Donnerstag, 28. März 2024


Die »lyrix«-Gewinner im Juli 2015

Im Juli haben wir euch zu einem „Perspektivwechsel“ aufgerufen. Inspiriert von der „Nicht orientierbaren Fläche“ aus dem HfG-Archiv des Ulmer Museums und von Tom Bresemanns Gedicht „brunnengasse“, habt ihr euch neuen Blickwinkeln geöffnet.

19.08.2015
    Die eigene Perspektive zu wechseln und sich auf eine neue einzulassen, erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Weltbild. Dazu gehört Mut.
    Doch ihr habt gezeigt, dass ein Perspektivwechsel gut tut und oft notwendig ist, um wieder klar sehen zu können. Es ist eine Chance, das Leben neu wahrzunehmen und eine Erkenntnis über sich selbst und die Gesellschaft zu gewinnen.
    Wer den Mut zum "Perspektive / wechseln [...] Richtung / ändern [...] Augen / Öffnen [... und] Aus der Reihe / tanzen" hat, entdeckt die Leichtigkeit des Lebens, hinterfragt Autoritäten und Systeme, "um festzustellen, wie kostbar diese Welt ist / wie schön und beschützenswert".
    Vielen Dank für alle Gedichte und herzlichen Glückwunsch an die Gewinner im Juli!
    Die Monatsgewinner im Juli 2015:
    Von oben betrachtet
    Wenn jeder Weg
    ausweglos zu sein scheint.
    Wenn jede Möglichkeit
    keine Wirklichkeit ist.
    Wenn du aufhörst zu leben,
    Und anfängst, nur noch zu sein.
    Dann musst du nur deine
    Perspektive
    wechseln.
    Wenn das Grau auf dir lastet
    Wie schwerer Zement.
    Als würde das gesamte Universum
    Sein Gewicht auf deine Schultern legen
    Und dich immer weiter
    auf den Boden drücken
    Dann musst du nur deine
    Richtung
    ändern.
    Wenn du Angst hast zu ersticken
    In all den "Du sollst, musst, darfst nicht" - Schreien Dann woll, leb und kann doch einfach mal.
    Und wenn du in deinem Kopf
    Blockiert von all den Dingen
    Nicht mehr klar sehen kannst
    Dann musst du nur deine
    Augen
    Öffnen.
    Und wenn du das
    Große Ganze
    erkennen würdest,
    Würdest du sehen,
    Wie schön die Welt doch ist.
    Wenn du nicht
    Mit dem Strom schwimmen willst,
    Sondern dagegen,
    Wenn du den Takt nicht mehr findest,
    Und du nicht nur die Antwort,
    Sondern auch die Frage nicht mehr weißt
    Dann musst du nur
    Aus der Reihe
    tanzen.
    Wenn du befürchtest,
    dass alles gleich zu sein scheint
    Und du vergessen hast, wer du bist,
    Weil du zu viele auf einmal warst.
    Wenn du nur noch aus
    Strichen und Zahlen bestehst
    Dann musst du nur
    Chaos
    In deine Ordnung bringen
    Und wenn sich doch alles
    so bedeutend,
    So unglaublich
    schrecklich wichtig
    anfühlt.
    Dann denk immer dran:
    Von oben betrachtet
    Sind wir alle winzig klein.
    Kleiner als ein
    .
    Du wirst schon sehen.
    Vivian Knopf, Jahrgang 1999
    Anna
    Tu dies
    Tu das
    Warum?
    Mama sagt und sagt
    Ich nicke
    Am Arbeitsplatz:
    Können Sie bitte
    Morgen, ein Termin
    Ganz wichtig
    Dürfen Sie nicht vergessen
    Unter keinen Umständen!
    Warum?
    Die Antwort: Geld
    Sagt Anna
    Alle wollen Geld
    Auch du
    Kleine Schwester
    Warum?
    Kaffee oder Tee?
    Ich schüttle den Kopf
    Als ob es darauf
    Eine einfache Antwort
    Gibt
    Anna verzieht das
    Gesicht
    Du wirst es schwer haben
    Kleine Schwester
    Das habe ich dir
    Schon immer gesagt
    Warum?
    Ich bin ein Teil
    Von Gesellschaft
    Die sich Gesellschaft schimpft
    Ein System
    Das funktioniert
    Wenn alle mitspielen
    Ein Glied tanzt aus
    der Reihe – ausgestoßen
    Ich lasse Anna stehen
    Mit ihrem Kaffee
    Und ihrem Tee
    Gesellschaft
    Kann auch ohne mich
    Jedenfalls
    Für diesen Moment.
    Pia Kostinek, Jahrgang 1997
    verdichtung
    donnerstag. am himmel
    licht aus
    angestauter luftspannung fast
    in stille zerreißend
    durch
    das hohle fenster knistert
    heißer strom. vor dem glas
    bewegungslosigkeit flach
    und trocken ausgedorrter erdensand
    im garten verschwommen sehe
    ich draußen das
    kind auf grüne bäume klettern
    die nicht mehr sind. -
    tote gräser nur
    ich in der gesellschaft einer unter vielen
    elende sandkörner
    einen sonnenliegeplatz formend
    für den braungebranntesten dessen
    sonnenbrille vor den augen strahlen reflektiert
    zurückgeworfen. -
    am fenster
    den ersten regentropfen der
    sich lösen würde in
    die tiefe stelle ich mir vor
    hinter den vorbeiziehenden gewitterwolken
    von sandkörnern umgeben verdunstend oder
    der anfang einer flut aus tropfen vertont
    von donnernden paukenschlägen und
    lichtblitze erhellen den himmel
    wetterumschwung vielleicht damit
    bäume früchte tragen und
    kinder klettern können
    donnerstag. am himmel
    schwalbenflug - die sanduhr tickt
    Aaron Schmidt-Riese, Jahrgang 1995
    Man müsste mal
    Man müsste mal
    die Perspektive wechseln
    auf sich und diese Welt
    denn das was ist
    ist nicht immer das
    wofür wir es halten
    wir sind nicht immer
    wer wir behaupten zu sein
    und auch wenn es nie wirklich objektiv wird
    der Mensch ist ein Mensch und keine Kamera
    man müsste mal
    die Perspektive wechseln
    Man sollte mal
    die Perspektive wechseln
    und nicht immer nur so tun
    als sei man selbst der größte
    oder als sei ein anderer Mensch der Größte
    letztendlich sind wir doch alle klein
    auch wenn wir die Welt und den Zufall und das Universum
    zu beherrschen meinen
    sind wir doch nichts
    und die Wolkenkratzer nur Türme zu Babel
    und ein kläglicher Versuch so zu tun
    als wären wir mehr
    als ein mittelgroßes Nichts
    das sich um die Sonne dreht
    Man sollte mal
    die Perspektive wechseln
    Man könnte mal
    die Perspektive wechseln
    und nur einen Augenblick so tun
    als wäre man der Mann im Mond
    und schon ist die längste Mauer nicht mehr als ein Haar
    und der mächtigste Herrscher nicht mehr als ein Staubkorn
    ein kleiner Haufen von noch viel kleineren Atomen
    und plötzlich wären so viele Probleme die wir hätten
    so nichtig und die Unterschiede so klein
    zwischen den Menschen
    Du kannst
    die Perspektive wechseln
    und nur im Traum einmal den Mond betreten
    Schau dir die Erde an, wie klein ist sie
    und zierlich, wie zerbrechlich- und doch wie schön
    ein kleiner Fleck Leben in der Dunkelheit des Universums
    ein kleiner Fleck der alles ist, was wir haben
    und auch wir sind nichts, als noch kleinere Wesen
    die sich einbilden die größten zu sein.
    Wechsel die Perspektive
    einmal nur, wie im Traum,
    um festzustellen, wie kostbar diese Welt ist
    wie schön und wie beschützenswert.
    Manchmal muss man die Perspektive wechseln
    um festzustellen, wie klein wir sind,
    wie klein diese Welt ist
    und wie schön es trotzdem ist
    ein kleines bisschen zu sein
    in der Unendlichkeit des Universums.
    Anne Magdalena Wejwer, Jahrgang 1997
    Perspektivwechsel
    Auf einer Bank
    Saß der Pessimist
    Mit hängendem Kopf
    Und seufzte
    dem Boden entgegen
    "Ach ... wäre ich nur ...
    Glücklich ...
    Ich bin
    Ganz unten angelangt
    Was kümmert mich, dass ich
    Mein Leben in meiner Hand
    Vergeude und spüren kann
    Dass ich keine Zeit
    Mehr haben werde irgendwann
    Weiß, dass ich keine Sorge
    Dem Vergessen preisgegeben
    So Vieles
    Höre ich gern
    Des Lebens Lachen
    aber ist unbegründet
    Der Zweifel an mir
    Wird immer in mir sein
    Was mir einmal wichtig war
    Vergesse ich
    Die trüben Gedanken
    Halten meine Seele
    Hoffnungen für Morgen
    Habe ich nie
    Freude als trübes Leid empfunden
    In allen Lebensjahren
    Lasse ich mir
    Die kleinen Glücksmomente ...?
    Unter der Bank
    Grinste ihm der Optimist
    nach oben entgegen
    "Lies doch mal,
    Was du geschrieben,
    Aus meiner Perspektive!"
    ___________________________________________________________________________________________________
    [Anmerkung der Autorin: Der "Perspektivwechsel" wird nicht nur inhaltlich vollzogen, sondern auch formal - das Gedicht kann vorwärts und rückwärts gelesen werden]
    Christine Zeides, Jahrgang 1995
    Und hier ein Beitrag "außer Konkurrenz":
    (Jeder Teilnehmer kann maximal zweimal Leitmotivrundengewinner werden. Weitere eingesandte Gedichte werden trotzdem von der Jury bewertet. Sollte ein Gedicht nach Punkten unter den besten sein, wird es "außer Konkurrenz" veröffentlicht.)
    so oder so
    wäre ich ein vogel
    sähe ich die welt von oben
    alles klein und winzig
    wäre ich eine ameise
    sähe mich fast keiner
    klein und winzig wäre – ich
    die angst der dunklen nacht
    verliert am hellen tag die macht
    manchmal brauchen wir
    den imaginären till eulenspiegel
    der uns in seinen spiegel schauen lässt
    selbsterkenntnis
    welche perspektive
    hätte johanna von orleans
    in unserer zeit?
    psychatrie?
    ihre visionen – ein fall
    für dr. feelgood und
    happy pills?
    jedes leben hat seine zeit
    zeit will verstanden werden
    zeit braucht zeit
    kausalität
    verschlingt perspektiven
    kausalität
    erschließt perspektiven
    zukunft braucht vergangenheit
    Lara-Sophie Cronhardt-Lück-Giessen, Jahrgang 2000