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Die Lust an der Gratwanderung

Das ist ein Besessener, ein Exzentriker: So lautet der Standardsatz über Werner Herzog. Wir gehen soweit wie möglich, sagte auch der Schauspieler Klaus Kinski einmal über sich und Herzog. Und das Werk des Regisseurs schildert ebenfalls seine Suche nach dem Extremen. Heute wird der Filmemacher 70 Jahre alt.

Von Hartwig Tegeler | 05.09.2012
    Er erzählt über seine Jugend im bayerischen Sachrang, dicht an der Grenze zu Österreich. Ruhig, sehr ruhig. Zu ruhig? Zu gelassen. Das, was er im Dokumentarfilm "Was ich bin, sind meine Filme" von 1979 über sich sagt, hat es in sich.

    "Ich war eigentlich eher seltsam. Mehr so ein Stiller. Und Jähzorniger. Also, ich habe tagelang vor mich hingebrütet. Und dann gab es so, so Ausbrüche von rasendem Jähzorn."

    Dann, eines Tages, ein Zwischenfall oder: ein Ausbruch?

    "Eine Auseinandersetzung mit meinem Bruder, wo ich bewaffnet war und er nicht. Das war wirklich eine Katastrophe."
    Interviewer: "Was heißt das? Du hattest einen Stein, oder?"
    "Nein, ein Messer, ja. Der war also ziemlich verletzt."

    Diese Geschichte mit dem Messer als Junge, nun, man kann sich durchaus vorstellen, dass Klaus Kinski bei den berühmt-berüchtigten Dreharbeiten zu "Fitzcarraldo" im Dschungel seine fluchtartige Abreise dann doch verschob, als Herzog mit der Winchester drohte. 1970 drehte Herzog "Auch Zwerge haben klein angefangen", in dem die kleinwüchsigen Bewohner eines Heimes den Aufstand proben. Kinski kannte den Film.

    "Herzog: "Er hat also manchmal geschrien: 'Sie Zwergenregisseur!' So als Schimpfwort."
    Kinski am Set: "Sie sind ein Anfänger, ein 'Zwergen'-Regisseur sind Sie, aber nicht ein Regisseur für mich.""

    Natürlich brauchten sich Kinski und Herzog. Zwei Seiten einer Medaille. Beide wussten das, wie Werner Herzog es 1999, in der Dokumentation "Mein liebster Feind", auf den Punkt brachte:

    "Und Kinski tobte, ich sei größenwahnsinnig geworden. Ich sagte ihm darauf, dann sind wir jetzt eben zu zweit."

    Viele Bilder, viele Figuren aus der Zeit der Zusammenarbeit von "Aguirre, der Zorn Gottes" bis "Cobra Verde" scheinen immer wieder dieses Jenseitige der Vernunft zu berühren. Beispielsweise dieser Büchnersche Woyzeck, den Klaus Kinski 1979 für Herzog spielte.

    "Marie: "Was hast du Franz? Du bist hirnwütig."
    Woyzeck: "Es gehen viele Leute durch die Gasse, und du tust reden, mit wem du willst. Was geht das mich an?"

    Auch nach "Cobra Verde" - 1987 - und seines "liebsten Feindes" Tod ging Herzogs Karriere weiter, wenn auch nicht so spektakulär wie in den Kinski-Tagen. Denn der neben Fassbinder, Schlöndorff und Wenders wichtigste deutsche Filmemacher der 1970er- und 80er-Jahre drehte zwar nun weniger Spielfilme, dafür eine Vielzahl von Dokumentationen.

    Doch in welchem Sujet auch immer, es waren die Grenzgänger, die ihn interessierten. In "Rescue Dawn" von 1997 spielt Christian Bale einen Deutschen, der als abgeschossener US-Kampfpilot aus einem Kriegsgefangenenlager flieht.

    "Hast du einen Plan? - Ist euch aufgefallen, dass die Wachen, wenn sie zur Küchenhütte gerufen werden, ihre Waffen immer zurücklassen, wenn sie zum Essen gehen? Immer."

    "Ich denke, in der Filmindustrie fließt viel Aufmerksamkeit in digitale Effekte."

    Meint Herzog im Audiokommentar der DVD von "Rescue Dawn".

    "Ich will aber, dass das Publikum seinen Augen wieder trauen kann. Meine Schauspieler kämpfen sich durch Dornen und Unterholz. Das ist kein digitaler Effekt."

    Natürlich schimmert hier wieder die Lust an der Gratwanderung durch, die schon die Zusammenarbeit mit Kinski kennzeichnete. Und auch die Protagonisten seiner Dokumentarfilme - die Antarktisforscher in "Begegnungen am Ende der Welt" beispielsweise oder der von Bären gefressene Tierschützer in "Grizzly-Man" -, auch sie sind extreme Grenzgänger. In seiner bisher letzten dokumentarischen Arbeit - in "Death Row" - porträtiert Werner Herzog fünf Todeskandidaten in texanischen Gefängnissen.

    Doch Herzog suchte neben dem Extremen immer auch das Schöne und fand es auf faszinierende Weise bei seinen alt vorderen Kollegen, diesen urzeitlichen Künstlern, die Tiere an die Wände der französischen Chauvet-Höhlen malten. Die Tierzeichnungen von Chauvet sind 32.000, teilweise 35.000 Jahre alt. Eine Art Urkino, sagt Herzog in "Die Höhle der vergessenen Träume" von 2011:

    "Werden wir jeweils in der Lage sein, die Vision der Künstler über eine so große Zeitspanne hinweg zu erfassen."

    Über diese Künstler, die die Chauvet-Höhle bemalten, wissen wir nichts. Über Herzog scheinbar alles; er und sein Werk liegen scheinbar offen vor uns. Ist das so?

    "We go as far as possible."

    Wir gehen so weit wie möglich, sagte Kinski einmal über sich und über Werner Herzog. Noch so ein griffiges Credo! Nur, was heißt das? Am Ende habe ich keine Ahnung. Vielleicht kein schlechter Ausgangspunkt, um sich anlässlich des 70. Geburtstages von Werner Herzog einem in vielen Momenten magischen Werk anzunähern.