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Die letzten Überlebenden am Mussa Dagh

Bis heute leugnet die Türkei ihre historische Verantwortung für den Tod von einer Million Armeniern im Jahre 1915. Damals gab die Generalität des osmanischen Reiches den Befehl, die armenische Bevölkerung zu deportieren. Doch noch immer lehnt die Türkei alle Forderungen nach Anerkennung des Völkermordes ab. Dabei geht es auch um die Europatauglichkeit der Türkei. Nur langsam wird der Schleier des Schweigens gelüftet und die letzten Überlebenden melden sich zu Wort. Zum Beispiel in Vakifli, dem letzten armenischen Dorf im Südosten der Türkei.

21.04.2005
    Havadis Demirci sitzt auf der Terrasse seines Hauses - die Schlägermütze in den Nacken geschoben, die rechte Hand auf den Stock gestützt - und schaut über die blühenden Orangenbäume hinweg aufs Mittelmeer.

    "Am Tag, als ich zur Welt kam, kamen die Schiffe, um uns zu retten. Darum haben sie mich Havadis getauft."

    Havadis heißt übersetzt die "Nachricht". Und es war eine gute Nachricht, die den Musa Dagh, den Berg Moses, im September 1915 erreichte. 4000 Armenier - Männer, Frauen und Kinder - hatten seit mehr als vier Wochen auf dem Rücken des Bergmassivs ausgeharrt und den osmanischen Truppen mit einer Handvoll Jagdgewehren Widerstand geleistet. Darunter auch Havadis‘ Eltern.

    Am Tag seiner Geburt näherten sich französische Kriegsschiffe der Küste von Antiochien. Die Alliierten hatten die SOS-Fahnen auf der Bergspitze bemerkt. Lange hätten sich die Bewohner der sieben armenischen Dörfer von Musa Dagh nicht mehr halten können. Doch sie wollten sich nicht widerstandslos ihrer drohenden Vernichtung ergeben, berichtet Havadis Demirci:

    "Unsere Dorfvorsteher bekamen schriftlich einen Befehl, in dem stand, dass alle Einwohner in die syrische Wüste umgesiedelt würden. Niemand dürfe mehr mitnehmen als er am Leib trüge. Jeder wusste, was das bedeutete. Da kamen die Dorfvorsteher zusammen und beschlossen, sich auf dem Musa Dagh zu verschanzen. Wenn wir schon sterben müssen, dann lasst uns das versuchen."

    Nur 16 Menschen überlebten die Belagerung nicht. Die Überlebenden vom Musa Dagh kehrten aus den Flüchtlingslagern in ihre Dörfer zurück. Als die Franzosen die Provinz Antiochien 1937 an die türkische Republik zurückgaben, verliessen die letzten Armenier den Musa Dagh und verstreuten sich in alle Welt, nach Kanada und Deutschland vor allem. Zurückblieb eine Handvoll Menschen im Dorf Vakifli. 100 Seelen zählt das Dorf heute, die meisten im Rentenalter wie Havadis Demirci.

    Der sechsjährige Vartan schlägt die Trommel, zu einem alten armenischen Liebeslied, das seine Großmutter singt. Vartan ist eines der wenigen Kinder von Vakifli. Doch sein Großvater, der 65jährige Hayrabert Bebek glaubt nicht daran, dass sein Enkel hier eine Zukunft hat. Nicht einmal eine armenische Schule gibt es hier:

    "Dort unten an der Strasse, das war mal das Schulgebäude, daneben die Lehrerunterkunft. Wenn mal ein Priester aus Istanbul kommt, dann lernen die Kleinen ein wenig von ihrer Sprache und Kultur. Es geht zu Ende. Selbst diejenigen, die für Studium und Arbeit nach Istanbul gegangen waren, kommen im Rentenalter nicht zurück, weil ihre Ehefrauen nicht mehr in einem Dorf leben wollen."

    Die Menschen von Vakifli leben von ihren Zitronen- und Apfelsinengärten, dazu bekommt jede Familie Hilfe von ihren Angehörigen im Ausland. Ein altes Steinhaus wird derzeit zur Pension ausgebaut - vielleicht liegt im Tourismus eine Zukunft für das Dorf. Die Behörden unterstützen die Vakifliler bei ihren Bemühungen. Man schmückt sich mit letzten armenischen Dorf in der Südost-Türkei. Im Gegensatz zu den Nachbardörfern sind in Vakifli die Wege geteert und gesäumt von Sitzbänken und Abfalleimern.

    Wenn der armenische Patriarch aus Istanbul zu Besuch kommt, kommt Leben in den verschlafenen Ort. Dann zeigen sich auch Würdenträger des Staates, der örtliche Gendarmeriekommandant und der Gouverneur. Einen eigenen Pfarrer haben die Vakifliler schon lange nicht mehr. Unter den 60.000 Armeniern der Türkei herrscht Priestermangel - das Gesetz verbietet ihnen, Theologen aus dem Ausland zu holen. Aber darüber möchten die Vakifliler so wenig Worte verlieren wie über den Völkermord vor 90 Jahren. Ein kleines steinernes Denkmal in Form eines Schiffes, das während der französischen Besatzungszeit auf dem Musa Dagh errichtet worden war - Erinnerung an ihre glückliche Rettung vor dem Tod -, wurde von der Armee gesprengt.

    Gleich neben der kleinen Kirche liegt der Friedhof von Vakifli. Havadis besucht das Grab seiner Eltern, die den Mut hatten, trotz der Massaker an ihrem Volk in die Türkei zurückzukehren. Mit Trauer denkt der alte Mann daran, wie wenig armenisches Leben es heute am Musa Dagh noch gibt:

    "Ja, das tut mir weh. Wir sind allein, unsere Kinder in alle Welt verstreut. Am Ende bleibt von uns wohl nur noch dieser Friedhof."