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Die Liebe einer russischen Mutter

Die Familie als Keimzelle des Bösen - dieser Aspekt steht bei Alvis Hermanis Inszenierung von "Wassa" in den Münchner Kammerspielen besonders im Vordergrund. Die Figuren bleiben dem Zuschauer jedoch fern.

Von Sven Ricklefs | 04.02.2012
    Eine Inszenierung als Freudenfeuer für den Requisiteur, sofern er gern beim Trödler kauft. Vom Strickdeckchen bis zur Stuckrosette, vom durchgesessenen Plüschsessel bis zur an-gekratzten Puderdose und von der sorgsam gegossenen Topfpflanze bis zur real-gurrenden Turteltaube: es ist alles stilecht in diesem Wohnraum, den sich Alvis Hermanis da in die Spielhalle der Münchner Kammerspiele hat bauen lassen, es ist alles stilecht in dieser großbürgerlichen Wohnwabe, in deren angrenzendem Wintergarten der Patriarch einer Unternehmerfamilie langsam dahinsiecht. Die Kissen werden aufgebauscht, der Nachttopf wird fortgetragen, und manchmal wird an seinem Bett auch gebetet. Dazu tickt die Wanduhr dunkel und schwer, der glitzernde Schnee liegt noch auf jeder Kappe und jedem Pelzkragen der von draußen Hereinkommenden und sogar der gerauchte Tabak riecht, als stamme er tatsächlich aus dem vorletzten Jahrhundert. Es ist wie so oft schon in Inszenierungen dieses detailverliebten Regisseurs: sein Hyperrealismus dekoriert sich mit einer durchaus bewunderungswürdigen Akribie eine Museumslandschaft auf die Bretter, in die er natürlich ebenso stilecht gekleidete Menschen schickt, denen wir dann beim Leben auf die Finger schauen sollen. Diesmal ist es eine Art russischer Denver-Clan, angeführt von der Patriarchin Wassa Schelesnowa, die angesichts des sterbenden Ehemanns das Zepter fest in der Hand hält. Auch wenn es bergab geht: die Geschäfte gehen schlecht, die Familie zerfällt:

    "Du bist selber Mutter, Anna, merke Dir, wenn es für die Kinder ist, gilt keine Scham und es gibt keine Sünde. Das musst Du wissen.

    Wie wunderbar Sie sind.

    Alle Mütter sind wunderbar. Große Sünderinnen, aber auch große Dulderinnen. "

    Und geduldet wird viel in dieser Familie, der Vater hatte es mit vielen und schreckte auch nicht davor zurück dies vor den Kindern öffentlich zu machen, das Zimmermädchen hatte es mit dem Sohn und musste das uneheliche Kind beiseite schaffen, die Schwiegertochter hat’s mit dem Onkel, weil sie es mit dem missgestalteten jüngsten Sohn nicht aushält, und den Onkel, der sein Geld aus der Firma ziehen will, was den Ruin bedeuten würde, den bringt man schließlich im zweiten Anlauf um die Ecke. Die Tat wiederum redet man dann der Missgeburt ein, um ihren Abgang ins Kloster zu erleichtern:

    "Gib mir mein Geld und ich fahre fort von Euch bis ans Ende der Welt. Nie werdet Ihr etwas von mir hören. Vielleicht werde ich reich und ihr Bettler, und wenn Ihr zu mir um Almosen kommt, dann befehle ich Euch wegzugehen und dann schaue ich aus dem Fenster, wie man Euch abführt."

    Es geht schon hoch her in Maxim Gorkis Stück "Wassa" und vieles geschieht im Zeichen dieser alles beherrschenden und alles erdrückenden Mutterliebe, die sorgen will, dies aber nur noch im materiellen Sinne tut. Ohnehin ist die Liebe der zur eisernen Geschäftsfrau mutierten Wassa längst pervertiert und erdrückt alles, was sie unter ihre Fittiche nimmt. Maxim Gorki selbst verwarf seine 1910 entstandene erste Fassung später als völlig
    misslungen und schrieb 25 Jahre später eine viel stärker politisch und vor allem
    ideologisch gefärbte zweite. Doch dankenswerterweise hat diese stalinstramme
    Tendenzversion Alvis Hermanis nicht interessiert. Dafür umso mehr die Familiegeschichte und darin: die Familie und ihre Strukturen: die Familie als Schutzhülle des Zusammenhalts und sei der Preis auch noch so hoch, und: die Familie als Keimzelle des Bösen. Doch auch wenn man den Schauspielern über lange Strecken gern zuschaut, einer hochaufrechten Elsie de Brauw etwa als Wassa oder dem wunderbar borderlinernden Benny Claessens als missgestaltetem Trauerkloß, trotzdem wird man nicht warm mit diesen hermetisch hinter ihrer vierten Wand stattfindenden Museumslichtspielen, die einem so fern bleiben, wie sie da auch akribisch fern in ihrer Zeit angesiedelt sind. Und das ist eigentlich schade.