Die Hunde der Queen waren wieder einmal unmöglich! Normalerweise nahmen sie nach einem Gartenausflug den Vordereingang des Buckingham Palastes und ließen sich von einem Bediensteten die schwere Pforte öffnen. Doch diesmal war alles anders: Unter wildem Radau tollten die Corgis über die Terrasse und büchsten dann in einen der Hinterhöfe aus. Ihrer Majestät Elisabeth II. blieb schließlich gar nichts anderes übrig, als ihre ungezogenen kurzbeinigen Lieblinge höchstpersönlich einzufangen. Dabei entdeckte sie vor dem königlichen Kücheneingang ein Fahrzeug, das ihr Leben verändern sollte: den Bücherbus der Bezirksbibliothek der City of Westminster.
Die Queen betritt das klapprige Gefährt zunächst eigentlich nur, um sich bei dem fahrenden Bibliothekar für das Gekläff ihrer Corgis zu entschuldigen. Mehr aus Höflichkeit, denn aus echtem Interesse entleiht sie sich die ersten Bücher. Doch schon bald versteht sich die Monarchin selbst nicht mehr. Sie will eigentlich nur noch eines: Lesen, lesen und nochmal lesen.
Bücher buckelten nicht. Alle Leser waren gleich und das erinnerte sie an ihre frühen Lebensjahre. Einer der aufregendsten Momente ihrer Jugend war die Siegesnacht am Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, als sie und ihre Schwester sich aus dem Palast geschlichen und unerkannt unter die feiernde Menge gemischt hatten. Etwas Ähnliches geschah beim Lesen, spürte sie. Es war anonym, gemeinsam und allgemein. Und da sei ein Leben hinter Schranken verschiedenster Art geführt hatte, verlangte es sie nun genau danach. Auf diesen Seiten, zwischen diesen Buchdeckeln konnte sie unerkannt umherschweifen.
Man sieht sie förmlich vor sich, die Queen, in dicke Schmöker vertieft, umringt von ihren kuriosen kurzbeinigen Hunden... Doch Vorsicht, die Königin von England, die uns Alan Bennett hier in seinem jüngsten Kurzroman "Die souveräne Leserin" vorstellt, ist pure Erfindung! Selten hat uns ein Autor so humorvoll und gleichzeitig so geistreich vorgegaukelt, wir könnten in die Herzkammer der britischen Monarchie blicken.
Alan Bennett ist ein Meister des leisen, tiefgründigen Humors. Aufgrund seiner Theater- und Fernsehauftritte ist er in Großbritannien schon seit langem ungefähr genauso populär wie die Royals. Dennoch war es auch für einen Publikumsliebling wie ihn ein kühnes schriftstellerisches Wagnis, ausgerechnet die Königin von England zur Romanheldin machen, zumal in England so ziemlich jeder weiß, dass sich die echte Queen mehr für Pferdebücher interessiert als für die "Recherche" von Marcel Proust.
Alan Bennett hat also hoch gepokert und - man kann es gar nicht anders sagen - er hat gewonnen. Seine amüsante Geschichte von der hochadeligen Leserin packt einen schon nach wenigen Sätzen und dürfte selbst die härtesten Monarchiegegner nicht mehr loslassen, denn letztlich geht es darin weniger um die englische Königin, als um die Geheimnisse und das Glück des Lesens.
Jeder, der gerne liest, wird sich in der lesesüchtigen Queen wiedererkennen. Insbesondere ihre anfängliche Ratlosigkeit vor vollen Buchregalen dürfte vielen Lesern bekannt vorkommen:
"Die schiere Unendlichkeit der Literatur hatte sie eingeschüchtert, sie wusste nicht, wie sie die Sache angehen sollte; ihre Lektüre folgte keinem System, ein Buch führte zum anderen, oft las sie zwei oder drei gleichzeitig."
In der großen Bibliothek der Weltliteratur ist die Königin offenbar genauso verloren wie ihre Untertanen. Doch genau das ist es, was Ihre Majestät im Grunde auch am Lesen reizt. Das Leben zwischen den Buchdeckeln birgt ungeahnte Überraschungen und es hält sich vor allem nicht an die Regeln der höfischen Etikette. Nur beim Lesen ist der Queen vergönnt, was auf dem Boden der Tatsachen niemals möglich wäre: Sie ist eine ganz gewöhnliche Leserin.
Im englischen Original heißt das Buch "The uncommon reader" also "Der ungewöhnliche Leser", was eine augenzwinkernde Verneigung ist vor der großen Virginia Woolf. Die englische Schriftstellerin hatte im Jahr 1925 ihren berühmten Essayband "Der gewöhnliche Leser" veröffentlicht, der im englischen Original "The Common Reader" heißt. Darin plädierte sie mit Verve für einen unakademischen, unverkrampften Umgang mit Literatur.
Exzentrischer, anspielungsreicher als Alan Bennett kann man diese Forderung kaum umsetzen, zumal er der lesefreudigen Queen den schwulen Küchenjungen Norman als persönlichen Lektüresekretär zur Seite stellt. Dass auf Normans literarischen Empfehlungslisten vorwiegend Autoren mit homosexuellen Neigungen auftauchen, stört ihre Majestät nicht weiter. Im Gegenteil, sie verlässt sich blindlings auf die Lesetipps des klugen jungen Mannes. Denn zum einen fährt sie meistens gut damit und zum anderen gehört Norman zu den wenigen Menschen in der royalen und durchweg eher lesefeindlichen Entourage, die wissen, dass der königliche Parforceritt durch die Weltliteratur kein ungetrübtes Vergnügen ist.
Auch eine gewisse Traurigkeit lag im Lesen - zum ersten Mal im Leben hatte sie das Gefühl einiges verpasst zu haben. Sie hatte eine der zahlreichen Lebensgeschichten Sylvia Plaths gelesen und war ehrlich gesagt recht froh darüber, derartiges größtenteils versäumt zu haben, doch als sie Lauren Bacalls Memoiren las, musste sie sich eingestehen, dass Ms. Bacall sich doch einen viel größeren Bissen gegönnt hatte und dass sie die Schauspielerin zu ihrer leichten Überraschung darum beneidete.
Je mehr die Königin liest, umso größer wird auch ihr Wunsch die Verfasser der zeitgenössischen Werke kennenzulernen. Eines Tages lässt sie für ihre Lieblingsautoren einen Empfang ausrichten, was ihr die Literatur aber letzten Endes nicht wirklich näher bringt:
Und wenn sei denn einmal beinahe stammelnd ihre Bewunderung auszudrücken imstande war und hoffte, der Autor ( denn die Männer stellte sie fest, waren darin viel schlimmer als die Frauen) würde ihr verraten, wie er zum Schreiben des fraglichen Buches gekommen sei, dann wurde ihre Begeisterung rasch abgetan, und der Betreffende bestand darauf, nicht über den gerade erschienenen Bestseller zu sprechen, sondern über das neue Buch, an dem er gerade arbeitete, wie schwer es damit voranging, und wieso er daher - und hier nahm er einen Schluck Champagner - leide wie ein Hund.
Schriftstellern, so war ihr bald klar, begegnete man am besten auf den Seiten ihrer Bücher, und sie waren ebenso sehr Phantasiefiguren ihrer Leser wie ihre Romanhelden.
Die die Queen trägt die Enttäuschung mit Fassung und beschäftigt sich fürs Erste lieber mit Autoren, die das Zeitliche bereits gesegnet haben. Ganz nebenbei beginnt sie, eigene Gedanken aufzuschreiben, was bei Hofe mindestens genauso beargwöhnt wird wie ihre Lesewut. Die Skepsis ist nicht ganz unberechtigt, denn letztlich gerät sie durch ihre literarischen Ambitionen in eine handfeste Identitätskrise. Bei einem Staatsbankett philosophiert sie mit ihren Tischnachbarn über die Auswirkungen der Literatur:
"Bücher sind etwas Herrliches, nicht wahr?", sagte sie zum Vizekanzler, der zustimmte.
"Auch wenn sich das vielleicht eher nach einem Steak anhört", fuhr sie fort, " sie machen einen zarter."
Wieder stimmte er zu, obwohl er keine Ahnung hatte, worauf sie hinauswollte.
"Ob Sie", und damit wandte sie sich an ihren anderen Tischherrn, "als Lehrer für Kreatives Schreiben wohl zustimmen würden, dass, wenn Lesen einen weicher macht, Schreiben das Gegenteil bewirkt? Zum Schreiben muss man hart sein, oder?"
Ob die Queen mit ihren Mutmaßungen recht behält, wird hier nicht verraten. Festhalten sollte man aber eines - auch wenn es fast ein bisschen kitschig klingt: Die Bücher von Alan Bennett machen einen herrlich "zart".
Alan Bennett: Die Souveräne Leserin
Wagenbach. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. 120 Seiten. EUR 14.90
Die Queen betritt das klapprige Gefährt zunächst eigentlich nur, um sich bei dem fahrenden Bibliothekar für das Gekläff ihrer Corgis zu entschuldigen. Mehr aus Höflichkeit, denn aus echtem Interesse entleiht sie sich die ersten Bücher. Doch schon bald versteht sich die Monarchin selbst nicht mehr. Sie will eigentlich nur noch eines: Lesen, lesen und nochmal lesen.
Bücher buckelten nicht. Alle Leser waren gleich und das erinnerte sie an ihre frühen Lebensjahre. Einer der aufregendsten Momente ihrer Jugend war die Siegesnacht am Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, als sie und ihre Schwester sich aus dem Palast geschlichen und unerkannt unter die feiernde Menge gemischt hatten. Etwas Ähnliches geschah beim Lesen, spürte sie. Es war anonym, gemeinsam und allgemein. Und da sei ein Leben hinter Schranken verschiedenster Art geführt hatte, verlangte es sie nun genau danach. Auf diesen Seiten, zwischen diesen Buchdeckeln konnte sie unerkannt umherschweifen.
Man sieht sie förmlich vor sich, die Queen, in dicke Schmöker vertieft, umringt von ihren kuriosen kurzbeinigen Hunden... Doch Vorsicht, die Königin von England, die uns Alan Bennett hier in seinem jüngsten Kurzroman "Die souveräne Leserin" vorstellt, ist pure Erfindung! Selten hat uns ein Autor so humorvoll und gleichzeitig so geistreich vorgegaukelt, wir könnten in die Herzkammer der britischen Monarchie blicken.
Alan Bennett ist ein Meister des leisen, tiefgründigen Humors. Aufgrund seiner Theater- und Fernsehauftritte ist er in Großbritannien schon seit langem ungefähr genauso populär wie die Royals. Dennoch war es auch für einen Publikumsliebling wie ihn ein kühnes schriftstellerisches Wagnis, ausgerechnet die Königin von England zur Romanheldin machen, zumal in England so ziemlich jeder weiß, dass sich die echte Queen mehr für Pferdebücher interessiert als für die "Recherche" von Marcel Proust.
Alan Bennett hat also hoch gepokert und - man kann es gar nicht anders sagen - er hat gewonnen. Seine amüsante Geschichte von der hochadeligen Leserin packt einen schon nach wenigen Sätzen und dürfte selbst die härtesten Monarchiegegner nicht mehr loslassen, denn letztlich geht es darin weniger um die englische Königin, als um die Geheimnisse und das Glück des Lesens.
Jeder, der gerne liest, wird sich in der lesesüchtigen Queen wiedererkennen. Insbesondere ihre anfängliche Ratlosigkeit vor vollen Buchregalen dürfte vielen Lesern bekannt vorkommen:
"Die schiere Unendlichkeit der Literatur hatte sie eingeschüchtert, sie wusste nicht, wie sie die Sache angehen sollte; ihre Lektüre folgte keinem System, ein Buch führte zum anderen, oft las sie zwei oder drei gleichzeitig."
In der großen Bibliothek der Weltliteratur ist die Königin offenbar genauso verloren wie ihre Untertanen. Doch genau das ist es, was Ihre Majestät im Grunde auch am Lesen reizt. Das Leben zwischen den Buchdeckeln birgt ungeahnte Überraschungen und es hält sich vor allem nicht an die Regeln der höfischen Etikette. Nur beim Lesen ist der Queen vergönnt, was auf dem Boden der Tatsachen niemals möglich wäre: Sie ist eine ganz gewöhnliche Leserin.
Im englischen Original heißt das Buch "The uncommon reader" also "Der ungewöhnliche Leser", was eine augenzwinkernde Verneigung ist vor der großen Virginia Woolf. Die englische Schriftstellerin hatte im Jahr 1925 ihren berühmten Essayband "Der gewöhnliche Leser" veröffentlicht, der im englischen Original "The Common Reader" heißt. Darin plädierte sie mit Verve für einen unakademischen, unverkrampften Umgang mit Literatur.
Exzentrischer, anspielungsreicher als Alan Bennett kann man diese Forderung kaum umsetzen, zumal er der lesefreudigen Queen den schwulen Küchenjungen Norman als persönlichen Lektüresekretär zur Seite stellt. Dass auf Normans literarischen Empfehlungslisten vorwiegend Autoren mit homosexuellen Neigungen auftauchen, stört ihre Majestät nicht weiter. Im Gegenteil, sie verlässt sich blindlings auf die Lesetipps des klugen jungen Mannes. Denn zum einen fährt sie meistens gut damit und zum anderen gehört Norman zu den wenigen Menschen in der royalen und durchweg eher lesefeindlichen Entourage, die wissen, dass der königliche Parforceritt durch die Weltliteratur kein ungetrübtes Vergnügen ist.
Auch eine gewisse Traurigkeit lag im Lesen - zum ersten Mal im Leben hatte sie das Gefühl einiges verpasst zu haben. Sie hatte eine der zahlreichen Lebensgeschichten Sylvia Plaths gelesen und war ehrlich gesagt recht froh darüber, derartiges größtenteils versäumt zu haben, doch als sie Lauren Bacalls Memoiren las, musste sie sich eingestehen, dass Ms. Bacall sich doch einen viel größeren Bissen gegönnt hatte und dass sie die Schauspielerin zu ihrer leichten Überraschung darum beneidete.
Je mehr die Königin liest, umso größer wird auch ihr Wunsch die Verfasser der zeitgenössischen Werke kennenzulernen. Eines Tages lässt sie für ihre Lieblingsautoren einen Empfang ausrichten, was ihr die Literatur aber letzten Endes nicht wirklich näher bringt:
Und wenn sei denn einmal beinahe stammelnd ihre Bewunderung auszudrücken imstande war und hoffte, der Autor ( denn die Männer stellte sie fest, waren darin viel schlimmer als die Frauen) würde ihr verraten, wie er zum Schreiben des fraglichen Buches gekommen sei, dann wurde ihre Begeisterung rasch abgetan, und der Betreffende bestand darauf, nicht über den gerade erschienenen Bestseller zu sprechen, sondern über das neue Buch, an dem er gerade arbeitete, wie schwer es damit voranging, und wieso er daher - und hier nahm er einen Schluck Champagner - leide wie ein Hund.
Schriftstellern, so war ihr bald klar, begegnete man am besten auf den Seiten ihrer Bücher, und sie waren ebenso sehr Phantasiefiguren ihrer Leser wie ihre Romanhelden.
Die die Queen trägt die Enttäuschung mit Fassung und beschäftigt sich fürs Erste lieber mit Autoren, die das Zeitliche bereits gesegnet haben. Ganz nebenbei beginnt sie, eigene Gedanken aufzuschreiben, was bei Hofe mindestens genauso beargwöhnt wird wie ihre Lesewut. Die Skepsis ist nicht ganz unberechtigt, denn letztlich gerät sie durch ihre literarischen Ambitionen in eine handfeste Identitätskrise. Bei einem Staatsbankett philosophiert sie mit ihren Tischnachbarn über die Auswirkungen der Literatur:
"Bücher sind etwas Herrliches, nicht wahr?", sagte sie zum Vizekanzler, der zustimmte.
"Auch wenn sich das vielleicht eher nach einem Steak anhört", fuhr sie fort, " sie machen einen zarter."
Wieder stimmte er zu, obwohl er keine Ahnung hatte, worauf sie hinauswollte.
"Ob Sie", und damit wandte sie sich an ihren anderen Tischherrn, "als Lehrer für Kreatives Schreiben wohl zustimmen würden, dass, wenn Lesen einen weicher macht, Schreiben das Gegenteil bewirkt? Zum Schreiben muss man hart sein, oder?"
Ob die Queen mit ihren Mutmaßungen recht behält, wird hier nicht verraten. Festhalten sollte man aber eines - auch wenn es fast ein bisschen kitschig klingt: Die Bücher von Alan Bennett machen einen herrlich "zart".
Alan Bennett: Die Souveräne Leserin
Wagenbach. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. 120 Seiten. EUR 14.90