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Die Legende von der "sauberen" Wehrmacht

Jeder, selbstverständlich auch Adenauer, wusste, dass die Wehrmacht und ihre Soldaten an Verbrechen beteiligt waren, aber des innergesellschaftlichen Frieden willens drückte man beide Augen zu und etablierte die Legende von der "sauberen Wehrmacht". Der Historiker Sönke Neitzel hat jetzt Material auswerten können, das belegt, dass deutsche Generäle an dieser Legende schon vor Kriegsende gestrickt haben.

Von Volker Ullrich | 19.12.2005
    Das Landhaus Trent Park, heute Teil der University of Middlesex, liegt inmitten der von Weiden, Äckern und Wäldern durchzogenen Landschaft von Enfield, nördlich von London. Hier richteten die Briten im Zweiten Weltkrieg ein Lager für gefangengenommene deutsche Stabsoffiziere ein. Die erste größere Gruppe traf nach der Kapitulation der Heeresgruppe Afrika im Mai 1943 ein; nach der alliierten Invasion Nordfrankreichs im Juni 1944 erhöhte sich die Zahl der Gefangenen rasch auf über 80, darunter 63 Generäle, von denen die meisten auf verschiedenen Kriegsschauplätzen tätig gewesen waren.

    Das Leben in Trent Park bot manche Annehmlichkeiten. Die Verpflegung war einfach, aber gut; die Gefangenen durften die reichhaltige Bibliothek benutzen, und sie konnten frei und ungezwungen ihre Erlebnisse und Erfahrungen austauschen. Was sie nicht wussten, war, dass sie dabei belauscht wurden. In zwölf Zimmern und dem großen Aufenthaltsraum waren Mikrofone versteckt. Über Kopfhörer verfolgten britische Abhörspezialisten, unter ihnen deutsche Emigranten, die Gespräche. Ihnen wichtig Erscheinendes schnitten sie auf Platten mit, fertigten anschließend ein Wortprotokoll auf Deutsch und danach eine englische Übersetzung an, die ausgewählten Militär- und Regierungsstellen zugeleitet wurde.

    Die Abhörprotokolle, die in den National Archives in London verwahrt werden, sind bereits 1996 freigegeben worden. Doch wurden sie bislang von der historischen Forschung kaum genutzt. Nun hat der Mainzer Historiker Sönke Neitzel das viele tausend Blätter umfassende Material in Auszügen veröffentlicht. Hervorzuheben ist die editorische Sorgfalt, mit der er dabei zu Werke gegangen ist. Er konfrontiert die Aussagen der Gefangenen mit den Ergebnissen der Forschung und korrigiert sie, wenn notwendig. Neben einer ausführlichen Einleitung und einem umfangreichen Anmerkungsteil enthält der Band Kurzbiografien aller ranghohen Offiziere, die in den Protokollen zu Wort kommen.

    Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich deutsche Generäle bekanntlich einer selbstkritischen Reflexion ihrer Rolle im "Dritten Reich" entzogen. Stattdessen betätigten sie sich als eifrige Propagandisten der Legende von der "sauberen Wehrmacht". Die kämpfende Truppe, so hieß es, habe Distanz zu Hitler und dem NS-Regime gewahrt, tapfer und anständig ihre soldatische Pflicht erfüllt und von den Gräueltaten der SS und Einsatzgruppen erst nachträglich Kenntnis erhalten.

    Der besondere Quellenwert der Lauschprotokolle liegt nun darin, dass sie uns, jenseits der Rechtfertigungsbedürfnisse der Nachkriegszeit, unverfälschte Einblicke geben in die Gedankenwelt führender deutscher Militärs zwischen Spätsommer 1942 und Herbst 1945. Das gilt besonders für die Kernfrage: Was wusste die Generalität von den Massenverbrechen und wie weit war sie selbst daran beteiligt? Die Gesprächsmitschnitte belegen zweifelsfrei, wie genau die meisten Offiziere in Trent Park über alle Dimensionen des deutschen Vernichtungskriegs im Bilde waren: über die Ausführung des "Kommissarbefehls", die Massaker an der jüdischen Bevölkerung, die grausame Behandlung russischer Kriegsgefangener, über Geiselerschießungen und die Ausplünderung der besetzten Gebiete. Selbst über das Vernichtungslager Auschwitz kursierten einigermaßen verlässliche Informationen. Im Dezember 1944 berichtete Generalleutnant Heinrich Kittel:

    "In Oberschlesien haben sie Leute einfach fabrikmäßig abgeschlachtet. In einer großen Halle sind sie vergast worden."

    Generalmajor Gerhard Bassenge nannte im Dezember 1943 bereits die Zahl von fünf Millionen ermordeter Juden, was der Wahrheit recht nahe kam. Die meisten Generäle hatten ihr Wissen über Erzählungen anderer, doch einige von ihnen waren, wie sie freimütig bekannten, selbst Augenzeugen von Massenverbrechen geworden. So schilderte Generalleutnant Friedrich Freiherr von Broich, was er an der Ostfront erlebt hatte:

    "Wir kamen an einem Lager vorbei, wo 20.000 (russische) Gefangene saßen. Die heulten nachts wie die Tiere. Hatten nichts zu fressen. ... Dann marschierten wir die Straße runter, da ging eine Kolonne von 6.000 wankenden Gestalten, völlig ausgemergelt, sich gegenseitig stützend. Alle 100 bis 200 m blieb einer bis drei liegen. Nebenher fuhren Radfahrer, Soldaten von uns mit der Pistole; jeder, der liegen blieb, kriegte einen Genickschuss und wurde in den Graben geschmissen."

    In allen Details erzählte Generalmajor Walter Bruns, wie er einer Massenerschießung von Juden in der Nähe von Riga beigewohnt hatte:

    "Die Gruben waren 24 m lang und ungefähr 3 m breit, (die Juden) mussten sich hinlegen wie die Sardinen in einer Büchse, Köpfe nach der Mitte. Oben sechs Maschinenpistolenschützen, die dann den Genickschuss beibrachten. Wie ich kam, war sie schon voll, da mussten die Lebenden also dann sich drauflegen, und dann kriegten sie den Schuss; damit nicht so viel Platz verloren ging, mussten sie sich schön schichten. Vorher wurden sie aber ausgeplündert an der einen Station – hier war der Wandrand, hier drin waren die drei Gruben an dem Sonntag, und hier war noch eine 11/12 km lange Schlange, und die rückte schrittweise (vor) – es war ein Anstehen auf den Tod."

    Davon, dass einer der Offiziere, die Zeugen solcher ungeheuerlichen Vorgänge geworden waren, versucht hätte, etwas dagegen zu unternehmen, wird in den Protokollen nichts berichtet. Im Gegenteil: Einige räumten ein, selbst an der Judenvernichtung mitgewirkt zu haben, so General Dietrich von Choltitz, der letzte Wehrmachtbefehlshaber von Groß-Paris.

    "Der schwerste Auftrag, den ich durchgeführt habe – allerdings dann mit größter Konsequenz durchgeführt habe –, ist die Liquidation der Juden."

    Die meisten Gefangenen bemühten sich jedoch, die Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen zu leugnen und alle Schuld der Gestapo und der SS zuzuschieben. So erklärte der General der Kavallerie Edwin Graf von Rothkirch:

    "Bei alledem, was ich aussage, habe ich mir vorgenommen, (es) immer so zu drehen, dass das Offizierskorps reingewaschen wird. Rücksichtslos! Rücksichtslos!"

    Hier war bereits die Verteidigungslinie der Nachkriegszeit umrissen. Dabei wird gerade in den Gesprächen von Trent Park deutlich, dass keineswegs alle ranghohen Offiziere Judenverfolgung und Judenmord missbilligten. Einige von ihnen bekannten sich als radikale Antisemiten und kritisierten lediglich, dass die Umsetzung des Vernichtungsprogramms zu viel öffentliches Aufsehen erregt habe. Charakteristisch hierfür war eine Äußerung von Oberst Hans Reimann im Oktober 1944:

    "Die Judensache in Deutschland war schon ganz richtig. Nur stille hätte man das machen müssen."

    Der General der Panzertruppen Ludwig Crüwell wurde noch deutlicher:

    "Die Weltgeschichte wird dem Führer mal Recht geben, dass er diese große, jüdische Gefahr für alle Völker ... erkannt hat. Früher hieß es mal Dschingis Khan und hieß es mal Attila. Diesmal ist es der jüdische Bolschewismus, der von den Weiten Asiens hier über Europa reinbricht und dem wir uns entgegenstemmen müssen."

    Allerdings gab es auch Gegenstimmen. Entsetzt über das ganze Ausmaß der Verbrechen, von dem er in Trent Park zum ersten Mal erfuhr, erklärte Generalmajor Johannes Bruhn:

    "Wir haben uns ja versündigt ..., als Repräsentanten dieses Systems, in dem wir gehaust haben gegen alle sittlichen Gesetze auf der ganzen Welt... Was muss mit einer solchen Regierung, was muss mit einem Volke geschehen, das das im großen Stile getrieben hat. Da kann man doch nur sagen, ein solches Volk darf zum Segen der Menschheit nicht den Krieg gewinnen."

    Dies ist vielleicht der interessanteste Aspekt dieser Edition: Sie dokumentiert, dass von einer Homogenität der Anschauungen unter den hohen Wehrmachtoffizieren nicht die Rede sein kann. Vielmehr zeigt sich bei allen Themen, über die sich die Gefangenen in Trent Park unterhielten, ein breites Spektrum von Positionen und Meinungen – sei es das Verhältnis zum Nationalsozialismus oder das Attentat vom 20. Juli 1944, die Aussichten der Kriegführung oder die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit den Briten. Eine kleine, sehr entschiedene regimekritische Fraktion stritt sich mit einer größeren, Hitler noch immer unbedingt ergebenen Schar, und es gab auch eine ganze Reihe von Offizieren, die zwischen beiden Gruppen hin und her lavierten. Pauschalaussagen über die militärische Elite im "Dritten Reich" greifen daher zu kurz. Dieser wichtige Band öffnet den Zugang zu einem differenzierteren Verständnis, ohne dass dadurch die Verantwortung der Wehrmachtführung für Nationalsozialismus, Weltkrieg und Völkermord in irgendeiner Weise verringert würde.

    Volker Ullrich über Sönke Neitzel, Abgehört – Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942 – 1945, Propyläen Verlag, Berlin, 638 Seiten, 26,80 Euro.