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Die letzten Juden im Schtetl

In Rumänien lebten vor dem Krieg 800.000 Juden. Den Holocaust hat nur jeder zweite von ihnen überlebt und von denen blieb kaum jemand in Rumänien. In der nordrumänischen Bukowina lässt sich noch erahnen, wie das jüdische Leben früher einmal war. Rund zwei Dutzend Schtetl standen dort, doch längst sind Synagogen verfallen, die Friedhöfe verwildert. Das jüdische Erbe gerät in Vergessenheit. Im kleinen Vatra Dornei, hat sich Keno Verseck auf Spurensuche begeben.

17.09.2008
    Jeden Morgen um halb acht kommt die Rentnerin Melanie Mehler in die Eminescu-Straße 54 und schaut in der großen Synagoge von Vatra Dornei nach dem Rechten. Manchmal ist wieder ein Stück der Saal-Decke heruntergefallen, manchmal wieder eine Scheibe eingeschlagen. Es riecht modrig im großen Saal, es riecht nach unwiederbringlicher Vergangenheit.

    " Als ich 1955 hierher gezogen bin, war die Synagoge noch richtig voll, unten die Männer, oben die Frauen. In den sechziger Jahren begannen die Leute nach Israel auszuwandern, und die Synagoge wurde immer leerer. Jetzt sind wir noch acht Leute, alle außer mir weit über achtzig, alle alt und krank, nur noch ich bin aktiv. Ja, so sieht es hier mit den Juden aus."

    Die 78jährige Melanie Mehler ist Vorsteherin der jüdischen Gemeinde in Vatra Dornei, einem Städtchen in der Bukowina, im Norden Rumäniens. Die rundliche, weißhaarige Frau wird die letzte sein in diesem Amt. Noch ein paar Jahre, dann gibt es in dem früheren Schtetl keine Juden mehr.

    Melanie Mehler steht am leeren Thoraschrein, wehmütig und liebevoll streicht sie über den staubigen Vorhang. Sie kommt aus der ostrumänischen Stadt Iasi. Dort wurde ihr Vater im Juni 1941 bei einem Pogrom ermordet – es war der Auftakt zum Holocaust in Rumänien. Sie selbst und ihre Mutter überlebten - sie hausten vier Jahre lang in Kellerverstecken des jüdischen Viertels. In Vatra Dornei arbeitete Melanie Mehler als Buchhalterin einer Handwerksgenossenschaft, ihr Mann, auch er Überlebender des Holocaust, war Direktor eines Steinbruchs, er starb 1994.

    Später am Vormittag auf dem jüdischen Friedhof. Melanie Mehler entzündet Kerzen am Grab von Freunden, dann am Grab ihres Mannes und ihrer Eltern, dazu murmelt sie, kaum hörbar, Gebete. Wie jedes Mal, wenn sie hier ist, weint sie. Sie mag es nicht, dass jemand sie so sieht, doch es gelingt ihr nicht, die Tränen zu unterdrücken.

    Dreiunddreißig Jahre war Vater, als sie ihn ermordeten, sagt sie, aus dem Haus gezerrt, Hände hoch und in den Todeswaggon.

    Nachmittags im Haus von Melanie Mehler. Eine Nachbarin kommt zu Besuch, die beiden alten Damen schwatzen über Einkäufe und Kochrezepte. Selten erzählt Melanie Mehler ihre Lebensgeschichte, keiner ihrer nichtjüdischen Nachbarn kennt sie. Sie möchte nicht bemitleidet werden, sagt sie, als ihre Nachbarin längst wieder gegangen ist. Ohnehin sei es in Rumänien schwierig geworden für Juden und für Überlebende des Holocaust.

    " Früher, unter der Diktatur, war es nicht so schlimm, man hörte keine Schimpfwörter über die Juden, und es gab nicht den Antisemitismus, den man jetzt spürt. Wenn, dann höchstens versteckt. Aber jetzt liegt etwas in der Luft, es ist bedrückend. Der heutigen Jugend wurde eingeredet, dass wir Märchen erzählen. Dass es gar keinen Holocaust gab, dass nur ein, zwei Juden umgebracht wurden. Ich werde niemals verstehen, warum alles Schlechte immer von uns Juden kommt. Wir sind alle über siebzig Jahre alt! Was kann ein alter Mensch noch Schlechtes machen, wo er sich doch so eben zur Synagoge schleppt?!"