Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Die Logik des Krieges

Der Historiker Holger Afflerbach hat ein Buch darüber geschrieben, was passiert, wenn in Kriegen die Kampfhandlungen zu Ende sind. Die Kulturtechnik der Kapitulation und der Umgang der Sieger mit den Verlierern stehen im Mittelpunkt seiner Überlegungen.

Von Martin Hubert | 03.06.2013
    Dieses Buch macht neugierig, weil es eine andere Sicht auf den Krieg verspricht. Nicht Kriegsursachen oder Militärstrategien stehen im Vordergrund, sondern die Suche nach einer inneren Vernunft des Krieges. Der an der britischen Universität Leeds lehrende Historiker Holger Afflerbach möchte die Mechanismen herausarbeiten, die den Krieg selbst von innen her bändigen. Er schreibt:

    "Gibt es die ‚unsichtbare Hand‘ des Kriegs, die Tod und Vernichtung im Krieg einhegt? Es handelt sich nicht um eine moralische Frage. Die mephistophelische Grundidee - die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft - kann auch auf das Aufhören im Kriege übertragen werden: Egoistische und eigensüchtige Motive der Kämpfenden, der Sieger wie der Verlierer verhindern im Normalfall, dass es zum Äußersten kommt."

    Unterlegene, so Afflerbach, würden vor allem dann frühzeitig kapitulieren, wenn ihre Lage militärisch aussichtslos ist und sie damit rechnen können, nicht völlig entrechtet, gefoltert oder getötet zu werden. Und Sieger akzeptierten das, wenn vor allem folgende egoistische Motive wirksam seien: die Angst vor späterer Rache und die Chance, eigene Verluste zu verringern; das Interesse an einer stabilen Herrschaft über freiwillig sich Ergebende oder die Hoffnung, Lösegeld für die Kriegsgefangenen zu erhalten. Aber entwickelte sich daraus tatsächlich eine "Kunst" der Niederlage, eine regelrechte "Kultur" zur Zähmung des Ungeheuers namens "Krieg"? Afflerbach betont, dass davon in der frühen Geschichte noch keineswegs die Rede sein kann.

    "Die Steinzeitkrieger bevorzugten den Hinterhalt oder auch nächtliche Angriffe, um das Risiko, selbst verwundet oder getötet zu werden, möglichst gering zu halten. Männliche Feinde wurden selten gefangen genommen sondern sofort getötet oder später rituell hingerichtet, während Frauen und Kinder versklavt wurden."

    Das Ideal vom unerbittlichen Kampf bis zum Tod dominierte noch bis weit in die griechische Antike und die Römerzeit hinein. Es galt als unehrenhaft für die Krieger, vorzeitig zu kapitulieren. Wer es trotzdem tat, wurde mit sozialer Ächtung, Enteignung oder gar dem Tod bestraft. Vor allem das römische Imperium akzeptierte auch vom Gegner keine ehrenvolle, sondern nur eine bedingungslose Kapitulation. Er musste sein Land, sein Eigentum und seine Bevölkerung dem römischen Sieger überantworten. Das milderte vielleicht die Schrecken eines bis zum letzten Akt durchgeführten Gemetzels, gehorchte aber allein der Siegerlogik des Krieges und nicht der Kunst eines vernünftigen Ausgleichs. Holger Afflerbach schildert diese und die darauffolgenden historischen Etappen des Krieges kenntnisreich und in klarer und verständlicher Sprache. Und macht dann im Mittelalter bedeutsame Regelungen aus, die die Auswirkungen von Sieg und Niederlage begrenzen sollten.

    "Was die neuen Entwicklungen doppelt effektiv machte, war, dass sie nicht nur an die Ehre, sondern auch an den Eigennutz der Soldaten appellierten. Dieses Eigeninteresse lag in dem Brauch, Großmut gegenüber den Besiegten zu zeigen, ihn gefangen zu nehmen, gut zu behandeln - soweit der moralische Teil - und nur gegen ein üppiges Lösegeld wieder nach Hause zu entlassen."

    Diese ökonomisch abgepolsterte Großmut galt aber nur für die Oberschicht der adligen Ritter. Die niederen Fußtruppen hingegen wurden nach einer Niederlage meist erbarmungslos zur Strecke gebracht. In der frühen Neuzeit schließlich entstanden große stehende Heere mit einer umgreifenden disziplinarischen Ordnung. Die Regelungen für adlige Ritter dehnten sich dort auf alle Soldaten aus. Bis zum 20. Jahrhundert schlossen sich dann immer mehr Normierungen für den Schutz der Zivilbevölkerung, von Kapitulierenden und Kriegsgefangenen an. Nach den beiden Weltkriegen sieht Afflerbach dann nochmals eine bedeutsame Veränderung.

    "Nach 1945 ist schließlich eine weiter fortschreitende Bindung - und auch Selbstbindung - des Siegers, nicht zuletzt durch öffentliche Kontrolle und einen Wandel der Mentalitäten, zu beobachten. Diese Entwicklung gilt sicher für Europa oder ‚den Westen‘: Dort sieht man, durch die Weltkriege tief ernüchtert, den Krieg als politisches Instrument mit gewaltiger Skepsis."

    All das führt Holger Afflerbach zu der Schlussfolgerung, dass zwar nur allmählich, aber doch kontinuierlich ein Trend zum Besseren in der Geschichte des Krieges eingetreten sei. Die rohe Gewalt auf dem Schlachtfeld sei mehr und mehr durch allgemeingültige Regeln eingehegt worden. Allerdings macht Afflerbachs eigene Darstellung deutlich, wie relativ das zu verstehen ist. So fällt auf, dass Afflerbach in seinem Buch zwar Beispiele für geregelt ablaufende Kapitulationen anführen kann. Weit häufiger jedoch finden sich Berichte über rücksichtsloses Töten der Sieger oder vom heroischen Sterben der Verlierer. Die Lektüre macht auch klar, warum die Regeln des Krieges nicht generell eingehalten werden. Vor allem ideologische, insbesondere nationalistisch und rassistisch beeinflusste Faktoren sind dafür verantwortlich.

    "Ein Sonderfall sind die Kolonialkriege des 19. Jahrhunderts. In diesen Kriegen galten die Regeln ‚zivilisierter‘ Nationen nicht und die europäischen Mächte missachteten Mechanismen, die sie in Europa befolgten. Rassistisches Denken erklärt dies zum Teil. Während im 2. Weltkrieg die Kriegführung im Westen sich insgesamt und damit auch bei der Kapitulation an die etablierten Normen hielt, verliefen die Kämpfe in Osteuropa anders. Hier wurde ein Krieg geführt, der sich nicht an Regeln hielt. Schon am 4. Oktober 1939 hatte Hitler eine generelle Amnestie für deutsche Übergriffe auf Polen erlassen und damit klargemacht, dass er Regelverletzungen nicht zu stoppen, sondern zu begünstigen beabsichtigte."

    Letztlich, so legt Afflerbachs Buch nahe, scheinen vor allem zwei Faktoren eine vernünftige Kunst der Niederlage zu begünstigen: wenn die Gegner in etwa gleich stark sind und sich dem gleichen Kulturkreis zugehörig fühlen. Aber selbst dann werden Gefangene getötet, wenn die Kampfsituation es nicht anders zulässt oder die Logik des Krieges humane Regungen ausgeschaltet hat. Und im Blick auf die Gegenwart ist noch völlig unklar, wie die neuen Formen des Drohnen- und Terrorkriegs mit den herkömmlichen Kriegsregularien in Einklang gebracht werden können. Denn sie kommen zwar vom Krieg der großen, zerstörerischen Masse ab, wollen mit begrenzten Mitteln aber überdimensionale Wirkung erzielen. Holger Afflerbachs Buch ist deshalb so lesenswert, weil es über alle diese widersprüchlichen Fakten genau informiert. Es lässt daher beim Leser keine Illusionen über den Krieg aufkommen, auch wenn sein Autor einen Trend zu seiner Selbstzähmung nachweisen will.

    Holger Afflerbach: Die Kunst der Niederlage.
    Eine Geschichte der Kapitulation.
    C.H. Beck Verlag, 320 Seiten, 14,95 Euro