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Die Liebenden von Troja

Auf den Schwetzinger Festspielen geht es immer auch um die Wiederentdeckung älterer Opern. Eine solche ist "Andromaque" von André-Ernest-Modeste Grétry. Andromache ist die hinterbliebene Frau des trojanischen Helden und Prinzen Hektor. Eine Frau, die alles verliert: Vater, Brüder und Mann.

Von Frieder Reininghaus |
    Nach 230 Jahren der Unberührtheit in den Tiefen eines französischen Archivs ist "Andromaque" von André-Ernest-Modeste Gretry wieder aufgetaucht: eine bemerkenswert differenziert instrumentierte Partitur, der mehr dramatischer Drive entspringt als den bis dahin entstandenen Bühnenwerken Glucks und Mozarts. In ihr finden sich harmonische Rückungen wie dann erst wieder in den großen Opern des 19. Jahrhunderts.

    Munterer Elan und eine fast zu kräftig hervorquellende dynamische Kraft erfüllt das kleine Schwetzinger Schlosstheater. Hervé Niquet ruft mit seinem Ensemble, das sich (nicht einmal zu Unrecht) des großen Namens der Pariser Concert Spirituel bedient, die außerordentlichen Qualitäten, die Empfindsamkeit und die Schreckens-Gesten einer Musik in Erinnerung, die bei der Uraufführung 1780 vom Publikum keineswegs goutiert wurde, freilich weithin frischer und konziser wirkt als das, was die "Erfolgskomponisten" Antonio Salieri, Luigi Cherubini oder Vicente Martín y Soler damals schrieben.

    Es war alles andere als nur Glück (und Nachhall der königlichen Protektion), dass Gretry als erster Komponist der Musikgeschichte mit einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe geehrt wurde. Manche Passagen seiner im 19. und 20. Jahrhundert lange unterschätzten Arbeit wirken, als stammten sie vom mittleren Verdi.
    Die aufgeweckte "Tragédie lyrique Gretrys" basiert auf einem Schauspiel von Racine, das ein Dutzend Jahre zuvor entstanden war: Verhandelt wird das Schicksal der Andromache, der Witwe des Trojaner-Prinzen Hektor, der bis zu seinem Tod im Zweikampf mit Achilles die Truppen gegen die griechischen Invasoren und Belagerer führte. Mitsamt ihrem Sohn Astyanax, dem potenziellen Kronerben Trojas (auf dessen Kopf es die siegreichen Griechen besonders abgesehen haben), gerät die Prinzessin in die Hand des Königs Pyrrhus. Der verliebt sich trotz seiner Verbindung mit Hermione, einer Tochter des griechischen Oberfeldherrn Menelaos und der schönen Helena, in die tief trauernde Andromache und beschwört so Eifersucht und Mordanschläge herauf.
    Mit Judith van Wanroij, Maria-Riccarda Wesseling, Sébastian Guéze und Tassis Christyannis bietet der SWR in Kooperation mit der Opéra National de Montpellier ein bewährtes, insgesamt gutes (aber merkwürdig handlungsgehemmtes) Sänger-Team auf (es hat diese Oper bereits auf CD eingespielt und teilweise an einer konzertanten Aufführung in Paris mitgewirkt). Der Bassist Christyannis profiliert sich neben van Wanroij in der Titelpartie als Orestes, der sich zum Werkzeug der wankelmütigen Hermione machen lässt und den Abend mit einer hoch dramatischen Schreckens- und Wahnsinnsarie kraftvoll zum Erfolg treibt.

    Der französischen Connection ist auch der Regisseur Georges Lavaudant zu verdanken, der auf der Bühne in einem schiefen Turm von Epirus für organisierte Langweile sorgt: durch die unregelmäßigen Tür- und Fensteröffnungen geben die Choristen immer wieder Kommentare zur Lage ab. Ansonsten wird in edler Einfalt rings um eine massivhölzerne Liege gesungen, auf der Andromache ihr Söhnlein präsentiert, um dessen Rettung willen sie auch bereit ist, sich auf Pyrrhus einzulassen. Auf ihr liegen dann auch die verkohlten Reste Hektors, dessen Geist sie hochdramatisch beschwört – bis ein scharfer Windzug die Asche in die Luft wirbelt. Das ist der einzige theatrale Moment in der Aufführung einer Tragödie, die mit Witz über die Klassifizierung menschlicher Gefühlsausbrüche eine andere Dimension von dramaturgischem und inszenatorischem Ernst verdient.