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Die Mär vom Aurochsen

Biologie. - Mit der Jungsteinzeit vor circa 11.000 Jahren begann der Wechsel vom Jagen und Sammeln hin zu Ackerbau und Viehzucht, die erst die Sesshaftigkeit ermöglichten. Bislang wurde auch der Ursprung des europäischen Rindes mit diesem Wandel verknüpft. Italienische Forscher sehen das aber jetzt ganz anders.

Von Michael Stang | 09.05.2006
    Bislang ließ sich die Herkunft der europäischen Rinder auf den Bereich des so genannten "fruchtbaren Halbmondes", ein niederschlagsreiches Gebiet im Norden der arabischen Halbinsel, zurückverfolgen. Dort sollen die ersten Bauern aus den mittlerweile ausgestorbenen Auerochsen über Jahrtausende hinweg Hausrinder gezüchtet, sie also domestiziert haben. So kann es aber nicht gewesen sein, sagt Giorgio Bertorelle von der Universität von Ferrara in Italien.

    "Wir haben in sehr alten Auerochsen Sequenzen gefunden, die denen heutiger Rinder sehr stark ähneln. Dazu reichte bereits eine ordentliche Probe, die mit ihren 17.000 Jahren belegt, dass die Auerochsen damals genauso wie die heutigen Rinder aussahen. Also ist eine Vermischung der beiden definitiv möglich und hat unserer Vorstellung nach wahrscheinlich auch stattgefunden."

    Das italienische Forscherteam hatte fünf Auerochsen aus Italien genetisch untersucht und dabei festgestellt, dass sie sich kaum von den heutigen Rindern unterscheiden. Vor 17.000 Jahren gab es aber noch keine domestizierten Rinder, demnach kann Anatolien nicht der einzige Ursprungsort der heutigen Rinder sein, sagt Giorgio Bertorelle.

    "Wir können auch nicht ausschließen, dass die Züchter nicht ab und zu wilde Auerochsen wieder eingekreuzt haben, um ihre Züchtungen zu stärken, da sie viele Eigenschaften hatten, die für das Überleben vorteilhaft waren. Wir können zwar nicht hundertprozentig beweisen, dass es mehrere Domestikationsorte gab, aber wir haben die starke Vermutung, dass sich die Ursprünge der heutigen Rinder vermischt haben."

    Eine solche Behauptung widerspricht allen bisherigen Forschungsergebnissen. Zum einen unterscheiden sich die genetisch untersuchten Auerochsen erheblich von den Rindern, zum anderen würde dies auch mit keiner bislang favorisierten Migrationsroute übereinstimmen, da es keinen Hinweis auf eine Verbindung zwischen Anatolien und Italien gibt. Aber nicht nur wegen der zeitlichen und geographischen Einordnung sind Forscher wie Joachim Burger von der Universität Mainz von den neuen Daten zum Ursprung der Rinder überrascht.

    "Jetzt sieht es so aus, als ob die auch potentiell aus Italien kommen könnten. Aber dafür gibt es bis auf diese neuen Daten aus Italien überhaupt keinen Hinweis. Das ist also wirklich das erste Mal und es gibt aber eine Reihe von Hinweisen aus der Archäologie, aus der Archäozoologie, Paläontologie, Ökologie, dass dem nicht so ist. Und das ist – zumindest für uns und im Spiegel unserer Daten – sehr verwunderlich."

    Noch mehr verwundert Joachim Burger vom Institut für Anthropologie der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und seine Kollegen von der Arbeitsgruppe Molekulare Archäologie aber die Erwägung der italienischen Kollegen, dass es nicht nur häufige Vermischungen zwischen Rindern und Auerochsen gegeben haben soll, sondern auch mehrere Domestikationsorte gegeben haben könnte. Die Möglichkeit, dass ein solch großes und wildes Tier mehrfach zu einem Hausrind gezüchtet wurde, ist für den Anthropologen undenkbar.

    "Einen zweiten unabhängigen Prozess nochmals hinzuzufügen und zu meinen, dass das woanders noch mal zum zweiten Mal oder auch zum dritten und vierten Mal passiert ist, ist eine Annahme, an die ich nicht glaube."

    Die Domestikation ist ein Prozess über viele hundert Generationen und die ersten Bauern hatten noch nicht einmal ein Züchtungsziel vor Augen, sondern haben einfach immer die ruhigsten und umgänglichsten Tiere miteinander gekreuzt.

    "Bislang gab es überhaupt keinen Grund davon auszugehen, dass es mehrere Domestikationen gab. Massenhafte Populationsdaten aus Nord- und Zentraleuropa sprechen dafür, dass alle Rinder aus Anatolien importiert wurden – eben mit einer Ausnahme."

    Diese Ausnahme der italienischen Kollegen wollen die Mainzer Forscher jetzt kritisch überprüfen. denn ihre Daten gehen bislang weiter von einem einzigen Domestikationsort der europäischen Rinder in Anatolien aus.