurigem Ernst – Hummerscheren und -fühler. Das Stierhorn spielt in den Erzählungen von Acheloos eine besondere Rolle. Herakles kämpfte auch mit diesem Wassergott. Acheloos hatte einen schlangenartigen Fisch als Unterleib. Ihm wurde aber von Herakles ein Horn abgebrochen. Aus den Blutstropfen, die aus der Wunde fielen, wurden die Sirenen geboren: eine ähnliche Geburt wie die der Erinnyen..."
    ... und die der Aphrodite. Sind die Sirenen für die griechische Mythologie also Wesen, die eigentlich keine Mutter haben und nur einen mächtigen Vater? Das besagt aber nur eine der vielen Erzählungen. In Anderen bleibt zwar Acheloos der Vater, aber als Mutter wird Sterope, eine der Hesperiden, oder der Musen, erwähnt. Die helle Stimme und das musikalische Talent sind von Anfang an wesentliche Attribute sowohl der Hesperiden als auch der Musen. Und genau das sollen die Sirenen von ihrer Mutter geerbt haben. Die Mutterfrage beschert uns auch eine weitere Überraschung: Wenn man durch die Landschaften der alten Texte wandert, taucht als mögliche Erzeugerin der Sirenen auch eine andere weibliche Figur auf, eine mächtige, furchterregende. Karoly Kerenyi erklärt weiter:
    "Ältere Erzählungen wussten von einer anderen Mutter. Und sie wussten auch von einer engeren Beziehung zu Persephone. Es wurde erzählt dass die Sirenen Gefährtinnen der Unterweltkönigin waren. Sie seien Töchter der Chthon, der "Erdentiefe", und Persephone sende sie. Man sieht auf einem sehr alten Vasenbild, wie zwei Sirenen vor einer thronenden großen Göttin singen, dem Schiff von Odysseus zugewandt, das von oben her von zwei mächtigen Vögeln angegriffen wird. Die Sirenen hatten die Aufgabe, die ankommenden bei der großen Unterweltkönigin zu empfangen und sie, mit den süßen Tönen ihrer Musik und ihres Gesanges bezaubernd, bei ihr einzuführen. Und zwar nicht nur die unglücklichen Schiffer, sondern alle, die in das Totenreich eingehen müssen. Die Bitterkeit des Todes wird durch ihre Kunst gemildert und verklärt."
    Diese Begleiterfunktion üben auch männliche, bärtige Sirenen aus, wie man auf alten Vasenmalereien sieht.
    Mehr über den Altphilologen Karoly Kerenyi
    Dialektik der Aufklärung

    Was die Sirenen dem griechischen Held geweissagt haben, das erzählt Homer nicht. Odysseus besiegt und demütigt zugleich die singenden Sirenen. Das gelingt ihm dank seiner List und der Anwendung einer primitiven Technologie. Damit sind wir im 20. Jahrhundert gelandet, bei der bekannten Interpretation des homerischen Textes durch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung.
    "Wie die Erzählung von den Sirenen die Verschränktheit von Mythos und rationaler Arbeit in sich beschließt, so legt die Odyssee insgesamt Zeugnis ab von der Dialektik der Aufklärung. Das Epos zeigt, zumal in seiner ältesten Schicht an den Mythos sich gebunden: die Abenteuer stammen aus der volksmäßigen Überlieferung. Im Gegensatz des einen überlebenden Ich zum vielfältigen Schicksal prägt sich derjenige der Aufklärung zum Mythos aus. Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewusstsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen. Die Vorwelt ist in den Raum säkularisiert, den er durchmisst, die alten Dämonen bevölkern den fernen Rand und die Inseln des zivilisierten Mittelmeeres, zurückgescheucht in Festgestalt und Höhle, woraus sie einmal im Schauder der Urzeit entsprangen."
    In diesem Abenteuerroman spielt die Sirenenepisode eine zentrale Rolle. Da zeigt sich die Schlauheit des Odysseus, sein besonders gelenkiger Charakter. Hören wir wie Horkheimer und Adorno weiter argumentieren:
    "Es ist unmöglich, die Sirenen zu hören und ihnen nicht zu verfallen: es lässt sich ihnen nicht trotzen. Trotz und Verblendung ist eines, und wer ihnen trotzt, ist eben an den Mythos verloren, dem er sich stellt. List ist aber der rational gewordene Trotz. Odysseus versucht nicht einen anderen Weg zu fahren als den an der Sirenen Insel vorbei. Er macht sich ganz klein, das Schiff nimmt seinen vorbestimmten, fatalen Kurs, und er realisiert, daß er, wie sehr auch bewußt von Natur distanziert, als Hörender ihr verfallen bleibt. Er hält den Vertrag seiner Hörigkeit inne und zappelt noch am Mastbaum, um in die Arme der Verderberinnen zu stürzen. Odysseus erkennt die archaische Übermacht des Liedes an, in dem er, technisch aufgeklärt, sich fesseln lässt. Er neigt sich dem Liede der Lust und vereitelt sie wie den Tod."
    Dialektik der Aufklärung ist eine im Untertitel als Philosophische Fragmente bezeichnete Sammlung von Essays von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und gilt als eines der grundlegenden Werke zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.
    Dialektik der Aufklärung
    Max Horkheimer und Theodor W. Adorno
    Philosophische Fragmente.
    2006 FISCHER Taschenbuch

    "Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück." Max Horkheimer/Theodor W. Adorno
    Noch während des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten entstanden, 1947 als Buch erschienen, mit der Neuausgabe von 1969 endgültig zum einflussreichsten Werk der "Frankfurter Schule" geworden: eine Sonderausgabe zum hundertsten Geburtstag Theodor W. Adornos am 11. September 2003.
    Rheingeschöpfe
    Die schönste Jungfrau sitzet
    Dort oben wunderbar,
    Ihr gold’nes Geschmeide blitzet
    Sie kämmt ihr goldenes Haar
    Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
    Und singt ein Lied dabei;
    Das hat eine wundersame,
    Gewalt’ge Melodei.
    Den Schiffer im kleinen Schiffe,'
    Ergreift es mit wildem Weh;
    Er schaut nicht die Felsenriffe,
    Er schaut nur hinauf in die Höh'.
    Ich glaube, die Wellen verschlingen
    Am Ende Schiffer und Kahn,
    Und das hat mit ihrem Singen,
    Die Loreley getan.

    So beschwört Heinrich Heine die Loreley, die mit ihrem geheimnisvollen Gesang alle Schiffer in den Tod zu stürzen vermag. Man darf sie dafür nicht verdammen. Verführung und Tod liegen in ihrer Natur! In den Texten der Romantiker lebt die Loreley als Mörderin jenseits der Schuldfrage weiter und bildet eine Projektionsfläche für jede Art von morbider, edler, auch ritterlicher Todessehnsucht. Als Rheingeschöpf versteht sich die Loreley prächtig mit ihren Mittelmeerschwestern. So wie die mythologischen Sirenen ist auch die Loreley in einer Landschaft zu Hause, in der die Natur nicht nur ihr schönes, sondern vor allem ihr gefährliches Antlitz zeigen kann. Sowohl das Rheinmädchen als auch die griechischen Verführerinnen sitzen an Orten, die in den Seenkarten als zu vermeidende vermerkt sind, wegen gewaltiger Strömungen, tückischer Untiefen oder verwirrender akustischer Phänomene. Es macht keinen Unterschied, ob der Schiffer in der glühenden Sonne eines altgriechischen Mittags seinem Schicksal begegnet oder ob die schaurige Dämmerung eines nördlichen Tages als Kulisse der Ereignisse dient. Ein dunkles, tiefgreifendes Wissen haben die Sirenen und ihre deutsche Variante gemein. Bei der Loreley verweist dieses Wissen auf die Nibelungensage, auf im Rhein versunkenes Gold. Clemens Brentano erzählt in seinem Rheinmärchen davon:
    Clemens Brentano
    Die Rheinmärchen

    2009 Bibliographisches Institut, Berlin
    Albatros Verlag

    Mit übersprudelnder Erfindungsgabe erschafft Clemens Brentano aus diversen Motiven unterschiedlichster Sagen und Volksmärchen die ganz eigene, zauberhafte Phantasiewelt der Rheinmärchen. Die vier Einzelmärchen dieses Zyklus , Das Märchen von dem Rhein und dem Müller Radlauf, Das Märchen aus dem Hause Starenberg und den Ahnen des Müllers Radlauf, Das Märchen vom Murmeltier und Das Märchen vom Schneider Siebentot auf einen Schlag sind motivisch eng miteinander verwoben. Gemeinsam ist ihnen zudem die Liebe zum »Vater Rhein«. Die humorvolle, spielerische und oft hochmusikalische Sprache dieser Dichtung entführt den Leser aus der grauen Alltagswelt ins Reich der Phantasie.
    Die Loreley.
    Der romantische Mythos in den Gedichten Brentanos, Eichendorffs und
    Heines
    von Bucher, Stefanie
    Akademische Schriftenreihe
    2013 GRIN Verlag