Donnerstag, 02. Mai 2024

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Die Macht des Herzens

Von Peter Gays Geschichte der bürgerlichen Erfahrung im neunzehnten Jahrhundert liegen alle vier bisher erschienenen Bände nun in deutscher Übersetzung vor. Im vergangenen Jahr präsentierte der Beck Verlag das Schlachtenpanorama "Kult der Gewalt"; jetzt hat er auch die Miniaturenfolge über "Die Macht des Herzens" zugänglich gemacht. Sie umfaßt Genrebilder aus dem Leben der gehobenen Stände: Wir sehen den Bürger im Konzert und vor der Staffelei, auf den Höhen der Berge und in der großstädtischen Unterwelt, vor allem aber am Schreibtisch, als Romancier, Historiker und Tagebuchschreiber. Je weiter das Unternehmen fortschreitet, desto lauter dürften die kritischen Fragen werden, mit denen Fachhistoriker schon die ersten beiden Bände, die von der Sexualität und der Liebe handeln, begrüßt haben. Gay hat einen großzügigen Begriff des neunzehnten Jahrhunderts. Es endete 1914 und begann 1789, es ist jenes lange neunzehnte Jahrhundert, das man auch von Eric Hobsbawm kennt. In Gays Augen ist es aber noch nicht lang genug. Er nimmt für seine Bürger gar nicht in Anspruch, daß sie Erfahrungen gemacht haben, die ihren Vorfahren fremd geblieben sind. Der neueste Band erörtert die Selbsterkundung; es fehlt ein Kapitel über den Drogenrausch. Gays erster Band machte Furore mit der These, daß der Viktorianismus gar kein eisernes Zeithalter der Entsagung gewesen sei. In Gays Geschichte des Strebens nach Glück gibt es keinen Sündenfall in die sexuelle Unfreiheit und keine Erlösung zum Genuß ohne Reue. Das neunzehnte Jahrhundert hat nicht eigentlich angefangen und anscheinend auch nicht wirklich aufgehört. Gay begann sein Projekt also damit, daß er die Einzigartigkeit der Epoche bestritt, die er zu schildern unternahm. Seine Historikerkollegen mußte dieses Vorgehen im Mißtrauen gegenüber der Methode bestärken, deren Brauchbarkeit er beweisen wollte. Kann man mit Freuds Begriffen erklären, was die Bürger des neunzehnten Jahrhunderts von ihren Großvätern und ihren Enkeln unterscheidet? Oder kennt die Psychoanalyse nur zwei Subjekte, das Individuum und die Menschheit?

Patrick Bahnerrs | 01.01.1980
    Den Historiker, der sich vom Priester das Ziel der Weltgeschichte nicht mehr vorschreiben läßt, fasziniert der Psychoanalytiker, weil er unbefangen Geschichten erzählt. Aber ist nicht dem Mythos des Kampfes zwischen Ich und Es wie jeder eschatologischen Erzählung der zeitliche Index am Ende gleichgültig? Gay hätte sich seine Sache leicht machen können, hätte er behauptet, daß Freuds Theorien die Erfahrung des neunzehnten Jahrhunderts zur Sprache bringen, weil er und seine Patienten Kinder dieses Jahrhunderts waren. Doch an lokalem Wissen ist Gay nicht eigentlich interessiert. Er verspricht sich von der Psychoanalyse einen antropologischen Generalschlüssel. Sie soll der Kern jener Wissenschaft vom Menschen sein, die die Historiker im Zeitalter der Aufklärung nur postulieren konnten. Wer heute ein historiographisches Großprojekt auf den Weg bringt, sichert sich gewöhnlich mit einem Bekenntnis zum Synkretismus ab. Gay hat dagegen den höchstmöglichen Einsatz gewagt. Er hat sich denn auch genötigt gesehen, gleich zu Anfang seinen besten Trumpf auszuspielen. Der Band über die Sexualität profitiert eben doch davon, daß der Autor Freuds Thesen an Freuds Themen erprobt. In den Betrachtungen über Selbsthaß und Selbstliebe kann er die Psychoanalyse nicht mehr als medizinische Lehre, sondern nur noch als Kulturphilosophie zu Rate ziehen. Das aber muß für einen Historiker problematisch sein, der in seinen frühen Studien zu den Philosophen der Aufklärung den Durchbruch zur exakten Wissenschaft als wichtigste Errungenschaft der Neuzeit herausgestellt hat.

    Die heutige Wissenschaftsgeschichte ist geneigt, den Gegensatz zwischen mittelalterlicher Kindesbefangenheit und modernem Realismus zu relativieren. Sie verweist auf das lange Nachleben okkulter Traditionen im Mantel rationaler Diskurse. Die Kirche der Humanität wird von einem Schisma geplagt. Für manchen kritischen Geist, der sich von Gay im Rationalismus nicht übertreffen läßt, verkörpert gerade die Freudsche Doktrin den Typus eines Sonderwissens, das sich gegen empirische Widerlegung immunisiert hat. Indem Gay die Psychoanalyse eine Wissenschaft des Verdachts nennt, markiert er unwillentlich die Nähe von Wahnsinn und Methode. Der Wissenschaftler wird an den Erscheinungen nicht froh; was er sieht, interpretiert er als Wirkung einer unsichtbaren Ursache. Im generalisierten Zweifel an den Gewißheiten der Alltagswelt ist er der Doppelgänger des Paranoikers, der sich von Feinden umzingelt glaubt. Aus dem Tagebuch Friedrich Hebbels zitiert Gay die Maxime, der Autobiograph solle wie Goethe in "Dichtung und Wahrheit" nur das Liebliche, das Schöne und das Beruhigende betonen, das sich auch in den dunkelsten Umständen finden lasse, und das Übrige weglassen. Der Historiker im Kittel des psychoanalytischen Detektivs ergänzt diesen Rest: Er rechnet damit, auch in den hellsten Umständen das Schmerzhafte, das Häßliche und das Unheimliche zu entdecken.

    Gays Bilanz der viktorianischen Triebökonomie, sein Register diskreter Affären und geduldeter Eskapaden, konnte man als Apologie der Heuchelei lesen. Sollte eine Frauenhistorikerin einmal neben Sombarts Bourgeois die Bourgeoise stellen, wird sie der neuenglischen Professorengattin Mabel Loomis Todd ein Kapitel einräumen. Im Licht ihrer von Gay entdeckten Tagebücher, die in symbolischer Notation ehelichen und außerehelichen Beischlaf verzeichnen, erscheint die bürgerliche Doppelmoral als Nebenprodukt der doppelten Buchführung. Hatte Kant das Recht, aus Menschenliebe zu lügen, verworfen, so scheint für Gay sogar die geschlechtliche Befriedigung die Unwahrheit zu rechtfertigen. Warum der Parteimann der Aufklärer auf die Seite der Dunkelmänner trat, macht erst der neue Band deutlich. Die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, die den Bürgern nach Meinung ihrer Kritiker ein selbstbestimmtes Leben verwehrte, hat in Gays Augen gerade den Freiraum für die Selbsterforschung geschaffen. Dem Bürger, der Muße hatte, lange in den Spiegel zu schauen, wurde sein Gegenüber irgendwann fremd. Wer destruktive Kräfte in seinem Innern ahnte, war gut beraten, die gesellschaftlichen Spielregeln anzuerkennen, zur eigenen Sicherheit wie zum Schutz der Allgemeinheit. Die Objektivierung persönlicher Verhältnisse, die zur Herausbildung einer autonomen Öffentlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft führt, hat ihr Pendant und ihre Voraussetzung in dem Prozeß, den die bürgerliche Persönlichkeit sich selber macht: Der Tagebuchschreiber oder Autobiograph tritt sich als objektiver Beobachter gegenüber; er stellt sich auf den Standpunkt der Vernunft und stößt auf die Macht der Unvernunft. Gay zitiert den englischen Essayisten und Bankier Walter Bagehot: "Hinter dem äußeren Leben jedes Mannes, das er in Gesellschaft führt, gibt es ein anderes, das er alleine führt und das er mit sich herumträgt. Wir sehen nur eine Teilansicht unseres Nachbarn, wie wir nur eine Seite des Mondes sehen; in beiden Fällen gibt es auch eine dunkle Hälfte, die uns unbekannt ist. Wir alle kommen zum Abendessen herunter, aber jeder hat ein Zimmer für sich selbst."

    Gay fühlt sich soziologischen Schriftstellern wie Bagehot oder auch James Fitzjames Stephen, dem Onkel von Virginia Woolf, verbunden, melancholischen Rationalisten, die die Tröstungen der Metaphysik verwerfen und die Macht des Irrationalen fürchten. Seine Sympathie hält ihn davon ab, ihre Psychologie der Einsamkeit in den historischen Kontext zu stellen, sie etwa aus der Situation eines ungläubigen Intellektuellen in der Umwelt eines konventionellen Christentums zu erklären. Nicht als Zeugen der bürgerlichen Erfahrung in ihrer Epoche werden sie aufgerufen, sondern als Wegbereiter Freuds, der die Lage des Menschen auf den zeitlosen Begriff brachte. Freuds Leistung wird durch die Ehrung seiner Vorgänger freilich in doppelter Weise relativiert: Der einsame Held verwandelt sich in den bürgerlichen Unternehmer, der mit fremdem Kapital wirtschaftete, und gegenüber dem Unbewußten gewinnt das Bewußtsein an Terrain zurück, soviel konnte man schon vor der Erfindung der Analyse über die Geheimnisse der Seele wissen.

    Nähme Gay Bagehots radikalen Individualismus beim Wort, müßte er die Grenzen des eigenen Vorhabens einsehen. Beim Abendessen mag sich der Historiker an den Tisch setzen, die Privaträume darf er nicht betreten. Sollte er sich gewaltsam Zutritt zu einem Gemach verschaffen, weiß er deshalb nicht, wie es nebenan aussieht. Er kann höchstens die Standardausstattung der Zimmer beschreiben. Was Gay im vierten Band über die bürgerliche Selbstbespiegelung ausführt, mag daher teils zu allgemein, teils zu speziell erscheinen. Es betrifft entweder nur ein einziges Individuum oder nicht nur das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts. Eben dieses Irrlichtern zwischen dem "Fremd bin ich eingezogen" und dem "Seid umschlungen, Millionen" beschreibt freilich die Position des Bürgertums in den von Gay studierten Selbstzeugnissen seiner Angehörigen. Wo eine feiner und feiner differenzierende Sozialgeschichte zu dem Ergebnis gekommen ist, daß es den Bürger gar nicht gegeben hat, da ist das Bürgertum bei Gay noch einmal der allgemeine Stand, der für die Menschheit denkt und dichtet, kämpft und leidet. Die Bürger erfahren als erste die verstörende Gewalt der Modernisierung, die Bindungen zerreißt und Traditionen entwertet. Wie Freud die Ursachen für die Nervenleiden seiner Patientinnen nicht in der Wiener Gesellschaft suchte, so gelingt Gay die freudianische Auslegung der autobiographischen Schriften von Hans Christian Andersen, Edmund Gosse und John Stuart Mill um den Preis ihrer historischen Isolierung. Die determinierende Gewalt der Familiendynamik zeigt sich im Ausschluß aller externen Einflüsse. Gay behauptet nicht, daß der Konflikt von Vater und Sohn im neunzehnten Jahrhundert neue Formen angenommen hätte oder auch nur in neuen Formen dargestellt worden wäre. Er verteidigt zwar die urgeschichtliche Spekulation von "Totem und Tabu", verzichtet aber darauf, den Sturz der Könige auf dem Kontinent einem Aufstand der Bruderhorde zuzuschreiben.

    Das neunzehnte Jahrhundert hat nach Gay nicht neue Techniken der Selbstbefragung entwickelt, sondern alte Methoden demokratisiert. Es wäre also zu berichten über die Selbstzerstörung eines Individualismus, der nicht mehr aristokratischer Distinktion, sondern demokratischer Imitation dient, von einem Streben nach Originalität, das nur Kopien produziert. Tatsächlich behandelt Gay die Ratschläge von Briefstellern, Frauenzeitschriften und Kitschromanen. Aber die Demokratisierung von Kulturtechniken erscheint als Weitergabe von oben nach unten, als wäre die Unmöglichkeit der Individualität in einer individualistischen Gesellschaft nicht auch ein Thema der Soziologen, Philosophen und Dichter gewesen. Gay polemisiert gegen moderne Theorien der Autobiographie, die das Selbst als Fiktion entlarven. Das ist amüsant und vielleicht sogar treffend; es verweist gleichwohl auf den blinden Fleck seiner eigenen Methode. Das Ich ist für ihn etwas Gegebenes, eine unproblematische Größe. Damit scheint es sich der historischen Betrachtung zu entziehen, die jedes Phänomen als bedingt und also als problematisch erweist.

    Es verrät sich hier ein aristokratischer Vorbehalt gegen die historische Methode, ein Beharren auf einer Seelenstärke, die über die Zeit erhaben ist. Diese Figur hat eine lange Geschichte im historischen Denken. Gay möchte die philosophische Geschichte der Aufklärung fortschreiben, eine histoire totale der Denkweisen und Lebensformen verwirklichen. Dieses Programm, wie es etwa von Voltaire formuliert worden ist, hat eine antimonarchische Spitze. Nicht auf Schlachten und Verträge soll es ankommen, sondern auf die langsame Bewegung in den Tiefen der Gesellschaft. Was als demokratisches Versprechen gelesen werden konnte, ist freilich im aristokratischen Sinn eingelöst worden. Als Gegenmacht gegen Gewalt und Dummheit erwies sich der Geist, der sich in der Unzerstörbarkeit der großen Kunstwerke manifestiert. Gay hat sich schon im zweiten Band, wo er die Liebesauffassung im realistischen Roman darlegt, zur idealistischen Prämisse vom überlegenen Quellenwert des Meisterwerks bekannt. Eklatant wird dieses Vorurteil im vierten Band. Obwohl nach Gays Worten jedes autobiographische Zeugnis so wahr ist wie jedes andere, weil auch eine Lüge eine psychische Tatsache ist, dominieren beim Tischgespräch die Berühmtheiten wie Bagehot. Gerade daß ein Meister seine Zeitgenossen überragt, macht ihn zum objektiven Zeugen. Große Literatur illustriert jene Geschichte, die sich immer wieder ereignet. Das bedeutet nun nicht, daß sie das Chaos der Realität auf archetypische Muster reduziert. Die Trivialliteratur verfehlt das Leben, weil sie es ihren starren Formen unterwerfen will. Dostojewski dagegen zeigt eine Toleranz für die Kontingenz, die ihn vom älteren Dumas unterscheidet. Die stoische Unerschütterlichkeit ist das letzte Wort des Weisen.

    Der philosophische Beobachter Peter Gay geht auf Distanz zur Realität, um sich dann wieder ihrem Anblick auszusetzen. Der Entwicklung seines Werkes kann man diese Bewegung ablesen. Er ist bei seiner Interpretation der Aufklärung nicht stehengeblieben, sondern weitergegangen zum neunzehnten Jahrhundert, von dem er doch befürchten mußte, daß es mit ihm gar keine besondere Bewandtnis habe. Die Abkehr vom achtzehnten Jahrhundert hat nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine formale Seite. Die philosophischen Historiker demonstrierten die Macht der Vernunft, indem sie souverän über ihr Material verfügten. An der Geschichtschreibung des neunzehnten Jahrhunderts fällt dagegen auf, daß unter dem Gewicht der Sache die Form zerbricht. Der moderne Begriff der unendlichen Geschichte sprengte die alten Historien mit ihren moralischen Abschlüssen. Es war die Epoche der heroischen Fragmente, der Erzählungen, die sich fortzeugten, ohne ein Ende finden zu können. Gays in jeder Hinsicht überdimensionale Geschichte der bürgerlichen Erfahrung gehört unverkennbar in eine Reihe mit Macaulays fehlproportionierter Geschichte Englands, von Lord Actons ungeschriebener Geschichte der Freiheit zu schweigen. Jene organische Einheit, die das neunzehnte Jahrhundert an den gotischen Domen bewunderte, wird man in der Architektur von Gays Werk nicht finden. Von Anfang an war unklar, wieviele Teile es umfassen sollte. Es war von fünf, aber auch von sechs Bänden die Rede. Das Thema des Selbstbewußtseins ist nachträglich hinzugekommen. In einer Fußnote wird verraten, daß der fünfte und letzte Band die Kunst zum Gegenstand haben wird und die Legende vom Bürgerkrieg zwischen Avantgarde und Philistertum zerstören soll. Man mag kaum glauben, daß damit wirklich alles vorbei sein wird. Aus freudianischer Perspektive muß überraschen, daß die Religion nicht eines eigenen Bandes unter dem Titel "Die Vergangenheit einer Illusion" für würdig befunden wird. Eine Mentalitätsgeschichte, die sich dafür interessiert, wie konfessionelle Prägungen die Wahrnehmung der materiellen Zivilisation beeinflussen, erfährt nichts von Gay.

    Es ist aber gar nicht seine Absicht, der Fachwissenschaft, deren Diskussionen seine nützlichen bibliographischen Anhänge kommentieren, neue Fragen zu stellen. Zwar lobt er die Geschichtswissenschaft für jenen Kult der Tatsache, den die Gebildeten unter ihren Verächtern belächeln. Originellerweise behandelt er im Band über den Narzißmus auch die Spiegelungen des Bürgers in der Historie. In der Selbstauslöschung Rankes erkennt Gay eine glückliche Verschmelzung von Ich und Über-Ich; daß er die Disziplinierung der Triebe als seltene Leistung sieht, erklärt seinen Zorn auf Foucault. Aber an den Tatsachen ist er, darin Ranke nicht unähnlich, letztlich nicht interessiert. Es geht ihm um den Realitätseffekt, nicht um die Realität. Stets gibt er seinen Thesen den denkbar höchsten Allgemeinheitsgrad; er möchte nicht nur vom Bürgertum und nicht nur vom neunzehnten Jahrhundert reden. Er ist ein Moralist, der vom Menschen und für den Menschen spricht. Seine Botschaft ist jenes Ertragen der Ambivalenz, das für ihn das liberale Temperament ausmacht. Die Wissenschaft des Verdachts hebt sich als Wissenschaft auf, wenn sie zu der Einsicht führt, daß jedes Ding zwei Seiten hat. Dann ist immer auch das Gegenteil richtig, und das Widerspruchsverbot gilt nicht mehr.

    Es ist charakteristisch für Gays Begriff des Bürgertums, daß auch G.L. Reed, ein Bauer aus Pennsylvania, dazugehört, weil er Tagebuch geführt hat. Reed war nicht glücklich über die Präsidentenwahl des Jahres 1848, weil der Sieger keine andere Qualifikation mitbrachte als die eines Helden. Laut Gay spricht hier ein vernünftiger, reifer politischer Verstand. Gay mißtraut dem Helden, der die Welt verändern will. Der Bürger nimmt die Welt, wie sie ist. Die bürgerliche Erfahrung ist das Erlebnis irreduzibler Komplexität. Ihr Historiker schultert die Last eines unermeßlichen Materials. Sie ist übermenschlich schwer und doch ganz leicht. Denn eine durch und durch ambivalente Realität fordert vom Historiker keine Entscheidung. Er kann alles über sie aussagen. Das Wasser des Realitätsprinzips predigt Peter Gay öffentlich; heimlich trinkt er den Wein des Lustprinzips.

    Den Kelch bieten ihm die Romantiker dar. Es mag verwundern, daß der Verehrer Voltaires den berauschenden Trank nicht ausschlägt. Aber Gays Romantiker sind die Kinder der Aufklärung. Sie setzen das Werk der Emanzipation fort, indem sie dem Individuum die Vorstellung seiner Allmacht eingeben. Hugo nannte die Romantik den "Liberalismus in der Literatur"; die "Freiheit in den Künsten" und die "Freiheit in der Gesellschaft" gehörten in seiner Vision zusammen. Im Bekenntnis zu dieser Freiheit legt auch Peter Gay sein Herz offen: Er forscht so hartnäckig nach den Motiven der Menschen, weil er einen Verdacht nicht loswird. Es handelt sich um den Verdacht, daß die Selbsterkenntnis keine Täuschung sein muß. Das Unvertrautmachen des Vertrauten ist nach Shelley die Aufgabe der Dichtung. Peter Gay hat sich jener unendlichen Interpretation verschrieben, die antibürgerliche Kritiker der Romantik wie Carl Schmitt als unmännlich verhöhnen. Gay hält seinen Lesern einen Spiegel vor, in dem sie immer wieder anders aussehen und sich dennoch nie verlieren. Wenn ihnen das Vertraute unvertraut und das Unvertraute vertraut wird, üben sie eine bürgerliche Tugend ein: Selbstvertrauen.