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Die Liebe als revolutionärer Faktor

Anarchisten eilt oft ein schlechter Ruf voraus: Krawalle, Brandsätze und vermummte Gestalten. Aber selbst Anarchisten pflegen friedliche Traditionen. Und so haben sich 3000 von ihnen zum Weltreffen in einem Dorf im Schweizer Jura zusammengefunden.

Von Sascha Buchbinder | 09.08.2012
    Der Jura. Das sind sanfte Hügel, grüne Wälder und Ruhe. Mitten drin: Saint-Imier, eine 5000-Seelen-Gemeinde. Der Ort ist nicht gerade verschlafen. Aber vielleicht ein wenig verträumt.
    Und nun das:

    Eine fünftägige, internationale Anarchisten-Tagung.

    Der Ort ist voller Anarchisten. Die sitzen in den Cafés, die fallen einander auf offener Straße in die Arme - die wirken eigentlich richtig nett.
    Was ist denn Anarchismus?

    Junge Anarchistin:

    "Dass Leute aus der ganzen Welt zusammenkommen, ohne irgendwelche Grenzen, ohne Einschränkungen und zusammenleben können, wie sie das eigentlich wollen. Das hat nix mit Scheiben einschmeißen und Molotowcocktails zu tun. Also hier ist es ja auch recht friedlich, trotz der Anarchistinnen."

    Erklärt eine Anarchistin und lächelt gewinnend. Anarchismus bedeute eigentlich nur eines: Freiheit! Kein Staat, keine Religion, keine Gesetze - Selbstorganisation. Vor 140 Jahren warf Marx die Anarchisten aus der ersten Internationalen. Die Verfemten trafen sich daraufhin in Saint-Imier, organisierten sich neu. Daran knüpft das Treffen an.

    Die Anarchisten spüren Rückenwind. Selbst die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat unlängst eine zeitgenössische Anarchistenbibel zur Lektüre empfohlen. Das Buch von David Graeber befasst sich mit der Entstehung der Geldwirtschaft. Die Antwort von Graeber, die Antwort der Anarchisten auf die Schuldenkrise ist radikal.

    Schulden zurückzahlen lehnen sie rundweg ab. Aber ob ihnen die Schuldenkrise wirklich zu mehr Bedeutung verhilft? Die Anarchisten selbst reagieren gelassen. Sie denken in größeren Kategorien, wussten schon lange, dass das nichts wird, mit dem Kapitalismus. Chris, ein Teilnehmer aus England meint, dass der Kapitalismus die Menschen immer schon in Armut gestoßen habe. Umso besser, wenn die Leute nun die Fehler des Kapitalismus besser erkennen könnten.

    Fünf Tage lang wird im Jura diskutiert und gefeiert. Die Nacht hindurch gibt es Konzerte. Tagsüber - genauer: nachmittags - finden ausufernde Diskussionen statt. Über politische Grundbegriffe, anarchistische Vordenker, alternative Gesellschaftsmodelle. Volle Säle, ein jugendliches Publikum.

    Vielleicht resultiert daraus am Sonntag eine Schlusserklärung. Vielleicht aber auch nicht.
    Sicher ist: Die politischen Begriffe sind manchmal richtig überraschend. Die Liebe sei ein zentraler, revolutionärer Faktor, meint ein Redner. Gleich nach Streiks, Besetzungen und der Selbstorganisation. Liebenswürdige Anarchisten an jeder Ecke. Meist sehr jung, aber auch viele ergraute Revolutionäre aus der ganzen Welt.

    Die Leute in Saint-Immier regieren etwas reserviert, aber tolerant.

    Die Wirtin im Gasthaus meint, wenn hier die anarchistische Bewegung gegründet wurde - sollten sie sich halt treffen. Das sei gut für den Tourismus. Die Erinnerung an die eigene anarchistische Geschichte ist im Alltag in Saint-Imier kaum präsent. Obwohl: Da gibt's den "Espace Noir", eine alternative Bar. Michael Nemitz hält hier die schwarze Fahne der Anarchie hoch. Aber auch er räumt ein: Sie sind eine verschwindende Minderheit - aber Nemitz gibt nicht auf. Schon gar nicht jetzt, wo der Ort fest in Anarchistenhand ist. Einmal wenigstens, nach 140 Jahren.