Dienstag, 23. April 2024


Die »lyrix«-Gewinner im Juni 2015

Im Juni habt ihr euch mit „Gefangenschaft – Isolation – Zersetzung“ beschäftigt. Die Zelle 117 in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen sowie die Gedichte „Das Schlimme“ und „Ich lebe, aber“ des damals inhaftierten Jürgen Fuchs gaben euch Anregungen für eure Einsendungen.

13.07.2015
    Zellentrakt im ehemaligen Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, heute eine Gedenkstätte.
    Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (dpa / picture alliance / KUVARYHMÄ / Niclas Makela)
    "Gefangenschaft", "Isolation", "Zersetzung" – einzeln oder in Verbindung erlauben diese Begriffe ein weites Feld der Interpretation. So kamen auch von euch ganz unterschiedliche Einsendungen. Ob es nun die gesellschaftliche Isolation "abgekapselt", "abgeschirmt", "gemeinsam und einsam", Isolation in Form von Sucht oder Chancenlosigkeit oder die Überforderung mit dem individuellen Lebensweg ist – eure Gedichte öffnen Abgründe in Gesellschaft und eigener Identität.
    Was bringt diese Einengung, das Gefangensein, die Angst und Hoffnungslosigkeit mit sich? Wenn man "nicht mehr weiß, / ob es Nacht oder Tag" ist?
    Die Perspektivlosigkeit führt zur vollständigen Zermürbung der eigenen Persönlichkeit. Wenn der Mensch am Ende seiner Kräfte ist – gefangen, isoliert, zersetzt –, bleibt nur ein "Ende ohne Sinn", "Dass ich manchmal schreie und weine, / dass ich mir meine Arme aufkratze. / Dass ich bluten will / bis ich in meinem Blut ertrinke".
    Wir gratulieren den Gewinnern im Juni und bedanken uns bei allen für ihre Einsendungen!
    Die Monatsgewinner im Juni 2015:
    Dass ich Apfelsaft mag
    Ich wollte dir nur sagen,
    dass ich Spiegeleier mag
    und Apfelsaft – naturtrüb.
    Und dass ich manchmal nachts aufgestanden bin
    und dann auf dem Dachboden
    Mamas alte Kisten durchsucht habe
    nach irgendetwas, das
    noch nicht kaputt war.
    Ich wollte dir noch sagen,
    dass ich es schön fand wie
    wir beide ganz weit raus fuhren aufs Land,
    wo keiner mehr wohnen will
    wegen der Atomkraftwerke.
    Wie wir in der Sonne saßen
    und die Wolkenberge durchsuchten
    nach irgendetwas, das
    nicht vorbeiziehen wird.
    Ich wollte dir noch sagen,
    dass ich noch oft an diese Tage denke,
    an denen wir versuchten,
    so tief auf den Boden des Teichs zu tauchen,
    dass wir unsere Hände im Schlamm vergraben konnten.
    Wie wir die feuchte Erde untersuchten
    nach irgendetwas, das
    noch nicht verwest war.
    Ich wollte dir noch sagen,
    dass die Wände hier sehr grau sind,
    grauer noch als dein Strickpullover.
    Und dass ich manchmal nachts aufstehe,
    weil das Licht an ist.
    Dass ich nicht mehr weiß,
    ob es Nacht oder Tag ist
    und einsam bin,
    dass niemand mit mir spricht.
    Dass ich manchmal schreie und weine,
    dass ich mir meine Arme aufkratze.
    Dass ich bluten will
    bis ich in meinem eigenen Blut ertrinke.
    Ich wollte dir nur sagen,
    dass ich dein Grab besuchen werde
    wenn ich frei bin, auf der Suche
    nach irgendetwas, das
    von uns geblieben ist.
    Victoria Helene Bergemann, Jahrgang 1997
    mousefalle
    Im Zimmer
    ein Rechner
    immer online
    die Welt steht offen
    der Horizont ist weit
    Erlebnisse frei Haus!
    Viele Stunden
    gefesselt am Stuhl
    starrer Blick
    kaum einen Meter weit
    kleiner Spielraum
    nur das Klicken des Fingers...
    Tausend Freunde
    in meiner Liste
    viele chats
    unbekannte Spielpartner
    aber mein Leben
    einsam und leer.
    Im Zimmer
    ein Rechner
    immer online
    niemals real
    mein Horizont
    nur virtuell
    16 : 9
    Tom Bussemas, Jahrgang 2002
    Ende ohne Sinn
    Gefangen
    Gedanken
    Isolation
    Mauern
    Schranken
    Hallender Ton
    Sein um Sein
    Stein um Stein
    Gefangen
    Will nicht sein
    Will heim
    Gitter, Mauern mich begrenzen
    Druck von außen stark
    Seelendruck durch weißen Kalk
    Zerstörung Tag für Tag
    Und habt ihr mich gebrochen
    Klein und schwach hier drin
    Seelenheil zerronnen
    Isolation- mein Ende ohne Sinn
    Patricia Haas, Jahrgang 1997
    Lea
    fahle sonnenstrahlen werfen schatten
    von maschendrahtzaun
    auf den verlassenen boden
    unweit der grauen fassaden
    die zu häusern aufragend
    an geteerten straßen lehnen
    die von draußen kommen
    wo "mauer" steht und "kein gefängnis"
    auf heruntergekommenen schildern in weiß
    was aber sagen die vorsichtigen blicke
    von menschen in der fremde
    die frieden suchten
    aber ungewissheit fanden
    an einem ort
    den sie nicht verlassen dürfen
    von sicherheitskräften umringt
    die ihre sprache nicht sprechen
    alleingelassen in einer isolierten welt
    Freiheit?
    Kathrin Moll, Jahrgang 1996
    o.T.
    gemeinsam
    sitzen wir
    im waggon
    der u-bahn
    es spielt andere musik in
    jedem kopf
    hörer
    es leuchten andere farben auf
    jedem bild
    schirm
    alle kommunizieren aber
    nicht miteinander
    jeder mit einer anderen
    freundin aber
    nicht hier
    die wohnt doch in amerika
    let's keep in touch
    on the screen
    talk face to face
    book
    abgekapselt
    nicke ich mit dem kopf
    im rhythmus meiner musik
    abgeschirmt
    schreibe ich gefällt mir
    unter ein bild von emely
    ich höre die schreie nicht
    ich sehe nicht was um mich geschieht
    gemein und einsam
    sitzen wir
    abgekoppelt
    im waggon
    der u-bahn
    endstation
    gesellschaftliche isolation.
    Aaron Schmidt-Riese, Jahrgang 1995
    Und hier zwei Beiträge "außer Konkurrenz":
    (Jeder Teilnehmer kann maximal zweimal Leitmotivrundengewinner werden. Weitere eingesandte Gedichte werden trotzdem von der Jury bewertet. Sollte ein Gedicht nach Punkten unter den besten sein, wird es "außer Konkurrenz" veröffentlicht.)
    Mundtot
    Es war einmal das Wort,
    vergebend
    belebend
    die Freiheit erstrebend,
    schnelle Zungen
    große Ohren
    ein jeder zum Sprechenden erkoren,
    die Stille hat niemand beim Namen genannt,
    bevor man den Worten die Lippen verband.
    Die Silben
    sie wurden in Ketten gelegt
    und fixe Ideen beiseite gefegt,
    dem Redenden hat man den Knebel verpasst
    das drückende Nichts nur ins Auge gefasst,
    sie schlugen die Türen
    die Riegel sind dicht,
    und nach einer Meinung
    da fragen sie nicht,
    die lieben Gedanken
    sie schlossen sie fort,
    es war einst vor ewigen Zeiten
    das Wort.
    Julia Fourate, Jahrgang 1994
    Tausend Möglichkeiten
    Mein Leben ist eine Flucht
    Ich fliehe ohne zu schauen wohin
    Ich fliehe ohne zu schauen wovor
    Ich fliehe einfach
    Immer weg bloß weg
    Ich fliehe
    überrenne Kreuzungen
    winde mich durch Sackgassen
    Immer weg bloß weg
    Ich fliehe vor der Verantwortung
    Die ich übernehmen sollte
    Vor dem Leben
    Auf das ich gar nicht vorbereitet bin
    Ich fliehe vor den tausend Möglichkeiten
    Aus denen ich mir blindlings eine auswähle
    Natürlich die Einfachste
    Immer weg bloß weg
    Ich fliehe
    Und merke nicht, dass ich hätte abbiegen können
    Ich suche den Sinn des Lebens
    In dem Labyrinth aus Möglichkeiten
    Suche das Ende meines Weges
    Versuche ihn vorauszuahnen
    Aber alles verschwimmt
    Weil ich fliehe
    Die Zeit rennt mit mir
    Kindergarten vorbei
    Schule geschafft
    Was wird wohl kommen???
    Ich habe keine Zeit darüber nachzudenken
    Zeit darüber nachzudenken was ich will
    Zeit darüber nachzudenken wer ich bin
    Ich will nicht fliehen vor dem Leben
    Doch wenn ich nicht laufe
    Rennt es an mir vorbei
    Ich möchte
    Tausend Möglichkeiten leben
    Und kann doch nur ich sein
    Ich möchte alles und bekomme nichts
    Und egal wie schnell ich laufe
    Ich bleibe einsam eingesperrt
    In meiner Möglichkeit
    Mareen Kraft, Jahrgang 1998