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Die langen Schatten von Vichy

Geschichte ist nicht einfach darzustellen, Kulturgeschichte noch weniger. Denn da lösen sich nicht nur Herrscher und Regierungsformen ab, sondern Ideen, Meisterdenker, Werke - und sie folgen nicht brav chronologisch aufeinander, sondern beeinflussen und verändern sich gegenseitig. Wer die Geschichte der französischen Nachkriegskultur betrachtet, den blicken Ideologien, Strömungen, Schulen und Einzelpersönlichkeiten in bunter Vielfalt an: Existenzialismus, Strukturalismus, nouveau roman, absurdes Theater, Postmoderne, nouvelle philosophie und wie sie alle heißen. Wer davor nicht gleich die Waffen strecken will, muß sich ganz hoch hinaufschwingen, auf die Höhe einer These, von der aus sich das verwirrende Gewimmel wie von selbst anordnet und brav in Reih und Glied dasteht.

Martin Ebel |
    Genau das tut Jürg Altwegg in seinem Buch "Die langen Schatten von Vichy". Vichy, das war die Hauptstadt des französischen Rumpfstaates von deutschen Gnaden während der Kriegsjahre 1940-1944. Frankreich hat in dieser Zeit heftig mit den deutschen Besatzern kollaboriert, aber auch eine mutige Widerstandsbewegung hervorgebracht, die Résistance. Das eine wollte man nach dem Krieg schnell vergessen, an das andere unentwegt erinnern: De Gaulle, der es wahrlich besser wußte, pflegte den Mythos eines einigen Volkes von Widerständlern. Erst nach vielen Jahrzehnten war Frankreich offenbar reif für die Wahrheit, die mit all ihren zwielichtigen und häßlichen Seiten nach und nach ans Licht kam. Altwegg deutet nun alle kulturellen und intellektuellen Phänomene der Nachkriegszeit als Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit. In der Einleitung postuliert er: "Die These von einer Verdrängung der faschistischen Vergangenheit und einer langsamen Rückkehr des Verdrängten ermöglicht eine kohärente Darstellung des gesamten kulturellen und politischen Geschehens in Frankreich seit einem halben Jahrhundert, es ist die einzige Perspektive, welche die widersprüchlichen, oft irrationalen Ereignisse und Erscheinungen einzuordnen vermag."

    So absolut, wie er sie formuliert, ist die These natürlich nicht haltbar; nicht alles, was Frankreich nach 1945 künstlerisch und intellektuell hervorgebracht hat, läßt sich über diesen Leisten schlagen. Aber brauchbar als Orientierungshilfe ist sie durchaus. Und die beiden großen Figuren, um die Altweggs Buch kreist, Jean-Paul Sartre und Francois Mitterrand, lassen sich mit ihr sehr plausibel interpretieren.

    Daß Jean-Paul Sartre kein Widerstandskämpfer war, ist bekannt. Im Kriegsgefangenenlager las und schrieb er, nach seiner Entlassung machte er mit Simone de Beauvoir Reisen durch Frankreich. Seine Theaterstücke "Huis clos" und "Les mouches" kamen mit Erlaubnis der deutschen Zensur auf die Bühne. Nach dem Krieg aber setzte Sartre in einem kompensatorischen Akt die moralische Meßlatte sehr hoch - so hoch, daß der kleinwüchsige Mann selbst darunter hergehen konnte. In einem Artikel gibt er Flaubert und den Brüdern Goncourt Mitschuld an der Niederschlagung der Kommune, weil sie nichts dagegen geschrieben hätten - und wußte doch, daß diese Verurteilung zuallererst ihn selbst treffen mußte. Dieses Bewußtsein eigener Unzulänglichkeit wurde für Sartre zur Obsession, schreibt Altwegg; immer wieder suchte er neue Opfer, mit denen er sich solidarisieren konnte, um nachzuholen, was er damals verabsäumt hatte. Ein solches Opfer war in seinen Augen der Terrorist Andreas Baader, dem er einen spektakulären Besuch im Gefängnis abstattete.

    Der eigentliche Schmied des einigenden Mythos von der Résistance war Charles de Gaulle, der bei Altwegg übrigens eine zu geringe Rolle spielt. Seinem langjährigen Gegner und späteren Nachfolger Francois Mitterrand gelang es, eine wahrheitsgemäßere Auseinandersetzung mit der Vichy- Vergangenheit zu ermöglichen. Einerseits pflegte er sorgfältig die Erinnerungen an heroische Widerstandstaten, andererseits schützte er manchen Kollaborateur vor dem Richter. Er hielt den Mythos hoch und erlaubte zugleich seine Zerstörung. Kein anderer war so geeignet für diesen "dialektischen" Umgang mit der Vergangenheit, denn Mitterrand war selbst beides gewesen, Kollaborateur und Widerstandskämpfer. Mit seiner Präsidentschaft kommt der komplexe und schmerzhafte Prozeß zu einem Abschluß, meint Altwegg.

    Am Ende seines Buches wagt er einen Blick nach vorne, und der zeigt ein Frankreich, wie wir es nicht kennen: normaler, europäischer, den Nachbarländern ähnlicher. Französische Sonderwege, meint er, sind zu Ende; das "Pendeln" zwischen Revolution und Reaktion, das seit 1789 die französische Geschichte prägt, wird vorbei sein, aber auch die Dominanz des Geistes, der prägende Einfluß der Literatur. Gott in Frankreich wird ein Schriftsteller wohl nicht mehr sein. All das sind kluge und oft überzeugende Gedanken, auch wenn Altweggs These ihre Objekte stark strapazieren muß und für manche Erscheinung zur Streckbank gerät. Grundsätzlich einzuwenden wäre zweierlei: Zum ersten überschätzt Altwegg den "Überbau", intellektuelle Phänomene überhaupt. Wohl schmückt sich Frankreich gern mit Literatur und mit Literaten, aber Geschichte machen sie auch dort nicht. Zum zweiten ist die Übertragung von Begriffen aus der Psychoanalyse, an deren Wissenschaftlichkeit man schon beim Individuum nicht recht glauben mag, auf ein ganzes Volk mehr als fragwürdig. Verdrängung und "ödipale Besessenheit", Neurose und Depression: Für Altwegg liegt Frankreich fünfzig Jahre auf der Couch, stellt sich die ganze Nachkriegsgeschichte als psychoanalytische Therapie dar, die mit der "Entlassung" des Patienten in die Normalität endet.

    Immerhin: Altweggs These ist diskutabel. Sie hätte nur ein besseres Buch verdient. Denn neben den beiden Helden Sartre und Mitterrand stellt er eine Fülle von Kleindarstellern, die das Bild vervollständigen sollen, es aber lediglich verwischen. Camus und Baudrillard, die jüdischen Autorinnen Sarah Kofmann und Charlotte Delbo, Aron und Virilio, Derrida und Althusser, Dumézil und Ariès: Altwegg überschüttet den Leser mit Namen und Kurzreferaten von Theorien, die in sich unverständlich bleiben und deren Bezug zur These meist nicht einsichtig wird. Der Umgang mit fremden Ideen ist zwar Altweggs täglich Brot - der Genfer Journalist hat eine regelmäßige Kolumne in der FAZ, in der er französische Zeitschriftenbeiträge zusammenfaßt. Die Übung hat indes aus ihm noch keinen Meister gemacht. Die Stoffmassen, die er sich vorgenommen hat, bewältigt er nicht, vielmehr überwältigen sie ihn. Dazu kommt, daß sein Deutsch mühsam zu lesen ist, oft ungelenk, manchmal schlampig. Was soll der Leser etwa mit einem "semi-klandestinen Lebensweg" anfangen, was mit einer "Valorisierung der politischen Aktion" oder einem "leicht primären Antigermanismus"? Ein schon wieder schöner Mißgriff und Miß-Begriff ist die "Postrevolution": ganz offensichtlich der Umsturz der Briefkästen.

    Aber Scherz beiseite: Ärgerlich ist, daß Altwegg zwar gerne und ausgiebig zitiert, aber nichts nachweist, auch ein Literaturverzeichnis fehlt. Aber vielleicht geht das aufs Konto des Verlags, der auch etliche Fehler durchgehen ließ. Der Historiker Hugo Ott ist kein Philosoph und Kurt Schumacher kein "SPD-Präsident". Simone de Beauvoir wurde 1943 nicht von der Universität ausgeschlossen, wo sie gar nicht unterrichtet hat; sie war Lehrerin an einem Gymnasium. Der Held von Michel Tourniers Erlkönig kann nicht nach 1945 in Deutschland bleiben, da ist er nämlich schon tot, und der Terrorist Hans-Joachim Klein ist nicht identisch mit Bommi Baumann. Im journalistischen Alltag kommen solche Dinge leider häufig vor, schlimm genug. In einem Buch sollte das nicht passieren.