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Die lange Reise des Peter Sís

Was Peter Sís immer wieder fasziniert, sind die Biografien unabhängiger Geister, die sich gegen herrschende Gedanken auflehnten und ihren eigenen Weg beschritten - selbst, wenn sie in Gefahr gerieten und größte Not. Einer davon war Charles Darwin und von dessen Leben handelt "Der Baum des Lebens". Peter Sís gelingt mit dieser Biografie eine einzigartige Hommage an einen Menschen, der sich weder durch gesellschaftlichen Widerstand noch durch Selbstzweifel von seiner mühsamen Lebensaufgabe abbringen ließ.

Von Siggi Seuß | 30.04.2005
    " Die erste Idee kam mir, als ich in Minneapolis ein Bein gebrochen hatte und im Krankenhaus lag. Dort gab es eine kleine Bibliothek und ich fand ein Buch über die Reise der "Beagle". Dieses Bilderbuch hat mich sehr inspiriert, all die Fakten, wenig Text, aber viele Bilder. Was ich noch aus der Schulzeit über Darwin wusste, war fast nichts. Und ich dachte mir: "Das wird ein fantastisches Buch, weil er auf die Galapagos Inseln kommen und alles sehen wird - und das wird der Durchbruch sein!"

    Peter Sís' Bücher sind stets eine Herausforderung, der er sich mit Herz und Seele eines Abenteurers hingibt, mit dem Verstand eines Welterforschers, der weiß, dass sein Böhmen am Meer liegt, auch wenn die staatstragenden Gemüter dieses Meer nie sahen oder sehen wollten. Peter Sís verließ sein Land, als es ihm zunehmend die Aussicht auf ferne Gestade und fremde Welten verwehrte. Was ihn immer wieder fasziniert, sind die Biografien unabhängiger Geister, die sich gegen herrschende Gedanken auflehnten und ihren eigenen Weg beschritten - selbst, wenn sie in Gefahr gerieten und größte Not.

    " Jetzt sieht es so aus, als hätte ich einen Grundplan gehabt, um diese Männer zu porträtieren, aber so war's nicht. Jetzt allerdings kann ich sie in eine Reihe stellen und sagen: Galilei, Darwin und Kolumbus waren drei Menschen, die versuchten anders zu denken." Das mag ich, weil ich - als ich in Prag aufwuchs - bei den Jungen Pionieren war. Die sagten: "Hier geht's lang!" Und alle marschierten hier entlang. Diese Männer hätten gesagt: "Nein. Ohne uns."

    Charles Darwin öffnet zum ersten Mal seine Augen! Er hat keine Ahnung, dass er (a) eine Revolution auslösen wird, wenn er erwachsen ist, (b) fünf Jahre lang um die Welt segeln, (c) viele Jahre mit dem Studium der Natur verbringen und (d) ein Buch schreiben wird, das die Welt verändern soll. Glücklicherweise weiß er nichts davon, dass (e) nicht jeder seine Ansichten teilen wird, und dass (f) er selbst Zweifel hegen wird, ob er seine grandiosen Schlussfolgerungen veröffentlichen soll.

    " Klar, war ich auch von der Exotik fasziniert - von den Landkarten der Forschungsreisenden. Aus Darwins Tagebuch erfuhr ich, dass er nie zeichnete, obwohl er es eigentlich wollte. Also fragte ich mich: "Wie kann ich diese Tagebücher illustrieren?" Natürlich war ich so von der Reise der "Beagle" geblendet, dass ich vergaß, dass sie gerade mal fünf Jahre dauerte und Darwin danach ein Leben lang nirgendwo mehr hinreiste. "

    Peter Sís wurde teilnehmender Beobachter. Er sammelte und sammelte und sammelte Indizien und Fakten.

    " Wie Dr. Watson für Sherlock Holmes. - Nein, so war es nicht. Ich glaube, ich war zu arrogant, nahm die Aufgabe zu leicht. Ich ging zu meiner Verlegerin und sagte ihr: "Ich will ein Buch über Darwin machen." - Sie war Feuer und Flamme, weil sie eben ein Artikel in der New York Times inspiriert hatte. Der berichtete, dass sich in Kansas und in Louisiana die Schulbehörden entschieden hatten, in der Schule nicht mehr "Evolution" zu lehren. - 58 Prozent der Amerikaner glauben nicht an die Evolution. Für sie ist Darwin ein sündiger, ein furchtbarer Mensch. "

    In Peter Sís' unverwechselbar illustrierten Büchern erscheint immer wieder der Kreis in verschiedensten Variationen. Der Kreis als Pupille, als Symbol des Sehens. Der Kreis als Metapher für den individuellen Lebenshorizont. Der Kreis als Symbol für die Erde, das Sonnensystem, das Weltall. Der Kreis als Metapher für das Werden und Vergehen. Der Kreis als Symbol für Freiheit und Bewegung. Der Kreis ist schließlich aber auch Metapher für Beschränkung, selbstgesetzte oder fremdbestimmte. Das Mauerwerk mächtiger Gebäude als Kreislinie kennzeichnet diese Grenzen am deutlichsten. - So spielen die unterschiedlichsten Lebenskreise, die Charles Darwin von der Geburt bis zum Tod durchschritt, eine enorme Rolle in Peter Sís Bilderreigen.

    " Und dann wurde es derart kompliziert - es tauchten viele Fragen auf -, dass ich versuchte, das Projekt zur Seite zu schieben und lieber an "Ein Hund für Madlenka" arbeitete. Das war vor etwa vier Jahren. So wurde ich viel später als geplant mit dem Darwinbuch fertig. Und was dazwischen noch passierte: Da ich alle meine Bücher mit meinem Vater besprach, erinnere ich mich daran, dass er an einem Punkt sagte: "Das ist zu schwierig." Er war ein sehr wichtiger Berater für mich, da er die poetischere Seite, die alte tschechische Seite vertrat. Irgendwie wollte ich diese Verbindung zur tschechischen Poesie immer für mich bewahren."

    "Seit meiner Rückkehr bin ich ständig mit einer sehr vermessenen Arbeit befasst, von der, wie ich weiß, mehr als einer sagen würde, dass sie eine törichte ist."

    " Das war das erste Projekt, bei dem er sagte: "Lass die Finger davon!" Er schrieb eine wundervolle, poetische Zusammenfassung und ich sagte: "Nein, nein, nein - hier geht's um Wissenschaft und ich muss exakt beschreiben. Es wird eine Menge Leute geben, die jeden kritischen Punkt aufspüren wollen. Du kannst Darwin nicht einfach in der Natur herumwandern lassen." Und so beendete ich das Buch gegen seinen Rat. "

    Im Zusammenhang mit dem "Baum des Lebens" von einem Bilderbuch im klassischen Sinn zu sprechen, ist irreführend. Das Buch ähnelt einem penibel geführten, großformatigen Forschungsjournal, mit Skizzen, Zeichnungen, Aufrissen, Grundrissen, mit handschriftlichen Notizen und gedruckten Texten, mit Landkarten und einer Unzahl von Bildern in Bildern in Bildern. Kein Raum, der nicht genutzt würde. Aber jedes Fleckchen hat seine Bedeutung in der Ordnung der Dinge. So wird Darwins illustrierte Lebensgeschichte zu einem Leseabenteuer, das einen viel länger und intensiver beschäftigt als jede Bilderbuchlektüre. Immer und immer wieder entdeckt man neue Details.

    " Ich wollte es immer wieder zur Seite schieben und arbeitete schon zwei oder drei Jahre an dem Projekt, als mein Vater starb und zur selben Zeit das World Trade Center einstürzte. Ich sagte mir: "Ich kann's nicht tun." Aber meine Verlegerin fragte immer wieder: "Gut, und was passiert mit Darwin?" Langsam haben wir das Buch schließlich beendet. Und dann setzte der Verlag zwei oder drei Faktenrechercheure ein, die überprüften, ob alles korrekt war, weil sie eine Menge Auseinandersetzungen erwarteten. - Irgendwann, als fast alles fertig war, guckte ich mit meiner Frau zufällig im Fernsehen eine BBC-Sendung über Evolution. Dazu zeigten sie einen kleinen Vorfilm über Darwin, in der Art eines historischen Films, mit Kostümen. Der Darwin-Darsteller tat alles mit seiner linken Hand. Und ich dachte: "Verflixt, Darwin war ein Linkshänder! Das BBC-Team hat das wahrscheinlich alles geprüft." - Also tippte ich am Computer "Linke Hand, Darwin" ein, und das Suchsystem sagte mir "Einstein und so weiter" - es vermerkte sechs Genies, die Linkshänder waren und Darwin war angeblich einer von ihnen. Also sagte ich: "Das ist mir Beweis genug" und änderte drei Bilder, wo er irgendwas abschreibt. Ich setzte die Schreibfeder von der rechten in die linke Hand. Und als das Buch fast schon in den Druck ging, fragte meine Verlegerin: "Wie kannst du dir sicher sein, dass Darwin Linkshänder war?" - "Weil ich's im Fernsehen gesehen habe und im Internet." - Sie gingen trotzdem noch einmal an den Computer und druckten 26 Seiten aus und Darwin war nur auf einer davon. Also fragten sie: "Was war das für ein Film?" Und ich sagte: "Ein BBC-Film über Darwin." - "Kennst du den Titel?" - Meine Frau rief in London an und fand heraus, dass die Filmproduktion in Seattle saß. Sie telefonierte mit dem Regisseur und der sagte: "Oh, wie dachten, niemand würde das bemerken, dass der Schauspieler ein Linkshänder ist." - Also, musste ich die Feder wieder aus Darwins linker Hand entfernen. Aber wenn man nun auf das Bild hier guckt, wie er an seinem bekannten Buch schreibt, schreibt er eigentlich überhaupt nicht. Er hat keine Schreibfeder in der Hand. Denn als ich sie ihm wieder in die richtige Hand legen wollte, wurde das Papier zu dünn und deshalb hält er nur das Buch. - Das war die Geschichte vom linkshändischen Fehlschlag. Und dann war das Buch endlich fertig. "

    Natürlich ist eine Reise durch eine illustrierte Lebensgeschichte eine ungleich anspruchsvollere und damit auch anstrengendere Tätigkeit als die des Betrachtens eines Bilderbuchs. Aber Peter Sís gelingt mit dieser Darwin-Biografie eine einzigartige Hommage an einen unabhängigen Geist, der sich weder durch gesellschaftlichen Widerstand noch durch Selbstzweifel von seiner mühsamen Lebensaufgabe - der Entstehung der Arten auf die Spur zu kommen - abbringen ließ. Die meisten von uns wissen wenig bis gar nichts von Darwins Leben, obwohl seine Erkenntnisse das moderne Weltbild entscheidend beeinflussten. "Der Baum des Lebens" - Peter Sís bezeichnet es als sein bislang schwierigstes Buchprojekt - öffnet uns den Blick hinter die Fassaden eines außergewöhnlichen Forscherlebens mehr als es ein Lehrbuch kann.

    "Ich hab das Buch gegen den Rat meines Vaters gemacht - aber er würde nun, glaube ich, stolz darauf sein. Ich denke, er würde wahrscheinlich nur sagen, dass es, seiner Meinung nach, weniger poetisch als Galileo, weniger poetisch als "Tibet" oder "Madlenka" ist."