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Die Lange Nacht über Bibliotheken
Erwarte das Unerwartete

Regale weichen Servern, Bücher werden digitalisiert. Sowohl die öffentlichen als auch die wissenschaftlichen Bibliotheken stecken in einem gewaltigen Transformationsprozess. Doch allen Unkenrufen zum Trotz sind Bibliotheken höchst erfolgreiche Einrichtungen.

Von Beate Ziegs |
    Das Eingangsschild der Berliner Landesbibliothek
    Die Berliner Landesbibliothek ist die Bibliothek des Jahres 2019 (www.imago-images.de)
    Die Besucherzahlen der Bibliotheken übertreffen die von Theatern oder Museen und liegen sogar noch weit vor den Fußballstadien.
    Als sogenannte Dritte Orte stehen sie jedermann offen und bieten einen nicht-kommerziellen Raum für das Miteinander verschiedenartiger Kulturen. Sie spielen damit eine bedeutende Rolle in der westlich geprägten liberalen Demokratie.
    Und so steht tatsächlich nicht das Buch im Mittelpunkt, sondern der Mensch als Nutzer und Mitgestalter dieses Raums. Dieser Ansatz ist allerdings nicht neu, wie ein Blick zurück in die jahrtausendalte Geschichte der Bibliothek zeigt. Schon immer ging es um die Vermittlung von Wissen, nicht um das Hüten des Mediums, auf dem dieses Wissen gespeichert ist.
    Dass dieser Auftrag von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Kultur zu Kultur einem steten Wandel unterliegt, versteht sich von selbst. So sehen die Gesprächspartner dieser Langen Nacht den Transformationsprozess überwiegend nicht als Krise, sondern als Herausforderung und Chance - und wagen einen durchaus optimistischen Blick in die Zukunft.
    Erzbischof Gebhard von Salzburg, Mitte des 11. Jahrhunderts. "Ein Kloster ohne Bibliothek ist wie eine Burg ohne Waffen."
    Benjamin Franklin: "Eine Investition in Wissen bringt noch immer die besten Zinsen."
    Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Leipziger Universitätsbibliothek.
    Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Leipziger Universitätsbibliothek. (Universität Leipzig)
    Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig
    "Die Digitalisierung erlaubt die Defragmentierung der Überlieferung. Durch die Überlieferung ist es gekommen, dass wir von der ältesten Bibel der Welt, dem "Codex Sinaiticus", hier einige Seiten haben; in London liegt etwas, in St. Petersburg und im Katharinenkloster auf dem Sinai. Digital haben wir es zusammengeführt. Und das heißt jetzt nicht nur, dass da Bilder im Netz sind von diesen Gegenständen und Schriften, sondern das heißt zum Beispiel im Falle der islamischen Handschriften, dass Beschreibungen dieser Handschriften im Netz sind auf Deutsch, auf Englisch und auf Arabisch. Das könnten Sie im Druck gar nicht herstellen, so eine Informationsvielfalt.

    Bibliotheken stehen immer in der Gefahr, abhängig zu werden und sich in Monopole zu begegeben in ganz vielerlei Hinsicht. Und deshalb ist es schon wichtig, dass man schaut, wo kann man als Bibliothek selbständig sein und selber Werte der Öffentlichkeit, der Kostenlosigkeit, der Transparenz setzen und durchsetzen. Das ist nicht einfach, aber ich glaube schon, dass das Bemühen extrem wichtig ist. Wir zum Beispiel digitalisieren unsere Kulturschätze und geben sie frei ins Netz. Wir verlangen nicht einmal, dass man uns zitiert, dass man sagt, dass sie von hier sind. Wir finden, das ist öffentlicher Besitz, und er soll dort sein, wo die Öffentlichkeit diese Dinge benutzt – eben jetzt heutzutage im Internet.

    Ich bin ein großer Buchromantiker und habe auch eine private Bibliothek zu Hause. Aber als Leiter einer wissenschaftlichen Bibliothek muss ich sagen: Hier ging es noch nie ums Buch! Es ging immer um das Wissen, was in den Büchern steckt. Und die Wissenschaftler haben sich noch zu keiner Zeit darum geschert, wie die Information an sie herangekommen ist. Das konnte ein Brief eines Kollegen sein, das konnte ein Aufsatz sein, das konnte ein Buch sein, was sie entdeckt haben oder von dem sie gehört haben. Also mit Blick auf die Vergangenheit bin ich ganz sicher, dass die Gegenwart da gar keine Ausnahme darstellt: Die Wissenschaftler wollen die Informationen schnell, ausführlich, kontrolliert, in bester Qualität – und egal wie."
    Universitätsbibliothek Leipzig, zu der die "Bibliotheca Albertina" gehört.
    Das Magazin der Anna Amalia Bibliothek mit einem Ausschnitt der Almanachsammlung von Arthur Goldschmidt, aufgenommen in Weimar.
    Das Magazin der Anna Amalia Bibliothek mit einem Ausschnitt der Almanachsammlung von Arthur Goldschmidt, aufgenommen in Weimar. (dpa-Zentralbild / Marc Tirl)
    Michael Knoche, von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
    "Bücher waren immer – in alten Zeiten jedenfalls – Symbole der Macht. Und wenn man von diesen Symbolen eine erkleckliche Anzahl in prächtigen Ausgaben und in einem wunderbaren Ambiente vorstellen konnte – das imponierte den Besuchern auf jeden Fall. Und deswegen dienten Bibliotheken neben den Wunderkammern dazu, diese Macht – in diesem Fall über das Medium des Wissens – auch deutlich zu machen.
    Im Mittelalter hat es in Deutschland eigentlich keine Fürstenbibliotheken gegeben, weil die Kaiser keine feste Residenz hatten, sondern von Hof zu Hof zogen. Erst als die Zersplitterung des Reiches Formen annahm, kam jeder kleine Fürst auf die Idee, auch eine eigene Bibliothek haben zu wollen, um darin seine Herrschaftsidee zum Ausdruck zu bringen. Aber im modernen Sinne waren die Bibliotheken noch nicht öffentlich. Dieser Gedanke setzte erst in der Aufklärungszeit ein; da kam es u.a. in Weimar als eine der ersten Fürstenbibliotheken dazu, dass eine Benutzungsordnung erlassen wurde, die praktisch jedem Einwohner der Stadt die Möglichkeit einräumte, hier Bücher auszuleihen."

    Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar (die mit dem berühmten Rokokosaal)
    Erleuchtet ist am 07.01.2013 in Berlin die Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz. Diese Einrichtung gehört zur Zentral- und Landesbibliothek Berlin.
    Auch betroffen: Die Amerika-Gedenkbibliothek gehört zur Zentral- und Landesbibliothek Berlin. (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Volker Heller, Stiftungsvorsitzender der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB)
    "Ich glaube, eine gute Bibliothek wird vor allen Dingen durch gute Bibliothekare gemacht. Und gute Bibliotheksarbeit ist eben heutzutage nicht mehr nur die Übergabe von Medien in einem Sender-Empfänger-Modell, sondern das Öffnen für das Wissen der Stadtgesellschaft oder ländlichen Gemeinschaften.
    Man muss aus der Defensive auch eines Images heraus kommen, was Bibliotheken in einem sehr romantischen, aber auch rückwärts gewandten Licht erscheinen lässt. Ich glaube, dass die Bibliotheken selber erkannt haben, dass sie sich noch mal aufrappeln müssen, um zu zeigen, welches Potential in dieser Infrastruktur steckt. Und ich bin sehr optimistisch, dass es uns gelingt, eine neue Aufmerksamkeit und damit auch zu einem neuen Image zu kommen.
    Die eigentliche Idee ist, dass wir den Sonntag dahin entwickeln wollen, bildlich gesprochen den Schlüssel zur Bibliothek den Menschen aus der Stadt zu geben und zu sagen: "Hier habt ihr den Schlüssel, macht was draus! Es ist euer Raum. Hier könnt ihr Wissen teilen, hier könnt ihr euch in Diskurse stürzen, hier könnt ihr Workshops geben, hier kann man Leidenschaften miteinander teilen." Also ich komme in eine Bibliothek und es ist auf einmal laut und es wird gelacht und es wird heftig gestritten und diskutiert. Oder ich komme an ein Regal, in dem Menschen untereinander Dinge tauschen – Bohrmaschinen oder anderes. Wir bieten Programmierkurse für Kinder an. Und dann wuseln da auf einmal kleine Roboter über den Bibliotheksfußboden, die gerade eben von Kindern programmiert wurden, um irgendwann zu laufen und zu fahren, und man muss aufpassen, dass man nicht darüber stolpert. Auch das ist ein "erwarte das Unerwartete": in diesen Raum zu gehen und immer wieder überrascht zu werden vom aktuellen Leben.
    Ich habe gar nichts gegen ikonographische Architektur und bin auch fasziniert, und ich habe auch nichts gegen Kathedralen. Aber sie müssen auch flexibel sein. Für mich ist immer so ein Beispiel der Neubau der Stadtbibliothek Stuttgart. Als der geplant wurde, gab es das Smartphone noch nicht. Und das ist ja noch nicht so lange her. Da kriegt man so eine Ahnung davon, wie schnell disruptive Prozesse in Medientechnologien ablaufen und eben auch Bibliotheksarbeit massiv beeinflussen können. Und deshalb mein großer Appell dafür, ein Hauptaugenmerk zu richten auf die Flexibilität von Raumnutzungen in Bibliotheken plus insgesamt beim Bibliotheksbau – bei aller Würdigung von Kathedralen – auch das menschliche Maß nicht aus den Augen zu verlieren. Also Menschen müssen sich in einem Raum wohlfühlen und dürfen sich nicht verschlagen fühlen."
    Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB), zu der die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) gehört; die ZLB ist die größte Öffentliche Bibliothek Deutschlands

    Die ZLB ist vom Deutschen Bibliotheksverband und der Telekom-Stiftung kürzlich zur Bibliothek des Jahres 2019 gewählt worden. Die Begründung
    Neue Bibliotheken schaffen sich ihre Nachfrage
    "Bibliotheken sind zu Begegnungsorten geworden, die ausnahmsweise mal nicht kommerziell betrieben werden.".
    Frank Simon Ritz, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig: "Es geht darum, Identität in einer globalisierten Welt zu finden. Wir wollen mit unseren Bauprojekten einen Beitrag für eine bessere Welt schaffen. Uns geht es in erster Linie um Menschen. Nicht formell, sondern informell; nicht um einige, sondern um alle."
    Francine Houben, holländische Stararchitektin über die von ihr entworfenen Bibliotheken, z.B. Library of Birmingham = größte öffentliche Bibliothek Europas:
    "Die Gründung beruht auf der unbegrenzten Freiheit des menschlichen Geistes. Denn hier scheuen wir uns nicht, der Wahrheit auf allen Wegen zu folgen und selbst den Irrtum zu dulden, solange Vernunft ihn frei und unbehindert bekämpfen kann." Thomas Jefferson, der Ausspruch ist Leitmotiv der Amerika-Gedenkbibliothek und schmückt dort die Innenwand des Hauptportals, und zwar seit 1954, dem Gründungsjahr der AGB!"

    Auch interessant:
    Biblioteca Nazionale Marciana, Venedig – erste Öffentliche Bibliothek der Moderne, weil seit ihrer Gründung nicht nur für das Publikum offen, sondern auch in öffentlichem Besitz
    Unbedingt sehens- und empfehlenswert

    "Ex Libris – The New York Public Library", Dokumentarfilm von Frederick Wiseman, 2017. Länge: 197 Minuten. Originalsprache Englisch mit deutschen Untertiteln. Als DVD erhältlich. Link zum Wikipedia-Eintrag
    Die Bibliotheken von Innen
    Rob Bruijnzeels, lange Jahre leitender Bibliothekar in den Niederlanden, Mitbegründer des "Ministeriums für Vorstellungskraft", das Bibliotheken von Innen erneuert:
    "Eine Bibliothek muss gute Fragen stellen. Nicht beantworten, sondern stellen. Es geht um Bedeutung, es geht um Verständnis. Antworten sind uninteressant. Aber der Kontext von Fragen, das ist schon interessant – und das versuchen wir.
    Bibliotheken ist ein Verb. Ich bibliotheke, du bibliothekst, er bibliothekt, wir bibliotheken, sie bibliotheken – alle bibliotheken. Die ganze Welt bibliothekt letztendlich. Weil jeder ist eigentlich Bibliothekar in seinem eigenen Leben. Also Bibliothek ist eine Art Tätigkeit eigentlich."
    Deutscher Bibliotheksverband
    Zerstörung von Bibliotheken:
    Fernando Báez, venezolanischer Bibliothekswissenschaftler, Schriftsteller, Übersetzer und politischer Aktivist
    "Indem der Mensch durch Feuer zerstört, tut er, als wäre er Gott, als wäre er durch das Feuer Herr über Leben und Tod. Auf diese Weise identifiziert er sich mit einem purifizierenden Sonnenkult und mit dem großen Mythos der Zerstörung, die fast immer durch Verbrennung erfolgt. Der Grund für den Gebrauch des Feuers liegt auf der Hand: Es reduziert den Geist eines Werkes auf bloße Materie."
    Lucien Polastron, französischer Schriftsteller und Historiker
    "Es gibt einen tieferen Grund, der sich hinter allen Motiven verbirgt: Das Buch ist das Ebenbild des Menschen. Es zu verbrennen bedeutet, auch ihn zu verbrennen. Und von Zeit zu Zeit geschieht das eine nicht ohne das andere. () Jahrhundert für Jahrhundert erblicken wir das vielgestaltige Gesicht, das die Barbarei annimmt. Schlussendlich kommen wir jedoch nicht umhin festzustellen, dass dieses Gesicht unserem eigenen etwas zu nahe ist – zu nahe und zu ähnlich."
    Alberto Manguel, aus Argentinien stammender Schriftsteller, Literaturdozent, Übersetzer und Redakteur.
    "Die Liste verschwundener Bibliotheken ist länger als die Liste jener, die man besuchen kann."
    Weiterführende Literatur:
    Fernando Báez, A Universal History of the Destruction of Books: From Ancient Sumer to Modern Iraq. Übersetzung aus dem Spanischen ins Englische von Alfred MacAdam. Atlas. New York, NY 2010
    James W. P. Campbell, Die Bibliothek. Kulturgeschichte und Architektur von der Antike bis heute. Mit Fotografien von Will Pryce. Aus dem Englischen von Gregor Runge, Dörte Fuchs und Jutta Orth. Knesebeck Verlag. München 2013
    Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek. Aus dem Italienischen von Andreas und Hugo Beyer. Rotbuch Verlag. Berlin 1990
    Mirko Gemmel und Magrit Vogt (Hg.), Wissensräume. Bibliotheken in der Literatur. Ripperger & Kremers. Berlin 2013
    Konrad Heyde, Letzte Bibliotheken. Reflexe eines schwindenden Zeitalters. Sammlung ISELE, Band 742. Books on Demand. 2017
    Uwe Jochum, Geschichte der abendländischen Bibliothek. Primus Verlag / WBG. Darmstadt 2012
    Uwe Jochum, Kleine Bibliotheksgeschichte. Reclams Universal-Bibliothek. Ditzingen 2007
    Michael Knoche, Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. Wallstein Verlag. Göttingen 2018
    Alberto Manguel, Die Bibliothek bei Nacht. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 2009
    Lucien X. Polastron, Books on Fire. The Destruction of Libraries throughout History. Translated by John E. Graham. Inner Traditions. Rochester, VT 2007
    Nikolaus Wegmann, Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Böhlau Verlag. Köln 2000
    Ein wissenschaftlich-unterhaltsames Kuriosum:
    Eric W. Steinhauer, Büchergrüfte. Warum Büchersammeln morbide ist und Lesen gefährlich. Lambert Schneider Verlag / WBG. Darmstadt 2014