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Die Männer in den Masten

Schon in 10 bis 15 Jahren wird die größte Gruppe der Arbeitnehmer in den Firmen nicht mehr aus 35 bis 49jährigen bestehen. Dann müssen die 50 bis 64jährigen zu den Leistungsträgern der Gesellschaft werden. Über die daraus resultierenden Konsequenzen für die Betriebe wird nur selten nachgedacht, denn nur ein gesunder Arbeitnehmer kann voll eingesetzt werden. So wird denn auch die Prävention immer wichtiger. An der Kölner Sporthochschule testen Wissenschaftler in einem bundesweit einmaligen Modellprojekt die körperliche Leistungsfähigkeit von Freileitungsmonteuren, um dann Schwachstellen in einem individuell gestalteten Training vorzubeugen.

Von Judith Grümmer |
    Ich stehe jetzt hier an einem Hochspannungsmast, der ist ungefähr 50 Meter hoch und habe jetzt die Aufgabe, diesen Mast zu besteigen, ich klettere dann den Mast hoch ...beim Besteigen der Leiter kippt die Leiter sehr schräg nach vorne weg, ich muss das ausgleichen durch meine Geschicklichkeit.

    Normalerweise arbeitet der Freileitungsmonteur Günter Lipp in einer Höhe von 30 bis 75 Metern – heute jedoch befindet sich die Spitze des Hochspannungsmastes, auf dem Günter Lipp gleich einen Isolator austauschen wird, wenige Meter unter der Erde - dort wo kein Sturm, keine vorbeifahrenden Fahrzeuge für Erschütterungen sorgen können - hier im Keller des Instituts für Biomechanik an der Kölner Sporthochschule arbeitet der Freileitungsmonteur unter wissenschaftlicher Beobachtung von Prof. Peter Brüggemann:

    Die Leiter schwankt, er muss sich sichern, einmal um das Absturzrisiko zu minimieren, aber auch um die Hände frei zu haben ... jetzt ... er hat die Hände frei und kann sich drehen zum Werkstück drehen und kann die Reparaturarbeiten vornehmen.

    Nur mit einer Unterhose bekleidet, dafür aber mit Leuchtkügelchen an allen Gelenken beklebt, inspiziert Günter Lipp die Traverse, an der die Hochspannungsleitungen befestigt sind. Dann tauscht er einen Isolator aus, dafür muss er verrostete Schrauben lösen, schwere Montageteile anheben, und vieles mehr – jede Bewegung wird von acht Kameras registriert, mit Hilfe eine Hochleistungsrechners analysiert und auf einen Monitor übertragen.

    Gleichzeitig werden die Kräfte gemessen, entweder an den Werkzeugen oder an den Montageteilen, so dass über die Kraftmessung und die entsprechende Geometrie der Bewegung in den Körper hineingerechnet werden kann, die mechanischen Belastungen an den Ellenbogen, an den Schultern und der Wirbelsäule errechnet und abgeschätzt werden können und das sind für uns sehr wichtige Informationen, um die mechanischen Belastungen am Körper zu qualifizieren.

    Die größten Verschleißerscheinungen sind eigentlich da, wenn auf dieser Traverse draufsteht und man muss die Isolatoren auswechseln, man steht sehr wackelig da und man muss ein relativ hohes Gewicht aus der seitlichen Beuge hoch heben , das sind für mich die schwierigsten Momente...

    Alle 85 Freileitungsmonteure der RWE Rhein-Ruhr AG haben in den vergangenen Monate hier im Keller der Sporthochschule gearbeitet. Doch nicht nur das Klettern auf schrägen Mastverstrebungen und die individuelle Arbeits-Belastung auf dem Hochspannungsmast selbst, wurden vermessen. Auch ihre persönliche Kondition, die Muskelkraft, die Elastizität der Sehnen, der Zustand der Gelenke, kurzum: die aktuelle Leistungsfähigkeit wurde mit hochmodernen Messgeräten untersucht und analysiert. Ziel dieses einzigartigen Forschungsprojektes: Antworten auf drei Fragen: Wie kann man die Arbeitsbedingungen am Hochspannungsmast noch weiter verbessern? Wie kann der einzelne Monteur gesundheitsschonender arbeiten? Und : Kann er seinen Körper so trainieren, dass er Verschleißerscheinungen vermeiden oder dass er durch ein Aufbauprogramm die Folgen der Verschleißerkrankungen lindern kann?

    Initiiert wurde dieses Forschungsprojekt dann auch von der RWE RheinRuhr AG selbst, die in Zeiten von Personalabbau und Kostendruck erkannt hat, wie wichtig es ist, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter nach Möglichkeit schon präventiv zu unterstützen. Bernd Tenkhoff, Leiter des Betriebsicherheitsmanagements, ist überzeugt davon, dass dieses Forschungsprojekt mit der Kölner Sporthochschule große Erfolge bringen wird – für die Freileitungsmonteure selbst und für die Betriebsbilanzen des Arbeitgebers:

    Das Innovative an diesem Projekt ist, dass wir zum ersten Mal versuchen mit der Sportmedizin, mit der Wissenschaft, mit der Präventiven Orthopädie, mit der Arbeitsmedizin, dem Arbeitsschutz und dem Gesundheitsschutz zusammen gemeinsam in einer Kooperation versuchen Erkenntnisse zu sammeln, um Menschen künftig länger gesund durch einen Arbeitsprozess hindurch bringen zu können. Dazu kommt parallel die Situation, dass wir keinerlei Personalreserven mehr haben, so dass die Menschen heute tagtäglich auf den Mast müssen, und damit sind die Belastungen größer als sie in früheren Jahren gewesen sind und wir haben in früheren Jahren die Gefährdung einfach abgeschätzt: die Fachleute haben sich die Arbeitsplätze einfach angesehen und haben daraus resultierend Parameter für die Gefährdung festgelegt, jetzt ermitteln wir sie tatsächlich am Menschen, wir bringen den Menschen in den Mittelpunkt der gesamten Untersuchungen und da gehört er eigentlich auch hin und deshalb ist das für mich die einzig wahre und ehrliche Gefährdungsermittlung.

    Aus diesen Analysen können nun nicht nur die Gesundheitsbelastungen errechnet werden, um an dem ergonomisch so schwierigen Arbeitsplatz Hochspannungsmast die Belastungen zu reduzieren – die Sportmediziner werden gleichzeitig ein gezieltes Trainingsprogramm für die Freileitungsmonteure der RWE zusammenstellen, ähnlich dem wie Hochleistungssportler trainiert werden. Doch so wichtig auch die Gesundheitsprävention in Zukunft sein wird, ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass der Mensch auch in höherem Alter durch gezieltes Training seinen Gesundheitszustand verbessern kann.